Endlich den Mut -  Lutz van Dijk

Endlich den Mut (eBook)

Briefe von Stefan T. Kosinski (1925-2003)
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2015 | 1. Auflage
192 Seiten
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978-3-89656-577-8 (ISBN)
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Briefe von Stefan K., der Hauptperson aus dem Jugendbuch-Klassiker Verdammt starke Liebe Mit sechzehn die erste Liebe im Zweiten Weltkrieg, mit siebzehn verhaftet, gefoltert und dann verurteilt. Fast vierzig Jahre Schweigen und Verleugnung, mit fünfundsechzig Jahren Coming-out. Die Briefe von Stefan T. Kosinski sind ein bewegendes Zeugnis der Bewusstwerdung trotz tiefer Verwundungen, die nie wirklich heilen konnten. »Mein Wunsch ist, dass Menschen in allen Ländern dieser Welt endlich begreifen, dass es immer ein Verbrechen ist, Liebe zu bestrafen und Gewalt zu tolerieren. Allein umgekehrt macht es doch einen Sinn.« Stefan T. Kosinski

Dr. phil., geboren in Berlin, nach einigen Jahren als Lehrer in Hamburg Zweitstudium der Geschichte u.a. in Israel, später Mitarbeiter der Anne Frank Stiftung in Amsterdam. Seit 2001 als Mitbegründer der Stiftung HOKISA für von AIDS betroffene Kinder und Jugendliche in Kapstadt. Seine Bücher für Erwachsene und Jugendliche wurden in viele Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Jugendliteraturpreis von Namibia 1997 und dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis 2001. 2003 erhielt er für sein Engagement für die Rechte von Homosexuellen den Rosa Courage Preis von Gay in May, Osnabrück. 2009 wurde ihm die Poetik-Ehrenprofessur der Universität Oldenburg verliehen. Er lebt und arbeitet heute in Kapstadt und ist zwei Mal im Jahr zu Lesereisen in Europa.

Vorwort: Eine Kerze für Stefan


Am 1. Januar 2015 wäre Stefan T. Kosinski 90 Jahre alt geworden.

Am 8. Mai 2015 erinnern wir uns an das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 70 Jahren, der ausging von Deutschland und mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939 begann. Stefan war damals 14 Jahre alt. Bei Kriegsende befand er sich auf der Flucht und war gerade 20.

Als wir einander 1990 in Warschau kennenlernten, war Stefan mit Mitte 60 etwas älter als ich heute. Ich war damals Mitte 30. Eine mutige Lektorin hatte mir vorgeschlagen, einen Roman für Jugendliche über die Verfolgung Homosexueller in der Nazi-Zeit zu schreiben. „So was gibt es bisher nicht“, sagte sie. „Und du kannst das. Nicht nur, weil du selbst schwul bist und dich bereits öffentlich für die Rechte sexueller Minderheiten engagiert hast, sondern weil du über diese Zeit als Historiker promoviert hast.“

Ich zögerte lange. Kein Roman sollte es werden, sondern eine wahre Geschichte. Eine, in der nicht nur Diskriminierung und Verfolgung zur Sprache kämen, sondern junge Leserinnen und Leser auch eine Idee von Liebe zwischen zwei jungen Menschen erhielten, die zufällig das gleiche Geschlecht haben. Also tauchte ich erneut ein in bereits vertraute Archive in Deutschland, aber auch in England, den USA und Israel, und nahm Kontakt auf zu den damals in Westdeutschland gerade erst entstehenden sogenannten „Initiativen für die vergessenen Opfer des NS-Regimes“ wie Roma und Sinti, Behinderte, Obdachlose, Zwangsarbeiter, Kriegsdienstverweigerer – und eben auch Homosexuelle.

Die „Fälle“, auf die ich dort vor gut 25 Jahren stieß, waren zumeist nur identifizierbar aufgrund einer Verhaftung nach § 175, der (wie es ursprünglich hieß) „Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts und von Männern mit Tieren begangen wird“ (1871) unter Strafe stellte. Es war klar, dass ich auf fast keinerlei bereits geleistete Forschungsarbeiten zurückgreifen konnte. Wir paar Historikerinnen und Historiker, die sich für „dieses Thema“ interessierten, kannten einander beinah alle persönlich. In den Akten ging es um Männer aller Altersgruppen und sozialer Schichten, die oft aufgrund von Denunziation verhaftet worden waren und die in der Regel ein schreckliches Ende fanden – Aussagen, die nicht selten erpresst waren, wenige Freilassungen aufgrund von „Zustimmung“ zur Kastration, Verurteilungen zu mehrjährigen Haftstrafen in Gefängnis oder Zuchthaus und Aberkennung aller bürgerlichen Rechte und schließlich „unbefristete Schutzhaft in Konzentrationslagern“ ohne weitere Rechtsgrundlage. Betroffene Zeitzeugen, die zum Reden bereit waren, gab es kaum, obwohl vom Lebensalter her einige noch leben mussten. Von Liebe keine Spur.

Die von den Nazis als Juden oder politisch Oppositionelle Verfolgten konnten den 8. Mai 1945 als persönliche Befreiung erleben – wie schlimm sie auch traumatisiert sein mochten und wie schrecklich auch die häufig erst jetzt vollständige Kenntnis von der Ermordung anderer Familienmitglieder und naher Freunde war. Aber es war doch „endlich vorbei“. „Nie wieder!“ wurde das Credo all jener.

Wie anders war es für die homosexuellen Männer, die überlebt hatten – entweder durch Selbstverleugnung oder durch Scheinehen – oder die doch verhaftet worden waren und schlimmste Torturen nur aufgrund von Glück oder Zufällen überstanden hatten: Nichts war vorbei für sie.

Der § 175 galt weiter, und noch Jahrzehnte später bestätigten deutsche Richter, dass damalige Urteile „rechtmäßig“ zustande gekommen seien. De facto gab es nach 1945 bis zur Abmilderung des § 175 im Jahr 1969 weitere ungefähr 40.000 Verurteilungen gegenüber etwa 50.000 in der NS-Zeit zwischen 1933 und 1945.2 Abgeschafft wurde der § 175 offiziell 1994, und erst im Jahr 2000 verabschiedete der Deutsche Bundestag eine Erklärung, wonach Verurteilungen zwischen 1933 und 1945 nach § 175 „als nationalsozialistisches Unrecht“ anzusehen sind, nicht jedoch die nach 1945.

Im Juli 1989 nahm ich teil an der ersten Reise von 20 offen homosexuellen Männern aus Norddeutschland zur Gedenkstätte des ehemaligen KZ Auschwitz im heutigen Polen. Der jüngste von uns war 20, der älteste 77 Jahre alt: Karl Gorath (1912–2003) war 1939 mit 26 Jahren aufgrund einer Denunziation verhaftet und zuerst in das KZ Neuengamme bei Hamburg gebracht worden. Bei der Verlegung von Neuengamme ins KZ Auschwitz gelingt es ihm, den rosa Winkel der homosexuellen Häftlinge gegen den roten Winkel der politischen Gefangenen zu vertauschen. „Die standen nicht so weit unten in der Lagerhierarchie wie wir Schwulen!“, erinnert er sich. Nach dem Krieg heiratet Karl eine zehn Jahre ältere Frau – eine „Abmachung auf Gegenseitigkeit“. Doch die Scheinehe schützt nicht vor neuerlicher Denunziation: Mitte der fünfziger Jahre erhält er eine Vorladung zur Polizei, wobei ihm der vernehmende Beamte seine Strafakte aus der NS-Zeit vorlegt mit den Worten: „Sie sind ja nicht das erste Mal wegen so etwas bei uns.“ Auch wenn es bei ihm nicht zu erneuter Verurteilung führt – Karls Nerven sind zerrüttet, über Jahre leidet er an Schlafstörungen.

Nirgendwo in der Gedenkstätte Auschwitz fanden wir damals einen Hinweis auf die Opfergruppe der Homosexuellen, lediglich in einer offiziellen Publikation einen kurzen Hinweis auf ehemalige homosexuelle Häftlinge – in einem Kapitel über „Berufsverbrecher“. Am letzten Morgen legen wir an einem öffentlichen Gedenkplatz Blumen nieder, die wir mit einem gebastelten rosa Winkel versehen und der Inschrift: „Für unsere homosexuellen Brüder, Väter und Freunde.“ Als wir mittags abfahren, hat jemand sie schon in einem nahen Mülleimer „entsorgt“.3 Von Liebe, wenigstens minimaler Achtung, keine Spur.

Anfang 1990 werde ich durch einen privaten Hinweis des Gründers des Schwullesbischen Archivs Hannover (SARCH), Rainer Hoffschildt, auf die ausführliche Korrespondenz eines Herrn Kosinski aus Warschau aufmerksam, die dieser seit Monaten mit mehreren offiziellen Stellen bis hin zu Bundeskanzler Helmut Kohl führt und in der er als Homosexueller um Anerkennung als „Opfer des NS-Unrechts“ kämpft. Das Entscheidende jedoch, was mich beim Lesen tief berührt, ist, dass er nicht aufgrund von Denunziation verhaftet worden war, sondern wegen eines Liebesbriefes, den er an einen deutschen Soldaten geschrieben hatte und zu dem er selbst nach seiner Verhaftung stand. Noch viele Jahre später erklärte er: „Willi4 verdanke ich bis heute, dass ich meine ersten Liebesgefühle von Anfang an als etwas Schönes erleben kann. Es hat mich getragen und gestärkt in all den Jahren, in denen ich über den Grund meiner NS-Haft mit niemandem reden konnte.“

Nach genau so einer Aussage hatte ich für mein Jugendbuch gesucht – eine wahre Geschichte, in der Homosexualität auch etwas mit Liebe zu tun hat. Am 23. Mai 1990 schreibe ich das erste Mal an Herrn Kosinksi nach Warschau. Die folgenden Wochen und Monate arbeiten wir intensiv an dem Manuskript. Währenddessen starte ich mit Freundinnen und Freunden im Hamburger Magnus-Hirschfeld-Centrum eine Spendenaktion für ihn, die vor allem dringend benötigte Medikamente sowie ärztliche Behandlungen finanzieren soll und die bald darauf bundesweit von mehreren Schwulen-Zeitschriften übernommen wird.

Am 15. November 1990 kann ich ihn das erste Mal in Warschau besuchen, kurz darauf muss er mehrere Operationen über sich ergehen lassen. Im Mai 1991 erscheint im Rowohlt Verlag sein Jugendbuch Verdammt starke Liebe mit einer Startauflage von 10.000 Exemplaren. Er hat dafür das Pseudonym „Stefan K.“ gewählt und mich gebeten, seinen Namen Teofil Kosinski erst nach seinem Tod bekannt zu machen. Bis heute ist das Buch in mehreren Auflagen und bei drei deutschen Verlagen immer wieder neu erschienen und zudem in zahlreiche Sprachen übersetzt worden, darunter ins Englische und Japanische, zuletzt 2013 ins Bulgarische.

Als Verdammt starke Liebe 1991 zuerst erscheint, gibt es (außer wenigen Künstlerinnen und Künstlern) noch keine Persönlichkeiten in Deutschland, die sich öffentlich zu ihrer Homosexualität bekennen, weder Männer noch Frauen, von einem schwulen Berliner Bürgermeister oder einem schwulen Außenminister ganz zu schweigen. Im Juni desselben Jahres hinterlässt jemand einen anonymen Drohanruf auf meinem Anrufbeantworter, und im August gibt es einen Einbruch in meine Hamburger Wohnung, bei dem nichts gestohlen wird, aber einiges zerstört und zerschlagen. Ein großer Zettel auf meinem Schreibtisch teilt in krakeliger Schrift mit: „Sie sind ein Schwein, dass Sie sich nicht schämen, solche Bücher für junge Menschen zu schreiben.“ Aber es gibt auch lobende Rezensionen, selbst den angesehenen Hans-im-Glück-Preis für Jugendliteratur 1992. Trotzdem kann sich ein Mitglied der AG Jugendliteratur der fortschrittlichen Lehrergewerkschaft GEW (Landesverband Hessen) damals nicht verkneifen, nach mehreren positiven Attributen wie „gut gestaltet“ oder „glaubhaft dokumentiert“ zu schreiben: „Wenn jedoch durch die Veröffentlichung der Eindruck entsteht, dass vielleicht krankhafte Gefühle zwischen Männern gesellschaftsfähig gemacht werden sollen …, stoße ich an die Grenzen meiner Toleranz.“

Am...

Erscheint lt. Verlag 14.8.2015
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-89656-577-X / 389656577X
ISBN-13 978-3-89656-577-8 / 9783896565778
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