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Normativität und Macht (eBook)

Zur Analyse sozialer Rechtfertigungsordnungen

(Autor)

eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
254 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73858-0 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
17,99 inkl. MwSt
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Menschen sind rechtfertigende Wesen; sie orientieren sich an Gründen. Die Regeln und Institutionen, denen sie sich fügen, beruhen auf historisch ausgebildeten Rechtfertigungsnarrativen und bilden insgesamt eine - spannungsreiche und dynamische - normative Ordnung. Jenseits der überkommenen Alternative von »idealen« und »realistischen« Theorien zeigt Rainer Forst in diesem Buch, wie eng die Begriffe der Normativität und der Macht zusammenhängen: Macht beruht auf dem Vermögen, den Raum der Rechtfertigungen für andere beeinflussen, bestimmen und eventuell abschließen zu können. Eine kritische Theorie der Rechtfertigung muss daher Verhältnisse der Macht auf ihre Begründungen hin befragen und von dort aus über gerechte Ordnungen nachdenken.

Rainer Forst ist Professor für Politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt und Direktor des Forschungszentrums »Normative Ordnungen«. Sein Werk wird international breit diskutiert. Im Jahr 2012 erhielt er den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Forst ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der British Academy.

1. Kritik der rechtfertigenden Vernunft
Die Erklärung praktischer Normativität[*]


1. In der Philosophie hängt viel davon ab, welche Bestimmung des Menschen in das Zentrum der Untersuchung gerückt wird, und es gibt sehr unterschiedliche Deutungen des Menschen, die dafür in Frage kommen: als vernunftbegabtes, als soziales, wertendes, kulturelles, geschichtliches, kommunizierendes, freies oder gebundenes, autonomes oder endliches, begrenztes Wesen, um nur einige Beispiele zu nennen. Ich denke, diese Deutungen lassen sich auf eine Weise verbinden, die das jeweils Wichtigste in sich aufnimmt. Wir müssen dafür Menschen als rechtfertigende Wesen betrachten. Wir verstehen entsprechend die Vernunft als die Fähigkeit, sich anhand guter, rechtfertigender Gründe in der Welt zu orientieren, sei es im theoretischen oder praktischen Gebrauch derselben. Denn »ratio, raison, reason bedeutet«, wie Tugendhat hervorhebt, »ebenso sehr ›Grund‹ wie ›Vernunft‹. Das Vermögen der Vernunft ist die Fähigkeit, für seine Meinungen und für seine Handlungen Rede und Antwort stehen zu können; lat. rationem reddere, griech. logon didonai[1] Von dorther finden auch die anderen Bestimmungen ihren Platz: Dieses Rede-und-Antwort-Stehen ist eine soziale Praxis wertender, kultureller, geschichtlicher und kommunizierender Wesen, die einerseits frei sind, ihre Gründe zu wählen und zu prüfen, andererseits aber daran gebunden, welche Gründe ihnen zur Verfügung stehen und welche als gut oder rechtfertigend gelten. Die Endlichkeit der Vernunft besagt, dass niemand den Raum der Gründe ganz neu erfinden kann, schon gar nicht alleine, aber jeder sich in ihm selbstständig zurechtfinden muss. Darin steckt die Autonomie, die sich selbst verantwortenden Menschen möglich ist.

Wenn wir die Frage der Normativität zu beantworten suchen, müssen wir uns folglich einer Kritik der rechtfertigenden Vernunft widmen und uns von der falschen Alternative freimachen, von abstrakten Prinzipien oder konkreten Kontexten auszugehen. Menschen sind in all den kulturellen und sozialen Rechtfertigungskontexten und -praktiken zu verorten, in denen sie existieren und in denen sie theoretische wie praktische Fragen beantworten müssen. Diesen Praktiken sind Prinzipien eigen, die bestimmen, was ein guter, rechtfertigender Grund ist. Wer eine Praxis recht versteht, der versteht auch ihre Regeln, ihre Pointe und damit – etwas kantischer – ihre Prinzipien. Legen wir also gleich zu Beginn einen nur scheinbaren Widerspruch von sozialer Praxis und Vernunftprinzipien zur Seite. Teil einer Praxis zu sein bedeutet, ihre Regeln und Grundsätze praktisch zu verstehen und ihnen zu folgen, wie Wittgenstein in seinem Argument gegen Privatregeln sagt.[2] Wer weiß, was eine Praxis ist, kennt ihre Eigenarten und Logiken und was sie verlangen. Dieses Wissen gehört zur Vernunft.

Praktiken der Rechtfertigung sind die Kontexte, in denen für uns Normativität ihren Ort hat. Es gelten bestimmte Rechtfertigungsstandards für jeweilige Kontexte, und diese Standards sind normativer Natur: die Standards der theoretischen Vernunft sind bindend, weil sie Wahrheit zum Ziel haben, die Standards der praktischen Vernunft sind bindend, weil sie auf das Gute oder Richtige hinauswollen. Diesen Zusammenhang gilt es aufzuklären; festzuhalten ist aber schon hier, dass wir nicht anderswo als beim Vermögen der Vernunft nach Normativität suchen müssen. Denn nur die Vernunft ist das Vermögen, sich an dieser Normativität zu orientieren und, mehr noch, sie zu generieren: Sie ist selbst normativ, und nur sie hilft uns, das vermeintlich Gute oder Richtige vom geprüft – d. h. gerechtfertigt – Guten oder Richtigen zu unterscheiden. Die Vernunft ist das Vermögen der Rechtfertigung, und das Vermögen der Rechtfertigung macht uns zu normativen Wesen. Die Vernunft ist, anders gesagt, die Fähigkeit und die Kraft, die uns normativ bindet – sie verbindet uns mit anderen im Lichte von Prinzipien und Werten, die sie rechtfertigend prüft.

Alle anderen Normativitätserklärungen kommen demgegenüber zu spät oder reichen nicht tief genug. Wer glaubt, Normativität auf Sanktionen zurückführen zu können,[3] macht sich nicht klar, dass eine Sanktion selbst gerechtfertigt werden muss und die Norm, die einzuhalten war, schon voraussetzt. Sie kann also nicht selbst die Normativität des Handeln-Sollens begründen. Auch in den sehr spezifischen Kontexten der Normbefolgung, die instrumenteller Natur sind, weil man, um seine Ziele zu verfolgen und Sanktionen zu vermeiden, etwas tut, liegt die eigentliche Normativität in den Zielen, nicht den Sanktionen. Wer glaubt, die Normativität sei in moralischen Gefühlen begründet, übersieht, dass diese Gefühle, um moralisch genannt zu werden, Wertungen und Überzeugungen enthalten, die mit Gründen verbunden sind – und mit Gründen in ihrer Geltung geprüft werden müssen. Man kann seinen Gefühlen so gesehen gar nicht »blind« folgen, da die Gefühle uns schon etwas sehen lassen, wenn auch oft einseitig und fehlerhaft. Gefühle sind Ausdruck unserer Überzeugungen und Wertungen, nicht ihr Gegenteil; wer keine moralischen Gefühle hätte, wäre nicht wirklich Teilnehmer sozialer, wertender Praktiken. Wer schließlich – etwa in der Nachfolge Humes – denkt, normativ Bindendes gehe auf subjektive Wünsche zurück, berücksichtigt nicht, dass Wünsche nur etwas Normatives haben, wenn sie gerichtet und für eine Person begründet sind bzw. Gründe in sich tragen.[4] Überhaupt müssen wir uns von der Vorstellung freimachen, das Geben, Fordern und Gebrauchen von Gründen sei eine rein abstrakte, weil kognitive Angelegenheit. Es ist das Alleralltäglichste überhaupt, ein Grundmodus des In-der-Welt-seins, mit Heidegger gesagt, und Gründe kommen in ganz unterschiedlichen Formen vor, mehr oder weniger reflektiert. Ein animal rationale ist noch immer ein animal aus Fleisch und Blut, aber eben eines, das sich im Raum der Gründe bewegt.

Aufgrund des immanenten Verhältnisses von Vernunft, Rechtfertigung und Normativität kann allein eine Kritik der rechtfertigenden Vernunft das Phänomen der Normativität aufklären. Ich gebe hier nicht vor, solch ein Programm ausführen zu können, und wenn ich überhaupt wage, an Kant anzuschließen, dann deshalb, weil eine Kritik der Vernunft als das »Vermögen der Prinzipien«[5] nach wie vor unsere wichtigste philosophische Aufgabe ist, auch wenn ich einen stärker praxisimmanenten Ansatz wähle. Die Rekonstruktion der kontextuellen Logik der Rechtfertigung ist die Rekonstruktion des Vernunftgebrauchs, und die Vernunft gilt hier als wesentliche normative Größe, nicht als reines Instrument. Sie bindet uns.

2. An dieser Stelle ist eine Erkenntnis zu beachten, die für eine jede philosophische Theorie der Normativität entscheidend ist und deren Nichtberücksichtigung viel Unstimmigkeit auf diesem Gebiet erklärt. Sie betrifft die Frage, ob eine Theorie der Normativität selbst normativ sein sollte, und wenn ja, in welchem Sinne. Einerseits scheint Ersteres klar zu bejahen zu sein, denn wir zielen auf eine Theorie ab, die uns die Vernunft als Vermögen guter, geprüfter Rechtfertigung verstehen lässt. Andererseits aber liegen hier ein Problem und eine Gefahr vor, denn wir könnten die Faktizität unserer normativen Weltverhältnisse verkennen, wenn wir nur die Normativität in den Blick bekämen, die geprüft und reflektiert ist. Denn ist nicht der Normalmodus des Normativen der des Ungeprüften und Vertrauten[6] und, mehr noch, aus einer kritischen Perspektive, des bloß Konventionellen, häufig der reflexiven Prüfung nicht Standhaltenden – ja, im Extrem des Ideologischen, des Falschen, des Normalisierenden?[7] Müssen wir nicht im Rahmen einer Kritik der rechtfertigenden Vernunft die kritische Analyse auf die faktischen Normativitätsverhältnisse richten, die uns nicht nur zu einer »zweiten Natur« »abrichten« (wie man mit Wittgenstein sagen könnte), sondern auch »zurichten« (in Anlehnung an Adorno)? Muss nicht die Theorie der Normativität auch eine kritische Theorie sein?

In der Tat muss sie das. Und dies bedeutet, dass wir eine dreifache Normativität annehmen müssen: die normalisierende Normativität der eingelebten, oft ungeprüften Rechtfertigungen, von denen einige sogar so gepanzert sein mögen, dass sie sich gegen weitere Infragestellung abschotten, daneben aber auch die rationale Normativität der Vernunftprinzipien, die es uns erlauben und vielleicht sogar uns dazu auffordern, diese Normativitäten zu hinterfragen – und letztlich die Welt der reflektierten Normen, die als gerechtfertigt gelten dürfen, sei es faktisch, weil sie aus angemessenen diskursiven Verfahren hervorgegangen sind, sei es kontrafaktisch, weil sie uns bei bester Prüfung als die am besten gerechtfertigten erscheinen. Ich werde im Folgenden die These vertreten, dass eine Kritik der rechtfertigenden Vernunft diese Ebenen stets zugleich im Auge behalten muss – und auch, dass nur der recht in den Raum der Gründe einsozialisiert wurde, der es vermag, die reifizierten Normativitäten der eingelebten Sittlichkeit auf begründete Weise zu hinterfragen. Wenn man so will, füge ich der zweiten Natur der konventionellen Sittlichkeit die dritte Natur der reflektierten hinzu, und ich behaupte, dass dies erst das Bild der Praxis der Normativität vervollständigt. Wenn wir die Perspektive der 1. Person ernst nehmen, was wir tun sollten, wenn wir nach der Welt des Normativen »für mich« fragen, dann müssen wir diese in drei Welten einteilen: die Welt...

Erscheint lt. Verlag 24.10.2015
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Macht • Normativität • Rechtfertigung • STW 2132 • STW2132 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2132
ISBN-10 3-518-73858-5 / 3518738585
ISBN-13 978-3-518-73858-0 / 9783518738580
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