Ungehört (eBook)
350 Seiten
Nydegg Verlag
978-3-905961-14-0 (ISBN)
Montag, 5. September
«Der Zweite Weltkrieg ist eine komplizierte Angelegenheit, die in ihrer Vielschichtigkeit nur von wenigen begriffen wird.» John sass gelangweilt auf seinem Stuhl und musterte die Klasse, während Mr. Wilson verzweifelt versuchte, die Aufmerksamkeit der Schüler auf sich zu ziehen. «Die Eckpunkte des Krieges müssten Ihnen eigentlich bekannt sein. Obwohl Japan schon vorher kriegerische Aktivitäten in China betrieb, bezeichnen wir den Beginn des Zweiten Weltkrieges doch mit dem Angriff Deutschlands auf Polen am 1. September 1939. Am 3. September erklärten Frankreich und Grossbritannien Deutschland als Reaktion auf den Angriff den Krieg.» John lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schloss für einen Augenblick die Augen. Sein weisses Hemd liess seinen zierlichen Körper schmaler wirken als er in Wirklichkeit war. Sein rostbraunes Haar brachte ein bisschen Farbe in seine Erscheinung. Die schwarz-grauen Jeans, die er trug, waren nicht zufällig gewählt. Sie fielen nicht im geringsten auf, waren aber auch nicht altmodisch. Sie passten exakt an seinen Körper und liessen keine Frage darüber aufkommen, ob er aus einer gut betuchten Familie stammte. John war jeden Tag ähnlich gekleidet: stilvoll, elegant und unauffällig. Schlicht und einfach makellos, ohne sich aber zu stark von den Schnitten der Schuluniform zu unterscheiden, so dass es niemandem auffiel.
Die Müdigkeit füllte sofort seinen ganzen Körper. Wie ein Schleier legte sie sich auf seine Brust, wollte ihn dazu bringen, seine Augen geschlossen zu halten. John atmete tief ein, stemmte sich gegen den bequemen Wunsch, einfach nur zu sein und riss seine Augen wieder auf. «Hitler hatte einen Pakt mit Stalin geschlossen, deshalb drohte ihm von Osten her keine Gefahr. Russland rang nach langem Kampf am 13. März 1940 Finnland nieder, das seine Selbständigkeit behalten konnte, aber grosse Gebiete an die Russen abtreten musste. Bis in den August 1940 eignete sich Russland praktisch gewaltlos die chancenlosen baltischen Staaten an, wie es mit Deutschland im geheimen Zusatzprotokoll abgemacht worden war. Die beiden Diktatoren Hitler und Stalin hatten sich darin die Ostgebiete Europas aufgeteilt. Deutschland setzte nach der Eroberung Polens den Siegeszug fort und rang Dänemark in einem Tag und Norwegen in zwei Monaten nieder.» John beobachtete, wie Mr. Wilson eine kurze Pause machte, um zu sehen, welche Wirkung seine Worte hinterlassen hatten. Jedem versuchte er unter Druck Sachen beizubringen und kümmerte sich nicht um Probleme, die dabei auftraten. Wie froh war er, nicht sein Sohn zu sein. Mitfühlend betrachtete er den Jungen, der auffällig gerade neben ihm auf seinem Stuhl sass und aufmerksam nach vorne starrte. Tom war für ihn mehr als nur ein Kamerad, er war für ihn ein Freund, einer, mit dem man über alles reden, dem man auch Schwächen unbesorgt anvertrauen konnte. Aber an einem Montagmorgen wie heute, in der ersten Stunde, brachten Tom auch seine besten Freunde nichts. Er war hilflos ausgeliefert. Die Tischplatte, in die sich seine Finger bohrten, konnte ihm keinen Halt geben. Viel zu sehr waren seine Gedanken mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt. Nicht mit dem, was sein Vater der Klasse einzutrichtern versuchte. Er war schon weiter, viel weiter. Es war seine einzige Möglichkeit. Er musste einen Schritt, einen Augenblick, einen Gedankengang voraus sein, um als erster auf die Lösung einer Fragestellung zu kommen, die noch nicht ausgesprochen war. Was war, nachdem Deutschland Norwegen besiegt hatte? In Toms Gehirn wurde eine mögliche plausible Frage vorbereitet, überarbeitet und beantwortet. Doch letzteres schien nicht zu funktionieren. Norwegen, Norwegen, Deutschland, Dänemark. Es schien sich kein Sinn zu ergeben. Die Länder, die er normalerweise mühelos in den richtigen Zusammenhang, in die richtige zeitliche Abfolge eingegliedert hätte, schwirrten ihm nur so durch den Kopf, liessen sich nicht einfangen und einordnen. Tom spürte, wie ihm der Schweiss durch die winzigen Poren austrat und es ihm noch schwerer machte, seine Gedanken zu sammeln. Er hob in Zeitlupentempo seine Hand und betastete seine Schläfe. Er fühlte Feuchtigkeit, ein glänzendes Rinnsal, das sich seiner Schläfe entlang bis zum Kinn hinunter bildete. Doch das Rinnsal war nur der Anfang des grossen Übels. Deutlich wurden dunkle Ringe um seine Achselhöhlen auf dem weissen Hemd seiner Uniform sichtbar. Tom blickte sich um. Hatte jemand bemerkt, in welch misslicher Lage er sich befand? Seine Stellung in der Klasse, sein Ansehen durfte er auf keinen Fall riskieren. Schwäche machte angreifbar, würde all seine Verbindungen bedrohen, die er bis zum letzten Jahr der Mittelschule vorsichtig aufgebaut hatte.
Verbindungen waren Toms Kapital. Obwohl er, seit er denken konnte, immer zu den körperlich Schwächsten gehört hatte, war er nun eine respektierte Persönlichkeit auf dem Campus. Die Bezeichnung «respektierte Persönlichkeit» wurde seiner Stellung eigentlich in keiner Weise gerecht. Er wurde nicht respektiert. Er wurde entweder angehimmelt oder gefürchtet. Wenn es auf die Fäuste ankam, zog er immer den Kürzeren. Tom hatte schon als Kind gelernt, damit umzugehen. Er hatte sich nie auf Schlägereien eingelassen, sondern stets andere gefunden, die sich für ihn prügeln konnten. Tom war ein Intrigant, der seine Feinde schlug, ohne dass sie bemerkten, dass sie geschlagen wurden. Er interessierte sich nicht für Stärken, sondern für Schwächen. Stärken treiben Menschen an, bringen sie vorwärts, Schwächen holen sie ein, machen sie gefügig.
Ruckartig zog Tom den Ärmel seines Hemdes hoch. Seine rotgoldene Rolex zeigte ihm nicht das, was er hätte sehen wollen. Immer noch eine Viertelstunde. Fünfzehn Minuten in dieser Hölle, eine Qual, die er mit einem Lächeln über sich ergehen lassen musste. Die Rolex gefiel ihm, auch wenn er sie nicht selbst ausgewählt hatte. Sie war für einen Jungen von seiner Grösse eigentlich viel zu protzig, deutlich zu schwer. Tom fühlte das unangenehme Gewicht an seinem linken Handgelenk, würde sich aber trotzdem nie davon befreien. Die Rolex war ein Symbol der Macht, die er auf andere ausübte. Nicht verwunderlich, dass er sie nicht hatte selber kaufen müssen.
Brian hatte sie ihm vor den Ferien geschenkt. Tom musste hämisch grinsen, wenn er daran dachte. Brian hatte ihm die Rolex widerwillig geschenkt. Was war er nur für ein naiver Kerl. Hatte wohl gedacht, das Geld seiner Eltern könnte ihn vor all den Gefahren schützen, die im Leben auf ihn warteten. Hatte gedacht, er könnte an Freitagabenden so richtig auf den Putz hauen, und am nächsten Morgen wären die Erinnerungen an die letzte Nacht nur noch böse Träume, die man problemlos unter der Dusche wegwaschen konnte, so lange das Badezimmer grösser war als das Wohnzimmer einer Familie aus dem Mittelstand. Ja, er hatte ihm gezeigt, wie sich nächtliche Erinnerungen vertreiben liessen, nicht mit Wasser und handgemachter Seife aus einem winzigen italienischen Küstenstädtchen. Nein, so einfach war das nicht. Geldscheine hatte er ihm auf die Hand legen wollen. Bestimmt noch mehr als dieser Prostituierten, die er an dem nebligen Abend in einem der renommiertesten Hotels der Stadt besuchte hatte. Das «Beautiful Dreams» war wirklich eine exquisite Wahl für solch ein schmutziges Geschäft gewesen. Die Eltern auf Geschäftsreise im Nahen Osten, was hatte da schon schief gehen können.
Spöttisch schielte Tom in die zweite Reihe. Eigentlich ein Prachtkerl, Oberarme wie Baumstämme, blondes Haar und doch so hilflos, als er ihm gedroht hatte, seine Eltern über die Freizeitbeschäftigungen ihres Sohnes aufzuklären. Wie kurzsichtig zu glauben, Geld würde ihm genügen. Was sollte er bloss mit Geld, das ihm nichts bedeutete, das ihn nicht weiterbrachte, weil ihm sowieso von seinen Mitschülern alles gekauft wurde, was er zum Leben brauchte. Tom erinnerte sich genüsslich an jenen Moment, als Brian klar wurde, dass er ein echtes, ein grosses Problem hatte. Ganz ruhig und ohne Scham hatte er ihm in die Augen geschaut und die Verwirrung gesehen. Hilflose Verwirrung. Aber er hatte ihm nicht leid getan. Viel zu sehr war ihm das Bild der Prostituierten nicht mehr aus dem Kopf gegangen, als Brian das Hotelzimmer verlassen hatte. Weinend hatte sie in einer Ecke gesessen, ohne Würde und ohne das Geld, das ihr Brian beim Verlassen des Zimmers wieder aus den Händen gerissen hatte. «Hast du wirklich gedacht, ich verschwende mein Geld an eine billige Nutte wie dich?», hatte Brian sie verhöhnt, «dieses Treffen hat schliesslich gar nie stattgefunden. Warum sollte ich dich für etwas bezahlen, das nicht passiert ist? Wem würde man schon glauben? Dem Sohn erfolgreicher Geschäftsleute oder der Hure, die jeden nimmt?» Tom hatte sich damals geschämt, auch nur in der gleichen Klasse wie Brian zu sein. Er hatte sich hinter die nächste Ecke des Ganges gedrückt und mit der Kamera seines Handys alles aufgenommen, ruhig, bedachtsam, wohl wissend, dass er ihn noch nicht bloss stellen durfte. Noch nicht. Als Brian selbstzufrieden in den Fahrstuhl mit dem goldenen Gitter gestiegen war und seelenruhig angefangen hatte, sich mit dem Liftboy zu unterhalten, war er hinter der Ecke hervorgetreten und hatte sich der noch immer offenen Zimmertür genähert, war hineingeschlüpft und hatte die hellbraune Holztür mit der Nummer 69 sofort hinter sich geschlossen. Die Prostituierte hatte langes schwarzes Haar und war nur mit einem weissen Bademantel des «Beautiful Dreams» bekleidet gewesen. Traurig hatte er sie angestarrt und gewusst, dass er ihr nicht helfen konnte, aus diesem Milieu auszubrechen. Aber wenigstens konnte er verhindern, dass sie auch noch von ihrem Zuhälter erniedrigt wurde. Ihre Kasse musste stimmen. Kurzerhand hatte er ihr alles Geld in die Hand gedrückt,...
Erscheint lt. Verlag | 20.8.2013 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | College • Entwicklungsroman • Jugendliche • Leistungsdruck |
ISBN-10 | 3-905961-14-8 / 3905961148 |
ISBN-13 | 978-3-905961-14-0 / 9783905961140 |
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