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Null bis unendlich (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
304 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-11991-8 (ISBN)
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Fünfzehn Jahre lang hat Nils Liebe nichts von Sanela Pejanovic gehört. Damals, als sie sich kennenlernten, waren beide vierzehn, Nils multipliziert vierstellige Zahlen im Kopf, Sanela kam aus Jugoslawien und hatte im Krieg ihre Eltern verloren. Zwischen den beiden Außenseitern begann eine heftige Freundschaft, vielleicht wäre es sogar mehr geworden. Aber nachdem sie zusammen ausgerissen waren und versucht hatten, in Bosnien das Grab von Sanelas Vater zu finden, eine so vergebliche wie gefährliche Reise, kam das abrupte Ende zwischen Nils und dem wilden Mädchen, das immer aus allem ausbrechen wollte. Nun erhält Nils einen Brief von Sanela, einen Brief wie früher, scheinbar zufällig. Und weiß beim ersten Treffen, wie sehr sie ihm all die Jahre gefehlt hat. Sanela hat einen kleinen Sohn, der Niels-Tito heißt, der wie Nils die Zahlen liebt und sich sofort mit diesem versteht wie mit keinem sonst. Zu dritt holen sie die gescheiterte Reise nach und werden bald zu so etwas wie einer Familie. Aber Sanela macht es Nils immer noch nicht leicht. Ihr Brief war kein Zufall, denn sie ist sehr krank ... Lena Gorelik erzählt nicht nur von drei außergewöhnlichen Menschen, von Freundschaft, Liebe und Abschied - vor allem zeigt sie, warum es gut ist, anders zu sein und seinen eigenen Weg zu finden.

Lena Gorelik, 1981 in St. Petersburg geboren, kam 1992 mit ihren Eltern nach Deutschland. Ihr Roman «Hochzeit in Jerusalem» (2007) war für den Deutschen Buchpreis nominiert, der viel­gelobte Roman «Mehr Schwarz als Lila» (2017) für den Deutschen Jugendbuchpreis. Regel­mäßig schreibt Lena Gorelik Beiträge zu gesellschaftlichen Themen, u.a. für die «Süddeutsche Zeitung» oder «Die Zeit». Sie lebt in München.

Lena Gorelik, 1981 in St. Petersburg geboren, kam 1992 mit ihren Eltern nach Deutschland. Ihr Roman «Hochzeit in Jerusalem» (2007) war für den Deutschen Buchpreis nominiert, der viel­gelobte Roman «Mehr Schwarz als Lila» (2017) für den Deutschen Jugendbuchpreis. Regel­mäßig schreibt Lena Gorelik Beiträge zu gesellschaftlichen Themen, u.a. für die «Süddeutsche Zeitung» oder «Die Zeit». Sie lebt in München.

Sprechen


Das Mädchen war ihm fremd auf eine verstörend vertraute Weise. Es sprach nicht. Es lächelte nicht. Letzteres zum Beispiel war ihm vertraut, er selbst verzog die Mundwinkel auch nur, wenn er tatsächlich lachen musste, was äußerst selten geschah. Die Dinge, die seine Mitschüler oder seine Eltern zum Lachen brachten, befremdeten ihn mehr, als dass sie amüsierten. Seine Mutter ermahnte ihn regelmäßig, nach dem Essen die Zähne zu putzen, beim Sitzen den Rücken durchzudrücken, und eben auch, die Nachbarin oder die Bäckereiverkäuferin aus Gründen der Höflichkeit anzulächeln. Er ging jedes Mal, wenn sie ihn zum Zähneputzen schickte, ins Bad und nahm sich auf dem Weg ein Buch mit, in dem er las, während Wasser auf die Zahnbürste tropfte, auf die er sogar Zahnpasta geschmiert und die er dann ins Waschbecken gelegt hatte. Er drückte auch den Rücken durch, nicht weil er die Ängste seiner Mutter vor einer krummen Wirbelsäule ernst nahm, sondern weil der Aufwand, aufrecht zu sitzen, geringer war als der, lange Diskussionen zu führen. Beim Lächeln aber verweigerte er sich standhaft, und das hatte noch nicht einmal mit seiner generellen Infragestellung des Höflichkeitskonzepts an sich zu tun: dass man Menschen gegenüber, denen man keinerlei Interesse oder Sympathie entgegenbrachte, verlogene Formalien einzuhalten hatte, als Schauspielkunst, die keinem ehrlichen Gefühl entsprangen. Aber auf dieser Ebene, die seine Mutter niemals verstehen würde, weigerte er sich noch nicht einmal. Nils Liebe hatte sich selbst beim von seiner Mutter verlangten Lächeln in einem Kaufhaus im Spiegel beobachtet und dabei festgestellt, dass die Art, wie er die Lippen aufeinanderpresste und die Mundwinkel auseinanderzog, so unnatürlich und gequält aussah, dass er Menschen damit unmöglich das angenehme Gefühl vermitteln konnte, das diese Art von Mundgebärde ja hervorrufen sollte. Er tat den Mitmenschen, die es laut seiner Mutter zu hofieren galt, den Gefallen und lächelte nicht.

Das Mädchen lächelte ebenfalls nicht. Es sprach auch nicht, und es verstand nicht, das musste Nils Liebe sich immer wieder in Erinnerung rufen, weil die großen braunen Augen, mit denen es die Welt um sich herum aufnahm, jedes Detail, auch jedes Wort, das sie nicht verstehen konnte, aber offensichtlich dennoch beurteilte, zu keinem Zeitpunkt verständnislos oder gar verunsichert aussahen. Nils Liebe mochte das Mädchen.

Man hatte sie zu ihm gesetzt, natürlich.

«Nils, das ist Sanela. Sanela kommt aus Jugoslawien zu uns. Sie spricht unsere Sprache nicht, noch nicht, und sie wird Hilfe brauchen. Mit der Sprache und auch in den anderen Fächern. Es wäre schön, wenn du dich ihrer annehmen und ihr helfen würdest. Den Unterrichtsstoff kannst du ja schon. Du kannst ja alles», sagte die Lehrerin und lachte auf. In dieser unsicheren Art.

Dinge, auf die Nils Liebe die Lehrerin nicht aufmerksam machte:

  1. Jugoslawien war dabei auseinanderzufallen. Erst vor ein paar Tagen hatten die meisten europäischen Staaten Kroatien und kurz darauf Slowenien anerkannt.

  2. Das Mädchen war nicht «zu uns gekommen». Es war in eines der wenigen Länder geflohen, die Flüchtlinge aus dem Kriegsgebiet aufnahmen.

  3. «Sich jemandes annehmen» war ein herablassender Begriff, der Überlegenheit offenbarte. Das Mädchen zeigte sehr deutlich, dass man besser nicht den Versuch wagte, sich ihrer anzunehmen.

  4. Er konnte bei weitem nicht alles. Dass sie ihm hier auf der Schule dennoch nicht viel beibringen konnten, war in diesem Zusammenhang äußerst bedauernswert.

Das Mädchen saß also neben ihm. Es rechnete schnell und fehlerfrei. Es hatte eine ausladende Schrift und auffallend große Ohren. Mit diesen Ohren saugte es die Sprache auf. Nils Liebe hatte nicht die geringste Ahnung, wo er beginnen sollte, weshalb er nachmittags in die Buchhandlung am Marktplatz radelte und ein deutsch-serbokroatisches Wörterbuch besorgte. Am nächsten Tag begannen sie, miteinander zu sprechen.

«Ja sam Nils.»

«Ich sein Sanela.»

«Zdravo.»

«Hallo.»

«Das Stol. Tisch.»

«Tisch.»

«Das Stolica. Stuhl.»

«Stuhl.»

«Sad Geographie.»

«Ja. Geographie.»

Es war ein Gespräch.

Nils Liebe las nicht ein Buch nach dem anderen wie die meisten Menschen. In der Regel begleiteten ihn mehrere Bücher gleichzeitig: zwei bis drei Romane unterschiedlicher Epochen, ein Fachbuch und für den Fall, dass er nur ein paar Minuten zum Lesen hatte, wenn er beispielsweise an der Bushaltestelle wartete, dazu noch ein Gedichtband, eine Sammlung von Kurzgeschichten, ein Theaterstück. Sanela gewöhnte sich an, morgens in seinem Schulranzen zu kramen und sich die Titel der Bücher, die er dabeihatte, anzusehen. Sie kommentierte nicht – Nils Liebe führte das Schweigen besser auf mangelnde Sprachressourcen zurück –, aber zweimal hatte sie genickt. Einmal bei Kafka, einmal bei Byron. Morgens, während seine Klassenkameraden vor dem Spiegel standen und Hemden zu Jeans anprobierten und sich Gel in die Haare schmierten, stand Nils Liebe vor seinem Bücherregal und überlegte, ob Anna Seghers zu Vargas Llosa passte. Oder doch besser zu Ovid.

Eines Tages – sie hatten die Fünf-Wort-Satz-Grenze passiert, Sanela hatte angefangen, das Verb, das sie manchmal sogar richtig beugte, an die zweite Stelle zu stellen: «Ich finde nicht gut, dass Schwerkraft gibt» – nahm Nils Liebe seinen gesamten Mut zusammen und setzte eine Idee um, die ihm eines Nachts, er schlief in letzter Zeit nicht mehr so traumlos und tief wie früher, gekommen war. Auf einen Zettel schrieb er, da er wusste, dass Sanela sich mit ausgesprochenen Zahlen aufgrund der Eigenheit der deutschen Sprache, die zweite Ziffer vor der ersten auszusprechen, schwertat, «16 Uhr» und «Marktplatz». Und schob den Zettel mitten in der Mathematikstunde zu ihr hinüber. In der Mathestunde musste sie sich nicht besonders konzentrieren.

Ein Nicken ist unbestreitbar auch eine Antwort.

Am Nachmittag bremste er bei jeder gelben Ampel und wartete jede Rotphase geduldig ab, und so gelang es ihm, erst fünf vor vier am Marktplatz zu sein. Sanela allerdings war schon da, hatte die beigefarbene Hose an, die sie auch sonst immer trug, ihre Jeansjacke, keinen Rucksack.

«Hallo.»

«Hallo. Zdravo.»

«Zdravo.»

Bevor es unangenehm wurde, erledigte er mit einer Gewissenhaftigkeit, die er sonst nur bei chemischen Experimenten an den Tag legte, die Aufgabe, sein Fahrrad anzuschließen, und lotste sie anschließend in den Buchladen. Für die bescheidene Größe und die schlechte Sortierung der einzigen Buchhandlung der Stadt schämte er sich, als habe er die Bücher selbst ausgesucht und, Epochen und Genres vermischend, alphabetisch in die Regale sortiert. Die ganze Idee kam ihm plötzlich äußerst dämlich vor.

Ein Blick zu ihr. Sie trug so etwas wie ein Lächeln im Gesicht. Irgendwie auch ein Anfang.

Nils Liebe nickte der Buchhändlerin zur Begrüßung zu, beeilte sich, zu den Romanen zu kommen, verharrte kurz vor dem Regal und zog dann Ernest Hemingway heraus. Hielt ihr das Buch hin. Sanela las den Titel, lachte auf, nickte.

Er nickte auch, presste die Lippen aufeinander, stellte das Buch zurück. Suchte die Reihen ab, a, b, k, l, m, da war es, er zeigte ihr «Die folgende Geschichte», Cees Nooteboom. Sanela zuckte fragend die Schultern. Natürlich, eine Neuerscheinung, er schämte sich für seine Wahl, womöglich hatte man in Jugoslawien in den letzten Monaten nicht viel Zeit oder Muße für Übersetzungen gehabt. Er blätterte das Buch auf, zeigte ihr den ersten Satz. «Meine eigene Person hat mich nie sonderlich interessiert, doch das hieß nicht, dass ich auf Wunsch einfach hätte aufhören können, über mich nachzudenken – leider nicht.»

Sanela las leise, langsam, und bewegte dabei die Lippen. Als sie fertig war, verzog sie die Augenbrauen in etwas, das Nils Liebe als Anerkennung zu deuten wagte. Also versuchte er es mit Gabriel García Márquez und Milan Kundera.

Sanela hatte längst verstanden. Sie warf einen vorsichtigen Blick zur Buchhändlerin, bevor sie sie endgültig vergaß. Die Buchhändlerin beachtete die beiden nicht, sie kannte Nils als einen guten Kunden. Sanela suchte nun ihrerseits die Regale mit Blicken ab.

«Lirika?» Es war das erste Wort, das zwischen den beiden seit der Begrüßung gefallen war, und deshalb klang es zu laut und unangebracht, sogar die Buchhändlerin zuckte zusammen, blickte auf und zu den Kindern. Ach was, Kinder, Jugendliche waren das inzwischen. Nils Liebe kannte sie, seit er als verrotzter und verstrubbelter Vierjähriger seine Mutter angeschleppt hatte, die äußerst unwillig das Geld über den Kassentresen geschoben hatte. So anders als andere Kinder, dieser Nils. Aber trotzdem schon ein Mädchen gefunden, wie bezaubernd. Und sie seufzte, dieses Seufzen, das nur zum Teil herablassende Überheblichkeit einer Erwachsenen ausdrückte. Da war auch Neid, der der Kenntnis entsprang, dass dieses zarte erste Mal niemals, niemals wieder … Und sie erinnerte sich: Horst Weiler, zehnte Klasse, 1958.

Im Jahr 1992 und an jenem Nachmittag dachten aber Nils Liebe und Sanela in der Buchhandlung der ersten Liebe von Horst Weiler, der an ebendiese erste Liebe bestimmt seit zehn Jahren nicht mehr gedacht hatte, nicht im Entferntesten an Gefühle. Da hatten zwei gerade ihre Sprache gefunden und mit Herzensangelegenheiten nichts am Hut. Nils Liebe hatte eine Frage gestellt, und Sanela hatte sie beantwortet, indem sie zuerst Samuel Beckett aus dem Regal zog, darin blätterte, dann auf...

Erscheint lt. Verlag 28.8.2015
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Erste Liebe • Familie • Freundschaft • Jugoslawien • Kindheit • Krankheit • Krebs • Mathematik • Reise • Roadtrip • Tod
ISBN-10 3-644-11991-0 / 3644119910
ISBN-13 978-3-644-11991-8 / 9783644119918
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