Sörensen hat Angst (eBook)
432 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-55241-8 (ISBN)
Sven Stricker wurde 1970 in Tönning geboren und wuchs in Mülheim an der Ruhr auf. Er studierte Komparatistik, Anglistik und Neuere Geschichte. Seit 2001 arbeitet er als freier Wortregisseur, Bearbeiter und Autor und gewann in dieser Funktion mehrmals den Deutschen Hörbuchpreis. Für seine Sörensen-Romane war Stricker 2017 und 2024 für den Glauser-Preis nominiert. Die Verfilmung von 'Sörensen hat Angst' gewann 2021 den Deutschen Fernsehkrimipreis sowie den österreichischen Fernsehpreis Romy. 2022 wurde Stricker für das Drehbuch mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Er lebt in Potsdam und hat eine Tochter.
Sven Stricker wurde 1970 in Tönning geboren und wuchs in Mülheim an der Ruhr auf. Er studierte Komparatistik, Anglistik und Neuere Geschichte. Seit 2001 arbeitet er als freier Wortregisseur, Bearbeiter und Autor und gewann in dieser Funktion mehrmals den Deutschen Hörbuchpreis. Für seine Sörensen-Romane war Stricker 2017 und 2024 für den Glauser-Preis nominiert. Die Verfilmung von "Sörensen hat Angst" gewann 2021 den Deutschen Fernsehkrimipreis sowie den österreichischen Fernsehpreis Romy. 2022 wurde Stricker für das Drehbuch mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Er lebt in Potsdam und hat eine Tochter.
Erster Tag
Jeder flieht vor irgendwas
Sörensen stand im Stau, betrachtete seine feuchten Handflächen und ärgerte sich über sich selbst. Da hätte man nämlich drauf kommen können. Man hätte darauf kommen können, dass so ein früher Montagmorgen in der Mitte des Monats September vielleicht nicht der ideale Zeitpunkt für eine Fahrt an die Nordsee war. Ein gewöhnlicher Montagmorgen, kein Ferienmontagmorgen, auch kein Feiertagsmontagmorgen, einfach ein typischer, hemdsärmeliger Wochenanfang, an dem die allermeisten Arbeitnehmer das taten, was normale Arbeitnehmer an einem x-beliebigen Montagmorgen eben so taten: Sie setzten sich in Bewegung. Kreuz und quer, wie die Insassen eines ruckartig umgekippten Ameisenhaufens, aus allen Stadtteilen und Vororten nach Hamburg hinein oder aus Hamburg hinaus.
Man hätte also darauf kommen können, dass die Fahrt am Tag zuvor, einem ganz gewöhnlichen Sonntag, egal zu welcher Uhrzeit, wesentlich entspannter, nervenschonender und zeitsparender gewesen wäre. Sörensen fuhr sich mit der Hand durch das stetig schwindende Haupthaar und seufzte. Denn er war natürlich nicht darauf gekommen. Der HSV hatte noch das Sonntagabendspiel bestritten, und als das endlich vorbei und selbstverständlich verloren gegangen war, hatte die Uhr schon wieder halb acht gezeigt, und er hing ja nicht nur wie ein nasser Sack in seinem Fernsehsessel, sondern auch so sehr an Hamburg. Also hatte er es einfach nicht mehr aus der Tiefe seines Sitzmöbels auf die Gerade der A 23 geschafft.
Er nahm für einen Moment den Fuß von der Bremse, rollte zentimeterweise vorwärts und rieb sich die Augen. Er war um fünf Uhr aufgestanden, mit dem üblichen Druck auf der Brust, hatte um halb sechs das Gepäck in den alten Passat gewuchtet, sich um zehn vor sechs verschwitzt selbst hineingequält und war mit unscharfer Sicht und Augenringen bis in den Fußraum am Flughafen vorbei in Richtung A 7 aufgebrochen. Von dort hatte ihn der Weg auf die A 23 geführt, auf der er nun schon seit einer Viertelstunde kurz vor Halstenbek-Krupunder stand. Halstenbek-Krupunder!
Sörensen seufzte, sah die Zeit verrinnen, verspürte Hunger, Durst und eine sehr geringe Frustrationstoleranz. Laut Navi waren es noch zwei Stunden bis Katenbüll, es war sechs Uhr fünfzig, das würde eventuell und bei Vermeidung weiterer Kalamitäten gerade so hinhauen – allerdings sollte dann auch langsam mal Bewegung in die Sache kommen.
Kurz bevor sein Unmut autoaggressive Züge annehmen konnte, versuchte er die andere Seite zu betrachten, wie man es ihm geraten hatte. Vielleicht hatte es einen Unfall gegeben, dachte er. Das war bestimmt kein menschliches Versagen hier, sondern ein Unfall. Genau. Ein Unfall. Stand ja niemand freiwillig dumm in der Gegend herum. Schlimm war das. So ein Unfall. Viel schlimmer, als einfach nur sinnlos herumzustehen und sich selbst auf die Nerven zu gehen. Irgendjemandem da vorne ging es jetzt wahrscheinlich richtig schlecht. Vielleicht sogar mit Blut, Schweiß und Tränen und eingedrückter Windschutzscheibe. Da wollte er mal besser nichts gedacht haben. Und übte sich in Gleichmut, während seine Finger sich ins Lenkrad krallten. Es ging aber auch wirklich überhaupt nicht vorwärts, hier mal ein Meter, da mal ein Meter. Da konnte man nicht von Fortschritten reden. Sörensen bemerkte die Parallele zu seinem Leben und hob einen weiteren Keller für seine eh schon im Souterrain befindliche Laune aus.
Er betrachtete sich im Rückspiegel. Traurige, leicht gerötete blaue Augen, denen man die schlechte Zeit ansah, verstrubbelter, dunkelblonder Seitenscheitel, rundliches, jungenhaftes Gesicht, die Rasur vom gestrigen Abend war bestenfalls mittelgut gelungen. Hätte er doch besser mal das Licht angemacht im Bad. Sörensen blickte an sich herunter, wie um sich zu vergewissern, dass da trotzdem noch was zu retten war: Er trug Jeans und ein Sakko, das notdürftig ein altes, schwarzes T-Shirt mit V-Ausschnitt kaschierte, welches er immerhin gebügelt hatte. Der Bauch spannte im Sitzen etwas, dank seiner breiten Schultern wirkte das aber eher männlich als schlaff. Zum Anlehnen, hatte Nele immer gesagt. Dennoch, Sport tat Not. Langfristig gesehen. Er lächelte sich im Rückspiegel an: Wenn er grinste, erkannte er sich wieder. Und fand sich nicht komplett unsympathisch. Ach, Nele. Ach, Lotta.
Er zog ein Foto aus der Innentasche seines Sakkos, das er am letzten Heiligabend gemacht hatte. Nele, Lotta und er, lachend vor dem Weihnachtsbaum. Nele, die ihn mit gespieltem Teufelsblick umarmte, ausgelassen, fröhlich, und zwischen ihnen Lotta, die ihr quietschbuntes und ausgesprochen hässliches Filly-Pferd voller Stolz in die Kamera hielt wie den wertvollsten Schatz der Welt. Ein unschuldiger Moment. Zumindest für ihn. Zwei Tage später, zwischen den Jahren, hatte Nele ihn mit Lotta verlassen. Sie hatte nicht einmal bis Silvester warten können. Alles war zusammengebrochen. Das System Sörensen war implodiert, Familie auf einen Schlag nur noch eine Konstruktion der anderen und er ausgespuckt in eine Welt, die nicht länger die seine war. Hoffentlich ging das bald mal vorwärts hier.
Sein rechter Fuß begann zu schmerzen. Stop and go war nichts mehr für ihn. Seit dem Bänderriss vor zwei Jahren, der seine nie so recht erblühte Fußballkarriere in der dritten Alte-Herren-Mannschaft des SV Barmbek auf abrupte Weise beendet hatte, konnte er mit dem Gaspedal auch nicht mehr besser umgehen als mit dem Ball. Das Band mochte einfach nicht mehr gedehnt werden. Wenn er längere Zeit saß, humpelte er nach dem Aufstehen jeweils ein paar Meter, bis sich der Fuß wieder an die Belastung gewöhnt hatte.
Er steckte das Foto wieder in seine Innentasche, verzog das Gesicht und lenkte die Gedanken von Nele und Lotta zu Buttermann, seinem Nachbarn, der außer mit einem dämlichen Nachnamen mit erstaunlicher Schlichtheit ausgestattet war, besonders wenn es um die komplizierten Dinge des Lebens ging – also um alle. Buttermann war kahl und sehr klein, und das war ein Glück für ihn, denn er bewirtschaftete eine Art Mäuse-Kiosk direkt vor der Tür des Mehrfamilienhauses, in dem sie beide wohnten, eine Schuhschachtel für Raucher und Leser, in die er, und nur er, wie ein anatomisch-architektonisches Wunder exakt hineinpasste.
«Du fährst weg?», hatte Buttermann vor einer Stunde scharfsinnig gefragt, als er, mit den Ellbogen auf die Boulevardzeitungen gestützt, den rackernden Sörensen beim Einladen begutachtet hatte.
«Ich muss», hatte Sörensen geantwortet und geächzt, so ein Gitarrenverstärker hatte nämlich ein ganz schönes Gewicht.
«Und wohin?»
«Nach Katenbüll.»
«Wo?»
«Katenbüll.»
Buttermann hatte sich an der Nase gekratzt. «Wo?»
«In Schleswig-Holstein ist das. Über Husum.»
«Für immer?»
«Ja, das ist für immer da.» Sörensen hatte bemerkt, dass er eventuell keinen Platz mehr für die Gitarre hatte, wenn er den Verstärker einpackte. Das war natürlich ein echtes Problem. Was sollte er mit dem einen ohne das andere?
«Wieso denn Katenbüll?» Buttermann hatte keine Miene verzogen.
«Ist nicht Hamburg.»
Buttermann hatte den Kopf geschüttelt und auf die Hamburger Morgenpost vor sich gezeigt. «Versteh ich nicht. Es geht doch nichts über Hamburg, mein Freund. HSV, Schanze, St. Pauli. Hier spielt das Leben!»
«Ja, genau. Zu viel Leben spielt das hier.»
Buttermann hatte ihn abschätzend gemustert, so als wollte er mit einem bislang verborgen gehaltenen Röntgenblick Sörensens polizeiliche Fähigkeiten erkunden.
«Brauchen die dich denn da?», hatte er dann gefragt. «In … Katenbüll?»
«Ja, sicher», hatte Sörensen gesagt, auch wenn er wusste, dass das nicht stimmte. Er hatte keinen Zweifel, dass die Entscheidung, sich versetzen zu lassen, notwendig gewesen war. Und im Gegensatz zu ihm würde der Gitarrenverstärker erst mal hierbleiben. Mitsamt der Gitarre. Konnte man ja später immer noch holen. Irgendwann.
Buttermann hatte mit den Knöcheln der rechten Hand auf das Titelblatt der Bild-Zeitung geklopft. «Also wenn du mich fragst, Sörensen, ist das natürlich übel mit Katenbüll, hat aber auch sein Gutes. Also für dich jetzt. Dann bist du wenigstens weit genug weg, wenn der Russe kommt.»
Sörensen hatte Putins Kopf unter der Schlagzeile erkennen können. Er war rot-schwarz eingefärbt und sah gefährlich aus.
«Wieso kommt der Russe denn?» Er wollte die Antwort eigentlich gar nicht wissen.
«Ist doch bald wieder», hatte Buttermann gesagt und sich voller Überzeugung in ein Schleudertrauma genickt. «Der hat den nie aufgegeben, den Plan mit der Weltherrschaft. Ich weiß das. Steht ja auch hier.» Buttermann hatte die Bild in die Luft gehoben. «Und wenn du dann in Katenbüll bist, bist du fein raus. Da kommt der Russe nämlich nicht hin. Berlin, Hamburg, Frankfurt, und wenn der völlig bescheuert ist, noch Köln und München, aber Katenbüll, was soll der denn in Katenbüll?»
«Ich muss dann mal», hatte Sörensen entschuldigend gemurmelt, den Verstärker wieder hinaufgetragen und im Flur neben die E-Gitarre gestellt. Seine Wohnung sah trostlos aus, so halb leer. Seine neue Bleibe würde ebenfalls trostlos aussehen, so halb voll. Irgendwie auch ein Kreis, der sich schloss. Er hatte die Tür hinter sich zugezogen, den Schlüssel zweimal im Schloss gedreht, war die...
Erscheint lt. Verlag | 18.12.2015 |
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Reihe/Serie | Sörensen ermittelt |
Sörensen ermittelt | |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Angststörung • Bjarne Mädel • Büsum • Gisa Pauly • Humor • Husum • Inselkrimi • Kleinstadt • Kommissar • Kriminalroman • Krimis • Krischan Koch • Küsten • lustige Krimis • Mord • Nordfriesland • Nordsee Krimi • Romane Schleswig Holstein • Schleswig-Holstein • witzige Kriminalromane |
ISBN-10 | 3-644-55241-X / 364455241X |
ISBN-13 | 978-3-644-55241-8 / 9783644552418 |
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