Von seltenen Vögeln (eBook)
300 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-403696-0 (ISBN)
Anita Albus, geboren 1942, lebte als Malerin und Schriftstellerin in München. Berühmt wurde sie vor allem durch ihre augentäuschenden Naturdarstellungen, die vielfach ausgestellt wurden. Zugleich mit der Malerei hat sich Anita Albus der Literatur gewidmet, einen Roman und Erzählungen geschrieben und Essays verfasst. Ausgezeichnet wurde sie u.a. mit dem Bayerischen Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst (2014) und dem Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay (2004). Bei S. FISCHER erschienen u.a. die Bücher »Von seltenen Vögeln« (2005), »Das botanische Schauspiel« (2007), »Im Licht der Finsternis. Über Proust« (2011), »Sonnenfalter und Mondmotten« (2019) und »Affentheater« (2022). Anita Albus verstarb im Oktober 2024 in München. Literaturpreise: Bayerischen Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst (2014) Bundesverdienstkreuz für ihre Verdienste als Repräsentantin der deutschen Kultur in Frankreich (2011) Friedrich-Märker-Preis für Essayistik (2002) Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay (2004)
Anita Albus, geboren 1942, lebte als Malerin und Schriftstellerin in München. Berühmt wurde sie vor allem durch ihre augentäuschenden Naturdarstellungen, die vielfach ausgestellt wurden. Zugleich mit der Malerei hat sich Anita Albus der Literatur gewidmet, einen Roman und Erzählungen geschrieben und Essays verfasst. Ausgezeichnet wurde sie u.a. mit dem Bayerischen Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst (2014) und dem Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay (2004). Bei S. FISCHER erschienen u.a. die Bücher »Von seltenen Vögeln« (2005), »Das botanische Schauspiel« (2007), »Im Licht der Finsternis. Über Proust« (2011), »Sonnenfalter und Mondmotten« (2019) und »Affentheater« (2022). Anita Albus verstarb im Oktober 2024 in München. Literaturpreise: Bayerischen Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst (2014) Bundesverdienstkreuz für ihre Verdienste als Repräsentantin der deutschen Kultur in Frankreich (2011) Friedrich-Märker-Preis für Essayistik (2002) Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay (2004)
Speervogeltreiben
Das letzte Paar der Vogelart, die lange vor Entdeckung der Pinguine Pinguin hieß, konnte kein Zoo aufnehmen. Seine Welt reichte von den Wellenbergen und -tälern bis hinab in die Tiefen der Muschelbänke um Eldey, einer kleinen Felseninsel an der Südwestspitze von Island. Wie alle Vögel ihres uralten Geschlechts scheuten die beiden festen Boden. Nur zum Verschnaufen nach der wilden Fischjagd und zum Einölen und Putzen des Gefieders ließen sie sich von den Wogen auf die Felsen tragen. Einzig das Brutgeschäft erforderte einen längeren Aufenthalt am »Mehlsack«, wie die Vogelfänger Eldey nannten, weil das Oval des Eilandes, das vor Kap Reykjanes wie ein steinerner Sack steil aus dem Meer ragt, stets von Myriaden weißer Seevögel wie mit einer Mehlschicht bestreut ist.
An einer Stelle des Mehlsacks bilden die Klippen eine Schräge, bevor sie in beträchtlicher Höhe in die obere Steilwand übergehen. Dort hatten die beiden flugunfähigen Vögel im Mai 1844 mühsam die Klippen erklommen. Im Schutz einer Felsbandabdachung der Steilwand bebrüteten sie bald abwechselnd ihr einziges Ei. Am Morgen des 3. Juni, als gerade das Weibchen auf dem Ei saß, machten sie eine furchtbare Entdeckung. Drei Männer kamen über die schrägen Klippen direkt auf sie zu. Der Mehlstaub aus Seevögeln stob in alle Richtungen auf, während die beiden aufrechten Vögel im schwarzen Federfrack mit weißer Hemdbrust nur ein Ziel im weißbebrillten Auge hatten: die rettende See.
J.G. Keulemans, Riesenalkpaar, aus: Naumann 1897-1905; im Hintergrund die Insel Eldey, der Mehlstaub aus Seevögeln scheint aus der Ferne unsichtbar.
Bevor man in Pinguinus impennis den Riesenalk erkannte, wurde er auch Plautus impennis, »flugunfähiger Plattfuß«, genannt. Geirfugl, »Speervogel«, ist sein isländischer Name, aber pfeilgeschwind ist er nur in seinem Element. Wie Speere schossen die Riesenalk-Scharen einst von den Klippen, die nach ihnen Geirfuglasker hießen, in die kristallenen Wogen des Nordmeers. Außerhalb des Wassers war der Riesenalk laut Brehm »ein unglückliches, an einen Fleck gebanntes Wesen«, dessen Bewegungen man nicht Gang nennen könne, selbst eine Schnecke sei besser zu Fuß.[14]
In der Hoffnung, sich von einem unteren Klippenrand mit einem Sprung in die Brandung zu retten, versuchten die beiden Watschler verzweifelt, mit vorgestrecktem Kopf und rudernden Stummelflügeln ihre Flucht zu beschleunigen. Auch Menschen können auf Klippen schlecht rennen. Erst kurz vor der Absprungkante ins Meer wurde der eine Alk von einem der Männer gepackt. Der andere ließ sich, von zwei Männern getrieben, in einer Felsenecke ergreifen.
Heftiger Wind kam auf, die Brandung stieg. In aller Eile kehrte einer der Isländer zum Brutplatz zurück, wo er das kostbare Ei zerbrochen auf einem Lavablock fand. Wütend schleuderte er es über die Klippen.
Die hilflosen Vögel waren schnell erwürgt. In Reykjavik wartete schon ein Agent auf die Beute. Er war im Auftrag verschiedener Museen und Sammler tätig. In heilem Zustand hätte ihm das Ei noch einmal so viel gebracht wie einer der Bälge, die das Museum von Kopenhagen erwarb. Jahr für Jahr stiegen die Riesenalk-Preise. Bald sollte das Ei der verschollenen Vögel sechstausend Kronen wert sein, und selbst für beschädigte Exemplare wurden drei- bis viertausend gezahlt. Als sich kaum noch ein Sammler von seiner kreiselförmigen Rarität trennen wollte, wurden auf Auktionen bis zu zwanzigtausend Kronen dafür geboten.[15]
Kein Ei des Riesenalks gleicht dem anderen. Seine Kreiselform hatte den Vorteil, daß es nicht so leicht von den Klippen kullerte. Von allen gefleckten Eiern europäischer Vögel ist es das größte. Dick, grobporig und glanzlos ist seine weißliche, gelbliche oder grünliche Schale. Die grauen, graubraunen, braunen und schwarzen Schlieren, Schlaufen, Schnörkel, Schlangenlinien, Mäander und Tupfen, mit denen es vom stumpfen bis zum spitzen Pol auf meist gelblichem Grund gezeichnet ist, wirken wie mit dem Pinsel von einem somnambulen Chinesen kalligraphiert. Jedes Ei hat ein anderes »Schriftbild«.
Jahrhundertelang waren die Eier wegen ihrer guten Haltbarkeit und ihres köstlichen Geschmacks gesammelt worden. Aber nicht nur die Eier des Riesenalks galten in Island, Neufundland und Grönland als Himmelsgabe, alles am »Nordpinguin« war für die Eingeborenen gut: das Fleisch zum Einpökeln für die langen Winter, das Fett zum Auslassen als Öl, Bestandteile des getrockneten Balges als Brennmaterial, das Brustbein zur Herstellung bester Angelhaken, die Federn als Schmuck, die Dunen zum Wärmen. Solange die kleinen Völker unter sich blieben, konnte das den großen Riesenalk-Kolonien auf den Schären vor ihren Küsten nichts anhaben. Erst die massenhafte Ausbeutung durch Handelskompanien, die das Verhältnis von Sterbe- und Nachwuchsrate nicht scherte, machten den »Nordpinguin« im Laufe des 18. Jahrhunderts zum seltenen Vogel.
Nicht lange, und die Splitterkolonien der nach wie vor zum Verzehr verfolgten Vögel waren erloschen. Kleine Riesenalk-Grüppchen zogen sich auf entlegene Klippen zurück. Der Natur blieb bei ihrer Vernichtung wenig zu tun, aber das Wenige war spektakulär: bei einem vulkanischen Seebeben wurde Geirfuglasker, die »Insel der Speervögel«, vom Ozean verschlungen. Erst jetzt fiel den Herren der Museen ein, daß sie versäumt hatten, sich Bälge, Skelette und Eier für ihre Sammlungen zu beschaffen. So blieben die letzten achtundvierzig Speervögel, die am »Mehlsack« Zuflucht gefunden hatten, nicht lange verborgen. 1830 und 31 wurden sie während der Brutzeit von der Vogelfängerbande des besagten Agenten in Reykjavik mitsamt ihren Eiern auf Eldey gefaßt. Noch nicht fortpflanzungsfähige Vögel, die nicht an Land gewatschelt waren, kamen im Meer davon. Es können nicht viele gewesen sein. In welchem Lebensjahr der Riesenalk geschlechtsreif war, ist unbekannt. Sein einziger Gattungsgenosse der heute zweiundzwanzig Arten umfassenden Familie der Alken, Alca torda, der Tordalk, wird es im dritten Sommer. Wenn das letzte Paar schon zu den 1831 Davongekommenen zählte, dann tummelte es sich noch dreizehn Jahre in den Fluten, erklomm, von der Geschlechtsreife an, Jahr für Jahr zur Brutzeit die schrägen Klippen, bebrütete sein einziges, auf den nackten Fels gelegtes Ei und zog sein Junges auf. Daß alle Nachkommen überlebten, ist so unwahrscheinlich wie das Gegenteil. Der eine oder andere müßte den Würgern seiner Eltern entkommen sein. Vielleicht war es dem unbekannten Letzten der Spezies Alca impennis vergönnt, in seinem Element unterzugehen.
Riesenalk-Ei.
J.G. Keulemans, Tordalk-Männchen im Hochzeitskleid und Nestling, aus: Naumann 1897-1905.
Tordalk-Eier, aus: Naumann 1897-1905.
Edward Lear, Riesenalk, aus: John Gould, The Birds of Europe, London 1832-1837.
Sein Verschwinden machte den Riesenalk populär. In England wurde zum old Ginger Wine der Marke Great Auks Head die Zigarette Great Auk geraucht, und auch in Romanen und Novellen durfte der Riesenalk als Protagonist nicht fehlen. Die traurige Geschichte seiner Ausrottung von Symington Grieve erschien 1885 in Edinburgh.[16]
Knochenfunde belegen, daß der fünf Kilo schwere und bis zu fünfundachtzig Zentimeter große Riesenalk in vorgeschichtlicher Zeit auch an den Küsten Europas, von Rußland bis Spanien, von Norwegen bis Süditalien, von Schottland bis Gibraltar verbreitet war. Unter den achtundsiebzig erhaltenen Bälgen und Standpräparaten gibt es nur zwei im Winterkleid, alle anderen zeigen das Sommerkleid.[17] Das dunkelgraue Dunenkleid der Nestlinge ist überliefert, aber die Färbung des darauf folgenden Mesoptilkleides und des späteren Jugendgefieders der Vögel ist so unbekannt wie der Ablauf ihrer Mauser. Die »Welt« des Riesenalks ist mit ihm untergegangen. Über sein Leben weiß man so gut wie nichts. Weder über seine Balz noch über seine Paarung, weder über sein Brutverhalten noch über die Nestlingsentwicklung, weder über die Brut- noch über die Schlupfdauer, die sich beim Küken des ihm so ähnlichen, aber nur halb so großen Tordalks bis zu sechs Tagen hinziehen kann. Die Rufe der Riesenalke, die Bettellaute ihrer Jungen, deren Aufzucht, ihre Revierkämpfe, ihre Droh-, Prahl- und Beschwichtigungsposen, ihre Tauchmanöver und Freßgewohnheiten, ihre Partnerputz-Rituale, ihr Zusammenhalt, alles, was sie auszeichnete, wird auf immer ein Rätsel bleiben.
Allein die Beobachtung anderer Arten der Alkenfamilie, die zur Ordnung der Regenpfeifervögel gehört, lassen Mutmaßungen darüber zu, worin der Riesenalk ihnen ähnlich gewesen sein könnte. Er wird wie alle Angehörigen der Familie, die Lummen, Lunde, Teiste & Co, monogam gewesen sein; sein Junges schlüpfte, wie das aller Alkenvögel, im Dunenkleid sehend aus dem Ei und war vermutlich, wie das Küken des Tordalks und das der Trottellumme, eine Mischung aus Nesthocker und Nestflüchter. Vielleicht konnten Riesenalk-Eltern die Kalligraphie ihrer Eier »lesen«. Versuche mit Trottellummen, die kreiselförmige, in Größe und Zeichnung stark variierende Eier legen, haben gezeigt, daß die Brutpaare zwischen mehreren Trottellummen-Eiern stets das eigene herausfanden, das sie dann, zwischen Füße und Bauch geklemmt wie beim Brüten,...
Erscheint lt. Verlag | 6.3.2016 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Schlagworte | Ägypten • Alpen • Aussterben • Bireçik • Blauara • Brasilien • Conrad Gesner • Edward Lear • Eisvogel • Essay • Eule • Euphrat • John James Audubon • Leipzig • Malerei • Naturgeschichte • Oskar Heinroth • Pierre Belon • Schleiereule • Sperbereule • Vögel • Wachtelkönig • Waldrappe |
ISBN-10 | 3-10-403696-9 / 3104036969 |
ISBN-13 | 978-3-10-403696-0 / 9783104036960 |
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