Vineland (eBook)
480 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-54511-3 (ISBN)
Thomas Pynchon wurde 1937 in Long Island geboren. Sein einziger öffentlicher Auftritt fand 1953 an der Oyster Bay High School in Long Island statt. Er studierte Physik und Englisch an der Cornell University, später schrieb er für Boeing technische Handbücher und verschwand. Seither sind seine Bücher (u.a. 'Die Enden der Parabel'; 'V'; 'Gegen den Tag') die einzigen öffentlichen Spuren seiner Existenz. Pynchon gilt als einer der bedeutendsten englischsprachigen Schriftsteller der Gegenwart. Er lebt in New York.
Thomas Pynchon wurde 1937 in Long Island geboren. Sein einziger öffentlicher Auftritt fand 1953 an der Oyster Bay High School in Long Island statt. Er studierte Physik und Englisch an der Cornell University, später schrieb er für Boeing technische Handbücher und verschwand. Seither sind seine Bücher (u.a. "Die Enden der Parabel"; "V"; "Gegen den Tag") die einzigen öffentlichen Spuren seiner Existenz. Pynchon gilt als einer der bedeutendsten englischsprachigen Schriftsteller der Gegenwart. Er lebt in New York. Dirk van Gunsteren, 1953 geboren, übersetzte u.a. Jonathan Safran Foer, Colum McCann, Thomas Pynchon, Philip Roth, T.C. Boyle und Oliver Sacks. 2007 erhielt er den Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis.
Später als sonst dämmerte Zoyd Wheeler an einem Sommermorgen des Jahres 1984 aus dem Schlaf, hinein in ein Sonnenlicht, das durch die Feigenblätter vor dem Fenster sickerte, während über ihm, auf dem Dach, ein Schwarm Blauhäher herumstapfte. In seinem Traum waren es Brieftauben von einem Ort weit überm Meer gewesen, die eine nach der anderen landeten und wieder wegflogen und die alle eine Botschaft für ihn trugen – doch es gelang ihm nie, einen dieser Vögel, in deren Schwingen das Licht pulsierte, rechtzeitig zu fassen zu kriegen. Er nahm es für einen weiteren dunklen Wink unsichtbarer Mächte, der fast bestimmt etwas mit dem Brief zu tun hatte, welcher zusammen mit seinem letzten Schizzo-Scheck gekommen war und ihn daran erinnerte, daß er keine Unterstützung mehr bekäme, wenn er nicht vor einem Tag, bis zu dem es inzwischen keine Woche mehr war, in aller Öffentlichkeit eine Wahnsinnstat beginge. Er stöhnte sich aus dem Bett. Irgendwo hügelabwärts waren Hämmer und Sägen in Aktion, und Country Music erklang aus einem Radio in irgendeinem Lkw. Zoyd hatte nichts mehr zum Rauchen.
Auf dem Tisch in der Küche, gleich neben der Count-Chocula-Dose, die sich als leer erwies, fand er einen Zettel von Prairie. «Dad, die haben schon wieder meine Schicht geändert, darum bin ich mit Thapsia reingefahren. Für dich war ein Anruf von Channel 86, sie sagten dringend, ich hab gesagt, versucht ihr mal, ihn wachzukriegen. Trotzdem alles Liebe, Prairie.»
«Also wieder Froot Loops», murmelte er dem Zettel zu. Wenn man genügend Nesquik drüberschüttete, waren sie gar nicht so übel, und in diversen Aschenbechern fand sich noch ein halbes Dutzend rauchbarer Stummel. Nachdem er sich im Badezimmer soviel Zeit wie möglich gelassen hatte, schaffte er es schließlich, das Telefon zu orten und den lokalen Fernsehsender anzurufen, um seine diesjährige Presseerklärung zu verlesen. Aber: «Sie sollten das mal gegenchecken, Mr. Wheeler. Wir haben gehört, daß Sie umdirigiert worden sind.»
«Gegenchecken bei wem? Ich bin doch schließlich der, der’s macht, oder?»
«Wir sollen aber alle in die ‹Cucumber Lounge› kommen.»
«Ohne mich. Ich bin oben im ‹Log Jam› in Del Norte.» Was war los mit diesen Leuten? Zoyd hatte die Sache seit Wochen geplant.
Draußen auf der Terrasse trieb sich Desmond um den Futternapf herum, der immer leer war, weil die Blauhäher kreischend aus den Redwoods herabstießen und das Futter Brocken um Brocken davontrugen. Nach einiger Zeit hatte sich diese Hundefutterdiät im Verhalten der Vögel bemerkbar zu machen begonnen, manche waren schon meilenweit hinter Personenwagen und Pick-ups hergejagt und hatten nach allen gehackt, die was dagegen hatten. Als Zoyd hinaustrat, warf ihm Desmond einen fragenden Blick zu. «Falsche Adresse», sagte Zoyd und schüttelte den Kopf angesichts der Schokoladenkrümel rings um die Hundeschnauze, «ich weiß, daß sie dich gefüttert hat, Desmond, und ich weiß auch, womit.» Schwanzwedelnd, um zu zeigen, daß er ein guter Verlierer war, folgte ihm Desmond bis zum Holzstapel und beobachtete, wie Zoyd den ganzen Weg bis zur Straße zurücksetzte; dann drehte er sich um und ging weiter seinem Hundealltag nach.
Zoyd fuhr hinunter zum Einkaufszentrum von Vineland, kurvte eine Weile auf dem Parkplatz herum und rauchte dabei einen halben Joint, den er in der Tasche gefunden hatte; dann stellte er den Karren ab und betrat einen Discount-Laden für weibliche Übergrößen – «More Is Less» –, wo er ein Partykleid in diversen Farben erstand, die auf dem Bildschirm gut kommen würden, und es mit einem Scheck bezahlte, von dem sowohl er als auch die Verkäuferin ahnten, daß er nach erfolgter Nichteinlösung seinen Weg zurück an die Pinwand neben der Kasse finden würde. Alsdann begab er sich in die Herrentoilette der «Breez-Thru»-Tankstelle, wo er das Kleid anzog und den Haaren auf dem Kopf und im Gesicht mit einer kleinen Bürste einen Dreh zu geben versuchte, von dem er hoffte, daß er den Leuten, die für die Beurteilung geistiger Gesundheit zuständig waren, ungesund genug erscheinen würde. Zur Zapfsäule zurückgekehrt, tankte er für fünf Dollar, kletterte auf den Rücksitz, kramte eine Literdose Öl aus dem Koffer, den er dort aufbewahrte, suchte nach dem Einfüllstutzen, drückte ihn in den Deckel und goß den größten Teil des Öls in den Motor; einen kleinen Rest behielt er zurück, um ihn in der Dose mit etwas Benzin zu vermischen, das er in den Tank einer eleganten, kleinen, importiert aussehenden Kettensäge von der Größe eines Feuerlöschers kippte, die er anschließend in einer Strandtasche aus Leinen verstaute. Prairies Freundin Slide kam aus dem Kassenraum geschlendert, um zuzusehen.
«Aha – ist es schon wieder soweit?»
«Dieses Jahr hätte ich’s fast vergessen. Blöder Gedanke, daß ich langsam zu alt dafür werde.»
«Das Gefühl kenn ich», nickte Slide.
«Du bist fünfzehn, Slide.»
«Und ich weiß, wie’s läuft. Welche Schaufensterscheibe ist dieses Jahr dran?»
«Keine, damit bin ich durch. Mit dem Fensterspringen ist es vorbei. Dieses Jahr nehm ich einfach diese kleine Kettensäge und marschiere ins ‹Log Jam› rein, mal sehen, was sie draus entwickelt.»
«Na ja, oder auch nicht, Mr. Wheeler. Sind Sie in letzter Zeit mal da oben gewesen?»
«Jaja, ist mir klar, daß da ’ne Menge harte Typen rumhängen, wilde Burschen, die es den ganzen Tag mit knapper Not geschafft haben, nicht von einem Baum erschlagen zu werden – wenig Geduld mit allem, was ein bißchen extravagant ist. Aber ich hab das Überraschungsmoment auf meiner Seite, oder nicht?»
«Sie werden’s ja sehen», beschied ihn die abgeklärte Slide.
Das würde er, aber erst, nachdem er mehr Zeit auf der 101 vertrödelt hatte, als sein bereits angeschlagener Sinn für Humor verkraften konnte. Schuld war ein Konvoi von Wohnmobilen aus anderen Bundesstaaten, die auf gemächlicher Ausflugstour durch den Redwood-Distrikt waren und ihn, wenn er auf den zweispurigen Streckenabschnitten zwischen ihnen eingekeilt war, zum Runterschalten und zum Erdulden von reichlich viel nicht immer wohlmeinender Aufmerksamkeit zwangen. «Was wollt ihr eigentlich?» schrie er, um den Motorenlärm zu übertönen. «Das ist ein, äh, ein Modell von Calvin Klein!»
«Calvin schneidert nichts über Größe 40», brüllte ihm ein Mädchen, jünger als seine Tochter, aus ihrem Fenster zu, «und so was wie du gehört eingesperrt.»
Es war längst Mittagessenszeit, als er das «Log Jam» erreichte, und er war enttäuscht, niemanden von den Medien vorzufinden, sondern statt dessen ein Sortiment von dicken Schlitten auf dem frisch asphaltierten Parkplatz. Und das waren nur die ersten von etlichen schamlosen Neuerungen. Um positive Gedanken bemüht – etwa den, daß sich die Fernsehteams nur verspätet hatten –, griff Zoyd nach der Tasche mit der Kettensäge, überprüfte nochmals seine Frisur und stürmte ins «Log Jam», wo ihm sofort auffiel, daß alles, von der Küche bis zur Kundschaft, anders roch als früher.
Holla. Sollte hier nicht irgendwo ’ne Holzfällerkneipe sein? Zwar wußte jeder, daß die Arbeiter in den Wäldern – wenn auch nicht jene in den Sägewerken, weil die Japaner die unbearbeiteten Stämme so schnell aufkauften, wie man die Landschaft nur rasieren konnte – jede Menge Geld verdienten, aber selbst wenn man das in Rechnung stellte, bot sich hier ein entschieden merkwürdiger Anblick. Abenteuerliche Gestalten von derber Denkart, robust vor allem im Umgang mit dem Tod, thronten schwerelos auf Designer-Barstühlen und nippten an Kiwi-Mimosas. Die Jukebox, die einst an Hunderten von Freeway-Ausfahrten küstenauf und küstenab für ihre gigantische Country-and-Western-Kollektion berühmt gewesen war (darunter ein halbes Dutzend Coverversionen von «So Lonesome I Could Cry»), war auf leichte Klassik und New Age-Musik umgestellt, die sanft am Rand der Wahrnehmbarkeit dahinzirpte und die anwesenden Axtschwinger und Seilsetzer derart ruhigstellte, daß sie wie Dressmen in einer Anzeige zum Vatertag aussahen. Einer der stärker gebauten unter ihnen, der zu den ersten gehörte, die Zoyd bemerkten, hatte beschlossen, sich der Situation zu stellen. Er trug eine modisch gestylte Sonnenbrille, ein Turnbull & Asser-Shirt mit einem pastelligen Karomuster, Jeans der dreistelligen Preisklasse von Mme. Gris und Après-Holzfällerschuhe aus dezent, aber unverkennbar blau gefärbtem Wildleder.
«Einen wunderschönen Nachmittag, schöne Frau. Sie sehen wirklich prachtvoll aus, und ich bin sicher, daß wir unter anderen Umständen alle darauf brennen würden, Sie als einen Menschen mit vielen inneren Vorzügen kennenzulernen und so weiter und so fort, aber nachdem Ihr äußeres Erscheinungsbild Sie als höchst sensibles Wesen ausweist, werden Sie sicher Verständnis dafür haben, daß uns hier in puncto sexueller Orientierung ein paar unklare Schwingungen aufstoßen, falls Sie mir folgen können.»
Der längst verwirrte Zoyd, dessen Überlebensinstinkte möglicherweise nicht ganz auf der Höhe des Augenblicks waren, beschloß, die Kettensäge aus der Tasche hervorzuholen. «Buster!» rief er flehentlich zum Wirt hinter der Theke. «Wo sind die Medien?» Sein Werkzeug zog schlagartig alle Aufmerksamkeit auf sich, nicht unbedingt bloß aus technischem Interesse. Es war eine nur als Sonderanfertigung lieferbare Kettensäge für Damen, «stark genug für Stammholz», wie es in der Werbung hieß, «und zierlich genug für zarte Hände». Die Sägeschiene, das Gehäuse und die Griffe waren mit echtem Perlmutt eingelegt und auf der Schiene, umgeben von der zahnbewehrten Kette, die bereit war loszubrummen, prangte in imitierten...
Erscheint lt. Verlag | 28.8.2015 |
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Übersetzer | Dirk van Gunsteren |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Absurdität • Bürgerrechte • Drogen • Hippie • Politik • Popkultur • Reagan-Ära • US-Literatur • Widerstand |
ISBN-10 | 3-644-54511-1 / 3644545111 |
ISBN-13 | 978-3-644-54511-3 / 9783644545113 |
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