Das Europa der Könige (eBook)

1120 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-04341-1 (ISBN)
Leonhard Horowski, 1972 geboren, studierte Geschichte, Anglistik und Politologie an der Freien Universität Berlin und der University of Durham. Nachdem er mit einer Doktorarbeit zum Hof von Versailles promoviert wurde, schließt er zur Zeit eine Habilitation über brandenburg-preußische Staatsminister ab. Neben der universitären Lehrtätigkeit arbeitete er in der Diplomatenfortbildung sowie als historischer Berater für Dokumentarserien, u.a. «Mätressen. Die Geheime Macht der Frauen» (2005) und «Die Deutschen» (2010).
Leonhard Horowski, 1972 geboren, studierte Geschichte, Anglistik und Politologie an der Freien Universität Berlin und der University of Durham. Nachdem er mit einer Doktorarbeit zum Hof von Versailles promoviert wurde, schließt er zur Zeit eine Habilitation über brandenburg-preußische Staatsminister ab. Neben der universitären Lehrtätigkeit arbeitete er in der Diplomatenfortbildung sowie als historischer Berater für Dokumentarserien, u.a. «Mätressen. Die Geheime Macht der Frauen» (2005) und «Die Deutschen» (2010).
Vorbemerkung
Das Europa der Könige war ein eigenartiger Kontinent. Ein König von England, der kein Englisch sprach, konnte hier auf die Idee kommen, die Pläne eines kein Spanisch sprechenden Königs von Spanien zu durchkreuzen, indem er dem kein Polnisch sprechenden König von Polen anbot, König von Sizilien zu werden. Der Herrscher über zwanzig Millionen Menschen trug währenddessen Mädchenkleider und wurde von einer alten Dame an einer seidenen Leine geführt, weil er erst fünf Jahre alt war; als Elfjährigen verlobte man ihn mit einer Dreijährigen, bevor man ihm dann als Fünfzehnjährigem doch lieber eine sieben Jahre ältere Prinzessin zur Frau gab. Die Macht residierte in überfüllten Schlössern, deren Höflings-Bewohner sich den ganzen Winter über um das Recht stritten, in Gegenwart der Königin auf einem Hocker zu sitzen, bevor sie im Sommer loszogen, um an der Spitze knallbunt uniformierter Truppen direkt in das Musketenfeuer der Kriegsgegner hineinzumarschieren. In einem Staat, dessen Amtssprache Latein war, konnte ein Hochadeliger Gerichtspräsident werden, der im Alter von zwölf Jahren nur deswegen lesen gelernt hatte, weil man ihn von den Bäumen des Schlossparks mit der Pistole Bleibuchstaben herunterschießen ließ. Es war eine Gesellschaft, in der ein Edelmann, der erst mit dreiundzwanzig Jahren feststellte, keinen Vornamen zu haben, weniger auffiel als einer, der seine Frau mit ihrem Vornamen anredete; Kinder sagten ‹Mama› zur Gouvernante, ‹Madame› zur Mutter und ‹Sie› zu den Geschwistern. Und doch präsentieren Schulbücher die Geschichte dieses 17. und 18. Jahrhunderts, diese so reiche Landschaft voller überraschender Aussichten, noch immer als Hochgeschwindigkeits-Autobahn zum einzig relevanten Heute.
Das Eintauchen in etwas weiter zurückliegende Epochen ist aber nicht nur reicher an Überraschungen als der Blick auf jüngere, vertrautere Vergangenheiten; es kann uns manchmal gerade dadurch die Augen öffnen, dass es eben keine offensichtlichen Botschaften transportiert. Man erfährt in der Beschäftigung mit den Monarchien der Frühneuzeit viel über die Geschichte der Staatsbildung, der Diplomatie, des Krieges, der Familienstrukturen oder der Geschlechterbeziehungen, und also werden auch die Leser dieses Buches am Ende mehr über all das wissen. Aber man kann es genauso gut lesen, um einfach herauszufinden, warum beispielsweise ein französischer König gut beraten war, Affären nur mit verheirateten Frauen anzufangen, welchen Monarchenkollegen der Römisch-Deutsche Kaiser im Jahr 1769 huckepack auf den Schultern trug, wie gut der erste am französischen Hof erzogene Irokese Querflöte spielen lernte, weshalb Kavallerieattacken im 18. Jahrhundert nur noch psychologisch wirkten, wer der Mann mit der Eisernen Maske war oder was die Leibärzte des Jahres 1688 als gesündere Alternative zur Muttermilch empfahlen. Und so soll denn dieses Buch unterhaltend sein, ohne deswegen auf Erklärung und Analyse zu verzichten: eine Reise durch vergangene Welten, die sich strikt an das historisch Rekonstruierbare hält und die man dennoch wie eine Erzählung lesen kann.
Die vergangene Welt, um die es in den folgenden zwanzig Kapiteln gehen soll, ist die der europäischen Monarchen der ausgehenden Frühneuzeit sowie jener höfischen Aristokraten, die sie mal als Rivalen, mal als Helfershelfer und oft genug als gehobene Kindermädchen umgaben. Für diese anderthalb Jahrhunderte zwischen 1642 und 1799 biegen wir also bewusst von der großen Fortschrittsautobahn ab, um auf der damals einzig beleuchteten Hauptstraße zu fahren, die man rückblickend meistens wie ein Nebengleis oder gar eine Sackgasse behandelt. Tatsächlich hat ja auch kaum eine der Personen, die wir näher betrachten werden, etwas nach heutigen Maßstäben Nützliches oder Zukunftsweisendes bewirkt. Dieses Buch gilt bewusst nicht den großen Schriftstellern, Philosophen, Künstlern oder Wissenschaftlern jener Zeit, über die sonst am ehesten geschrieben wird. Hier dagegen geht es weder um die Berühmtesten noch auch um komplett von A bis Z auserzählte Biographien. Die Biographie ist fast das einzige Genre, in dem die höfische Gesellschaft bisher einigermaßen zugänglich behandelt worden ist, und sie vermag viel zu leisten, was hier nicht möglich wäre. Eines jedoch kann sie nicht, und genau das soll in diesem Buch versucht werden – eine fast vergessene Welt zugleich erklären und erzählen, indem man zwanzig über eine lange Zeitspanne verteilte Momente schildert und zusieht, wie die zu ihnen gehörenden Lebensläufe ineinandergreifen.
Dabei wird bewusst nicht scharf zwischen Neben- und Hauptfiguren unterschieden, wie das sonst sowohl Romane oder Filme als auch Biographien zu tun pflegen. Schon bei der Rekonstruktion eines einzigen realen Lebens ist ja diese Trennung einigermaßen künstlich, erst recht bei der Darstellung einer ganzen Gesellschaft – und nirgendwo so irreführend wie hier, wo es um eine internationale Herrschaftselite geht. Denn auch das soll ja unser Text sein: eine Einladung, anhand nur scheinbar verjährter Beispiele über die Art nachzudenken, in der Macht ausgeübt wird, in der Eliten sich abgrenzen, sich rechtfertigen und vor lauter alternativloser Selbstgewissheit immer wieder scheitern, ohne deswegen notwendigerweise dumm oder gar böse zu sein. Viele Einzelne können wir zwar, weil wir ihre Briefe, Tagebücher und andere sehr präzise Quellen haben, einigermaßen kennen. Nicht wenige andere aber haben, obwohl sie große Hauptrollen spielten, fast keine solchen Spuren hinterlassen, während wieder andere sich uns nur für einen kurzen Augenblick offenbaren. Schon deswegen kann ein Buch wie dieses sich nicht darauf beschränken, Personen vorzustellen, die wir ganz durchschauen – oder auch nur durchschauen müssten. Wohl kein Missverständnis über Machteliten ist nämlich größer, keines wohl auch mehr schuld an der Entstehung von Verschwörungstheorien als die Vorstellung, dass die Mächtigen und gesellschaftlich Hochgestellten nur etwa so viele Sozialbeziehungen hätten wie der Normalbürger. Macht ist ein Schachspiel auf einem riesigen Brett; sie funktioniert nur durch Netzwerke und wird von Eliten betrieben, die gar nicht anders können, als von Anfang an möglichst viele der anderen Schachfiguren im Auge zu behalten. Dies gilt immer und überall, am meisten aber in der Welt der Höfe und Aristokratien, deren Akteure in ihre Netzwerke schon hineingeboren wurden. Von Individualität hielten sie noch fast ebenso wenig wie von Privatleben, und so kann man ihre Welt überhaupt nur dann einigermaßen vorstellbar machen, wenn man auch in der historischen Darstellung nicht gleich alle Nebenfiguren herauswirft. Im Gegenteil: Die ständig präsenten Höflinge, die über die Generationen immer wiederkehrenden Namen der großen Familien gehören zum Mobiliar unserer Erzählung, die von den Verbindungen zwischen ihnen nicht weniger zusammengehalten wird als vom Hauptstrom der Ereignisse.
Und vor dieser Kulisse spielt sich nun das größte Drama ab, die eigentliche Tragikomödie dieser versunkenen Welt: das Zusammenleben und -arbeiten der geborenen Herrscher mit ihren geborenen Helfern, das mehr oder weniger gelungene Hineinwachsen der Mächtigen in die Rollen, die ihnen der Zufall zugewiesen hatte, all die Dramen von Aufstieg und Fall in einem Mikrokosmos, von dem oft gesprochen wird, als wäre er ein willenloses Uhrwerk gewesen, und der doch in Wahrheit ein Schlachtfeld ebenso wie ein Ameisenhaufen war. Es macht wenig aus, dass die speziellen Strukturen dieser Macht längst vergangen sind, und für manche Beobachtungen mag es geradezu von Vorteil sein, sich eine Epoche näher anzusehen, in der es mangels Massenmedien, Pressefreiheit oder gar Demokratie und angesichts der Geheimhaltung aller Staatsangelegenheiten durch eine viel kleinere und viel inzestuösere Machtelite ungleich leichter gewesen wäre als heute, riesige Verschwörungen durchzuführen – und am Ende festzustellen, dass derartige Pläne nahezu immer schiefliefen.
Aber auch ganz ohne so spezifische Fragen lohnt sich die Beschäftigung mit der Frühneuzeit schon deshalb, weil sie in Abwandlung eines Wortes von Uvo Hölscher nun einmal das «nächste Fremde» unserer eigenen Gesellschaft ist – nah genug, um nicht außerirdisch zu sein, und doch zugleich fremd genug, um uns daran zu erinnern, wie wenig selbstverständlich unsere Selbstverständlichkeiten sind. Wer sich einmal näher angesehen hat, wie lauter individuell vernünftige Menschen mit der größten Überzeugung Dinge tun, die uns nach bloß drei Jahrhunderten wie der reine Irrsinn vorkommen, der mag es sich danach auch zweimal überlegen, etwas nur deswegen für richtig zu halten, weil das im Hier und Heute alle anderen tun.
Alles in diesem Buch ist so konzipiert, dass es für die Leser auch an Ort und Stelle nachvollziehbar sein sollte – jedenfalls so nachvollziehbar, wie es eben geht, wenn man eine oft bizarre Gesellschaft beschreibt. Auf welche Quellen sich unsere Darstellung stützt und wie wir die belegbaren Fakten gelegentlich (und höchstens!) um das ergänzen, was sich plausibel herleiten lässt, kann für jedes Kapitel im Quellenanhang am Ende des Buches nachgelesen werden. Die hier folgenden Erläuterungen dagegen sind einfach ein Angebot für den Fall, dass der Leser oder die Leserin die Logik hinter den hier verwendeten Namen und Daten genauer nachvollziehen möchte.
Der richtige Umgang mit Personennamen ist einer der wichtigsten Testfälle für die Qualität von Geschichtsbüchern und historischer Erzählung, weil wenig so viel über eine Gesellschaft sagt wie ihre...
Erscheint lt. Verlag | 10.3.2017 |
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Zusatzinfo | 4 x 8 S. 4-farb. Tafeln; mit Stammtafeln |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Neuzeit bis 1918 |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | Adel • Frühe Neuzeit • Höfische Gesellschaft |
ISBN-10 | 3-644-04341-8 / 3644043418 |
ISBN-13 | 978-3-644-04341-1 / 9783644043411 |
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Größe: 13,7 MB
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