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Die Tessinerin (eBook)

Geschichten
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
160 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-403600-7 (ISBN)
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Thomas Hürlimanns preisgekröntes Erzähldebüt Es sind Einsame und Fremde, die durch alle sechs Geschichten in Thomas Hürlimanns fein komponiertem Erzähldebüt geistern. Und hinter diesen Fremden steht das Fremdeste schlechthin, worüber der Ich-Erzähler dieser Geschichten eigentlich »schreiben wollte und nicht schreiben kann«: das Sterben des eigenen, krebskranken Bruders. Ein hochreflektiertes und bewegendes Buch, ein Meisterwerk der Gegenwartsliteratur.

Thomas Hürlimann wurde 1950 in Zug, Schweiz, geboren. Er besuchte das Gymnasium an der Stiftsschule Einsiedeln, studierte Philosophie in Zürich und an der FU Berlin und lebt heute wieder in seiner Heimat. Neben zahlreichen Theaterstücken schrieb Hürlimann die Romane »Heimkehr«, »Vierzig Rosen« und »Der große Kater« (verfilmt mit Bruno Ganz), die Novellen »Fräulein Stark« und »Das Gartenhaus« sowie den Erzählungsband »Die Tessinerin«. Für sein dramatisches, erzählerisches und essayistisches Werk erhielt er unter anderem den Joseph-Breitbach-, den Thomas-Mann- sowie den Hugo-Ball-Preis. 2019 wurde er mit dem Gottfried-Keller-Preis ausgezeichnet. Hürlimann ist korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Akademie der Künste, Berlin. Seine Werke wurden in 21 Sprachen übersetzt. Im Sommer 2022 erschien bei S. FISCHER sein Roman »Der Rote Diamant«, der für den Schweizer Buchpreis 2022 nominiert ist.

Thomas Hürlimann wurde 1950 in Zug, Schweiz, geboren. Er besuchte das Gymnasium an der Stiftsschule Einsiedeln, studierte Philosophie in Zürich und an der FU Berlin und lebt heute wieder in seiner Heimat. Neben zahlreichen Theaterstücken schrieb Hürlimann die Romane »Heimkehr«, »Vierzig Rosen« und »Der große Kater« (verfilmt mit Bruno Ganz), die Novellen »Fräulein Stark« und »Das Gartenhaus« sowie den Erzählungsband »Die Tessinerin«. Für sein dramatisches, erzählerisches und essayistisches Werk erhielt er unter anderem den Joseph-Breitbach-, den Thomas-Mann- sowie den Hugo-Ball-Preis. 2019 wurde er mit dem Gottfried-Keller-Preis ausgezeichnet. Hürlimann ist korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Akademie der Künste, Berlin. Seine Werke wurden in 21 Sprachen übersetzt. Im Sommer 2022 erschien bei S. FISCHER sein Roman »Der Rote Diamant«, der für den Schweizer Buchpreis 2022 nominiert ist.

Begegnung


Der Berggänger steigt, seine Kraft und die Nahrung, die er im Rucksack trägt, die noch zu bewältigende Linie und einen eventuellen Wetterumschlag immer bedenkend, hinauf zum Gipfel. Das offene Geheimnis der Bergsteigerei ist das Ziel: Auf dem Gipfel bleibt einem nur die Umkehr übrig oder der Tod. Auch der Wanderer in der Ebene hat eine Richtung eingeschlagen, und seine Zeit ist in Wegstunden eingeteilt. Er kann seine Strecke überblicken. Fortkommen, Abweichen von der Richtung oder Zurückbleiben hinter der geplanten Zeit mißt er am Weg selbst, an der ausgeprägten Stelle einer Landschaft, an Gestirnen und am Schatten, den er wirft. Nur von Wahnkranken und Schwersinnigen wird berichtet, daß solche zeitlos und ziellos – ohne auf Körperkräfte achtzugeben – über Land rennen. In der flachen, durch die Höhe der Häuser niemals sichtbaren Ausdehnung der Großstadt jedoch hat sich schon mancher, der gut zu Fuß war in Berg und Tal, in der Herumspaziererei verloren.

Mag sein, daß er eine Straße lang einem schwarzbestrumpften Damenbein nachschnuppert; mag sein, daß er an einer beliebigen Ecke seitwärts in eine Gasse einbiegt – von der hat er vielleicht erwartet, daß sie ihn melancholisch stimmt, schon geht er los, steht in einer Wirtschaft, und sei’s, daß er stehenbleibt, sei’s, daß er ein Haus weiterzieht, oder sei’s drum, und man findet sich plötzlich auf einer Straße, die, bestanden mit Gaslaternen, zum Davonlaufen einlädt.

Unter den Glasglocken der Laternen glüht in der Abendhelle als ein armseliges Pünktlein ein Funke Nacht. Du gehst von Laterne zu Laterne tiefer in die Straße hinein, in den Abend. Du hast, dämmert es dir, fast so etwas wie eine Gipfelstürmerei in den Füßen – einen ganzen, pflasterharten Tag an Wanderschaft. Es hatte mich in die südöstlichen Quartiere verschlagen, und ich ging, als ob eine Richtung, am Ende gar ein Ziel, wie von selbst sich zustande bringen wollte, weiter und weiter. Den schräg in den hellen Himmel liegenden Wänden schritt ich schattenhalb entlang. Den Keller hatte ich betreten, ohne mich nach einem Namensschild umzusehen.

Junger Mann, sagte eine Stimme im Dunkel, setzt Euch an meinen Tisch. Ihr kommt mir gerade recht …

 

Die Hitze nahm in der Stille noch zu. Hier draußen, wo nur noch wenige Gruppen ihre Wohnungen hatten, war nichts anderes zu hören als die ferne Stadt und das in Abständen sich nähernde, metallene Knirschen der Bahnen in den Kurven. An den Rändern der Großstadt sind sie vom Untergrund an die Oberfläche verlegt, sie fahren auf eisernen Brücken über der Straßenmitte, und die Stationen sind in luftiger Höhe mit jenem Zeichen kenntlich gemacht, das in der Stadt für Untergrund steht; hier, in den südöstlichen Quartieren, behält es seine Bedeutung.

Von einer Beobachtungsstelle aus, wie sie auch in den steinernen Stadtlandschaften zu finden sind, sähe man jetzt dem Sonnenuntergang zu. Der findet heute 20 Grad über dem im Ungewissen sich krümmenden Horizont statt. Ab sackt die Sonne in den gasigen Dunst, sich verdunkelnd zu einer schmutzigen Münze. Stünde man noch auf der Straße – die Straßen sind von Menschen bereits leergefegt – und nicht in dem dunklen Raum, man müßte über der Stadtmitte schon einen Lichterschein erblicken; es sieht aus, als flackerten bei Einbruch der Nacht jene Brände auf, die man tagsüber unter Kontrolle hat.

In meinem Rücken tat sich die Tür zu. Erst jetzt fiel mir auf, wie poltrig ich eingetreten war. Der Schein an der Decke war die helle Spiegelung des Spülwassers, in das eine fette Person, vermutlich die Wirtin, bleichhäutige Armstümpfe hinabtunkte. Ich hatte Geld genug für ein paar Biere. Aber wem sollte unsereiner, der sich auf seine Spaziergängerei einiges einbildet, gerade recht kommen? Ich setzte mich zu einem Mann an den Tisch. Nachdem wir zwei Biere erhalten hatten, bestand er darauf, daß wir uns traulich zuprosteten. Dann stürzten wir das erste Glas in einem Zug hinab. Wie bei Trunkgesellen, die im Gleichschritt schon manche Wirtschaft gemacht haben, legten unsere Köpfe sich in die Nackenlage, unsere Münder waren zu einer küssenden Öffnung geformt, unsere Halszapfen gurrten im Takt, und wie rasch ist so ein Glas nach langem Streunen geleert! Das Glas auf den Tisch geklopft und, bitte sehr, wieder ausgeebnet! Aber wer sind Sie, Sie Herr Unbekannter?

Wohl einer von den Alpenländischen, die es in die Großstadt getrieben habe. Einer, dem es in der fernen Heimat an Bewegung fehle. So einer, rief er, sei ich. Er mußte heftig lachen, dann waren wir, wie es sich gehört, stumm.

 

An einem Tisch in der Nähe saß eine alte Frau. Die mümmelte nicht ins Leere, merkte ich später. Der Mann, der sich mir so vertrauensforsch aufgedrängt hatte, sagte, wohl, weil er meinem Blick gefolgt war, die sei auch schon länger da, die Alte. Die würde ihren Geburtstag feiern. Der schräge Typ, den sie bei sich habe, sei ihr Sohn. Und einmal sagte er laut: Alles Gute, Mutti!, und für uns, Frau Gastwirtin, noch ein Glas. Zum Wohl.

Zum Wohl. Es nachtete ein, aber die Hitze nahm nicht ab, sie nahm zu. Die Alte hatte ihre Perücke über einen Flaschenhals gestülpt, und neben der Flasche lag der Kopf des Sohnes. Das Maul, offen, schnaufte, als verende ein angelandeter Fisch auf dem Trockenen. Manchmal schleifte ein langer Arm, der zum Körper des Fisches gehören mußte, über den Tisch. Einmal lachte die Mutter glucksend: Dem Arm war es gelungen, die Flasche mit dem Mutterhaar an den Rand zu verschieben. Mein Gegenüber, sich vorbückend, flüsterte rasch: Der Werwolf! Den kennt jeder hier draußen. Exzellenter Schachspieler. Seine Mutti feiert heute Geburtstag. Die kennt als einzige seinen Namen nicht. Werwolf, wiederholte er kichernd, Werwolf, Werwolf …

Werwolfs Mutter hatte die Flasche ergriffen. Stellte die Flasche mit einem Schachspielergesicht, das vom Brett nicht aufsieht, in die Tischmitte. Nahm dem Werwolf das Schnapsglas vor der Nase weg, trank’s aus. Schnalzte mit der Zunge die Zahnprothese an den Gaumen: matt. Aber, sagte sie mit alter, lieber Stimme, aber das ist doch Muttis Geburtstag. Und laut, fast gerufen: Meiner hat als Junge gegen die Russen gekämpft. Der war schon immer lieb zu seiner Mutti. He, du –! Du! Der sagt nichts mehr.

Auf diese Mitteilung, wie ernsthaft sie immer sein mochte, gaben wir nicht acht. Das letzte Tageslicht war ein falbes Geviert in einem Fenster über der Tür. Vielleicht höckelten die Hiesigen ganz gern im Zwielicht – illuminiert wurde erst, wenn die Gruppen sich vollzählig eingefunden hatten. Im Dunkel eines hinteren Raumes erblickte ich dann noch etwas. Die tranken nichts, lagen stumm in den Stühlen. Vor sich, auf dem Tisch, hatten sie ihre Helme.

Eine lange Person war hier der Kellner. Hatte er zwei weitere Gläser an unseren Tisch gebracht, setzte er sich auf einen Stuhl in Büffetnähe. In einem schiefen, durchfluteten Schacht, den eine Straßenlaterne durchs Fenster hereingab, hockte er wie ein Taucher in der Tiefe und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Hie und da näherte sich mir mein Gegenüber mit einem freundschaftlichen Geflüster, und eine Zeitlang hob Werwolfs Mutter dessen Kopf an den Haaren in die Höhe. Aber wo blieben die Gruppen?

 

Die Wirtin hatte vom Kellner eine Schallplatte auflegen lassen, plötzlich wurde da und dort geredet, gelacht, und im hinteren Raumteil standen zwei Frauen in einer tanzenden Bewegung zwischen den Tischen. Mein Gegenüber pöpperlete mit dem Knöchel des Zeigefingers ans Glas, das Glas war schon wieder geleert. Die südöstlichen Quartiere! Hier leben jene, die zu den tätigen Gruppen keinen Anschluß mehr finden; die Häuserwände, die noch stehen, sehen aus, wie wenn sie bald einmal donnernd niedergingen, schräg und rissig liegt das alles in den feuchten Himmel hinauf – als hätte der tagsüber niemals sichtbare Krieg Form angenommen, veränderten die Häuser während der Nacht sich zu bewohnten Ruinen. Da war es beileibe nicht ungefährlich, als Einzelner mit dem ersten Besten ein Stücklein zu wagen. Einer, hatte er gesagt, dem es in der Heimat an Bewegung fehle. Wie war auf einmal diese Heimat fern. Fast war ich ein bißchen froh, daß mich in dem leeren Keller einer angesprochen hatte.

Leer! Hohl! lachte jemand laut, und ich erschrak nicht. Während man seine paar Gläser trinkt, kann es schon passieren, daß es an den Tischen lauter wird, daß die Wirtin ihren Kellner, kaum hat er das Büffet wieder erreicht, sofort und zischend loshetzt, daß die Tabletts auf der balancierenden Kellnerhand ständig schwerer werden, und wie prächtig flackert im hinteren Raum auf einmal das Farbengelichter der Automaten, von Personen bedient, denen die zuckenden und schießenden Kugeln so wichtig sind, daß ihnen die Zigarette winzig wie ein Babypenis aus den Lippen lampt. Es war Nacht geworden, die Birnen brannten, der Betrieb war in Gang gekommen.

 

Um Ihnen zu beweisen, sagte mein Gegenüber plötzlich, wie willkommen Sie mir sind, will ich Ihnen ein Geheimnis lüften. Gelüftete Geheimnisse geben oft das Gefühl des Zusammengehörens, und schon manche Trunkfreundschaft wurde dadurch vertieft. Die Runde, fügte er geschwind hinzu, den schon wieder vorbeifliegenden Kellner am Jackenzipfel erwischend, auf den da; und als der Kellner stehenblieb, deutete mein Gegenüber in meine Richtung – als köpfelte es mir einen Ball zu, den ich aufzufangen hätte. Ich nickte. Der Kellner schoß los.

Er stellte sich vor dem Schanktisch auf, eine pomadige Schniegelhaltung einnehmend, so halb angelehnt und halb wieder nicht. Er sah zu mir herüber, aber mit dem Mund...

Erscheint lt. Verlag 10.12.2015
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte aspekte-Literaturpreis • Bruder • Debüt • Einsamkeit • Erzählung • Familie • Fremde • Krankheit • Kurzgeschichten • Schweiz • Sterben • Tessin
ISBN-10 3-10-403600-4 / 3104036004
ISBN-13 978-3-10-403600-7 / 9783104036007
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