Verdi (eBook)

Ein Roman in neun Fantasien
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
224 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30983-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Verdi -  Peter Härtling
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Verdi - ein musikalisch-melancholischer Künstlerroman Peter Härtling, profunder Musikkenner und Autor hochgelobter Künstlerromane von Schubert über Schumann bis zu Hölderlin und Fanny Mendelssohn, nähert sich dem alternden Verdi und lässt seine Fantasie schweifen. Die Geschichte beginnt auf der Höhe seines Schaffens und gleichzeitig an einem kritischen Punkt. Verdi hat mit »Aida« einen phänomenalen Erfolg gefeiert und versucht nun etwas Neues. Mit dem Streichquartett in e-Moll und dem Requiem überrascht er sich, sein Publikum und Peppina, seine zweite Frau und engste Vertraute. Und er beginnt, sich neben der Musik um anderes zu kümmern: seinen Landsitz Sant'Agata, in dessen Umgebung er ein Krankenhaus gründet, und die Casa di Riposi dei Musici, ein Altersheim für ehemalige Musiker in Mailand. Es folgen weltberühmte Kompositionen, besonders der »Otello« und der »Falstaff« in der spannungsreichen Zusammenarbeit mit dem Librettisten Arrigo Boito. Härtling erzählt von einem Mann, der immer auf der Suche ist - nach sich, der Liebe, der Erfüllung, dem künstlerischen Ausdruck. Einem Mann mit Erfahrung, der doch immer wieder von Neuem anfängt und am Vertrauten hängt, vor allem an seiner Peppina. Ein beglückender Roman, leicht erzählt, mit musikalischem Gespür für Dissonanzen, Zwischentöne und das große Finale.

Peter Härtling, geboren 1933 in Chemnitz, gestorben 2017 in Rüsselsheim, arbeitete zunächst als Redakteur bei Zeitungen und Zeitschriften. 1967 wurde er Cheflektor des S. Fischer Verlages in Frankfurt am Main und war dort von 1968 bis 1973 Sprecher der Geschäftsführung. Ab 1974 arbeitete er als freier Schriftsteller. Peter Härtling wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Hessischen Kulturpreis 2014 und dem Elisabeth-Langgässer-Preis 2015. Das gesamte literarische Werk des Autors ist lieferbar im Verlag Kiepenheuer & Witsch, zuletzt erschien sein Roman »Gedankenspieler« (2018).

Peter Härtling, geboren 1933 in Chemnitz, gestorben 2017 in Rüsselsheim, arbeitete zunächst als Redakteur bei Zeitungen und Zeitschriften. 1967 wurde er Cheflektor des S. Fischer Verlages in Frankfurt am Main und war dort von 1968 bis 1973 Sprecher der Geschäftsführung. Ab 1974 arbeitete er als freier Schriftsteller. Peter Härtling wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Hessischen Kulturpreis 2014 und dem Elisabeth-Langgässer-Preis 2015. Das gesamte literarische Werk des Autors ist lieferbar im Verlag Kiepenheuer & Witsch, zuletzt erschien sein Roman »Gedankenspieler« (2018).

I.
Accelerando a capriccio


Er war im Dunkeln aus dem Bett gestiegen, ein paar Schritte gegangen und hatte sich verirrt. Er hörte sich atmen und dachte, es ist wie der Atem eines Kindes.

Hilf mir, Peppina!, rief er in die schwarze Wand, blieb stehen und horchte. Er müsste das Zimmer doch kennen, in dem er bei jedem Neapel-Aufenthalt logierte. Aber es wies ihn ab. Er wagte keinen Schritt mehr.

Peppina, ich bitte dich!

Ihr Lachen hörte sich an, als käme eine Taube ins Zimmer geflogen. Er riss die Augen auf, es wurde noch dunkler.

Was ist mit dir, mein Verdi?, hörte er, und die Taube gurrte der Frage nach.

Hilf mir, bitte. Ich finde mich nicht zurecht.

Sie kam, ihre Schritte waren sicher. Er schüttelte sich etwas unwillig. Sie schob ihn vor sich her, bis er mit dem Knie gegen den Bettrand stieß.

Ich kann dir das alles nicht erklären.

Peppina half ihm, sich hinzulegen, deckte ihn zu.

Er rückte zur Seite: Leg dich zu mir.

Du nimmst dir zu viel vor. Ihre Wärme teilte sich ihm mit. Wir werden älter, sagte sie.

Er antwortete ihr nicht. Sie atmeten miteinander.

Er fürchtete, sie könnte einen Satz mit »damals« beginnen, und drehte sich zur Seite. Wieder gurrte die Taube.

Ich weiß schon, sagte er, ich bin kindisch und lächerlich alt.

Beides?, fragte sie.

Beides, gab er ernst zur Antwort.

Sie hatte die Abigail im »Nabucco« gesungen, und wenn sie so nahe war wie jetzt, hörte er sie, die Primadonna Giuseppina Strepponi. Sie war, als er sie kennenlernte, einunddreißig, berühmt und hochmütig, Mutter eines Sohnes, Camillo, und ihre Stimme hielt nicht mehr. Sie verschwand, versuchte sich, wie er später erfuhr, in Paris als Gesangslehrerin.

»Wir sind überzeugt, dass sich diese hervorragende Künstlerin in diesem Winter in der eleganten Welt von Paris großer Beliebtheit erfreuen wird.« Er wusste diesen albernen Satz auswendig. Ich kann ihn noch immer, sagte er und lachte vor sich hin.

Sie sendete ihre Wärme aus: Was kannst du noch immer?

Einen Satz, Peppina.

Sagst du ihn mir?

Nein. Du kennst ihn. Weißt du noch, wie ich dich in Paris besucht habe?

Ja. Ich habe die Stadt dann mit dir verlassen.

Du sagtest, und ich wollte es nicht glauben, ich werde nicht mehr singen. Doch in einer Pause, nach der Heimreise, sagtest du auch: Ich bleibe bei dir.

Und jetzt irrst du in dem uns seit Jahren vertrauten Zimmer in der Albergo delle Crocelle umher.

Sie schlüpfte aus dem Bett. Ich will noch etwas schlafen, Verdi, schlaf du auch. Warte, bis es hell wird.

 

Verdi war sechzig, als er sich vornahm, nach den Anstrengungen um »Aida« eine Arbeitspause einzulegen. Zwanzig Jahre jünger, als ich es bin. Er litt unter seiner Ungeduld, unter den Wünschen und Erwartungen anderer. Er versuchte, zu Atem zu kommen. Mit Peppina zog er sich, wann immer es möglich war, nach Sant’Agata, auf seinen Landsitz, zurück. Der Besitz wuchs durch Ankäufe. Manchmal begleitete sie Teresina Stolz, die, Jahre zuvor, die Leonore in der »Macht des Schicksals« gesungen hatte, eine Stimme, der Verdi zeitweilig verfiel und gegen die Peppina nur ihre Nähe zu ihm ausspielen konnte. Sie gewöhnten sich aneinander, nachdem eine wie die andere festgestellt hatte, dass der alte Mann sie nicht der jeweils anderen vorziehe. Er redete sich die Pause ein, blieb dennoch angespannt und unterwegs. Seine Opern wurden weiter aufgeführt, die Ricordis, seine Verleger, blieben ihm auf den Fersen, geliebte Plagegeister, bedrängten ihn mit Aufführungsterminen, Einladungen, erhofften Neues. Allein in seinem sechzigsten Jahr reiste er von der italienischen Erstaufführung der »Aida«, da strengte ihn die Regie an, nach Sant’Agata, von dort nach Mailand, weiter nach Paris, zurück über Turin nach Sant’Agata und Ende des Jahres nach Genua. Immer die langsamen Züge, die holpernden Kutschen, »gerädert«. Es ist schwer, ihm schreibend zu folgen, allen Personen, denen er unterwegs begegnete, die ihm gelegentlich wichtig wurden, einen Namen zu geben.

 

Er wollte sie alle überraschen, sein Publikum, die Musiker, Peppina und die Ricordis. Mit Peppina hatte er es nicht leicht, sie fragte ihn wiederholt, warum er noch an der Aida-Partitur korrigiere, und er erfand Ausreden, bei denen ihm die Stimmen der Sänger halfen. Die Waldmann war in dieser Partie noch nicht ganz sicher, erklärte er Peppina, und sie konnte es nicht lassen, ihm noch das Herzblut in den Hals zu jagen: Aber die Stolz kann alles bestens! Er beugte sich über das Blatt auf dem Sekretär und begann, mit dem Handrücken fahrig darüberzustreichen. Peppina wusste, dass er Teresina Stolz in seine Nähe wünschte, ihrer beider Nähe. Sie sang, was Peppina sang. Und dass sie sich scheiden ließ, seinetwegen, wie Peppina vermutete, ging ihr zu weit. Jetzt keine Rollen mehr, um die sich streiten ließ, keine theatralischen Rivalitäten. Er hoffte, Peppina verstand ihn, und wünschte, dass sie den vertrackten Zustand akzeptiere.

Schon im Juni des vergangenen Jahres hatte er in Genua mit dem ersten Satz eines Streichquartetts begonnen. In Neapel hatte er Zeit, da Teresina mit einer Indisposition nicht weiter an den Proben teilnehmen konnte, ihre Aida höre sich an wie ein durchgedrehter Kapaun, höhnte Peppina, und er fand das gemein.

Den ersten Satz, ein Allegro in Sonatenform, hatte er beinahe zu Ende gebracht, ein paar Erinnerungen an »Aida« waren ihm hineingeraten und um sicher zu sein, hatte er sich über Ricordi die letzten Quartette Haydns bestellt.

Giulio Ricordis Neugier war geweckt: Was haben Sie vor, Maestro?

Verdi hob die Schulter: Ich lese Haydn, um zu lernen, Giulio.

Womit er Ricordi erstaunte: Ich bitte Sie, von den wenigen Opern, die er komponierte!

Verdi bestand darauf, dass er die Noten besorge. Von Haydn kann unsereiner sowieso lernen. Und Sie, Giulio, sind von Berufs wegen ein Besserwisser.

Mit dem zweiten Satz, dem Andantino, antwortete er melancholisch den beiden Frauen, den beiden Stimmen, seiner Liebe zu beiden, einer ungeteilten, die es ihm schwermachte. Peppina wurde seine Arbeit, seine Noten-Abwesenheit, wie sie schimpfte, zu viel: Willst du mit Noten die Stimme der Stolz reparieren?

Er ließ sich nicht provozieren, dachte nicht daran, sich zu einer »Partei« zu schlagen: Sie ist schon wieder bei Stimme, Peppina, wir haben heute Vormittag geprobt, und es kann weitergehen.

Sie schickte ihrem Lachen das vertraute Gurren voraus: Und was reparierst du dann mit Noten?

Er könnte ihr erzählen, dass ihm das Prestissimo des dritten Satzes zu schaffen mache, denn es drängte ihn zu einem Cantabile, und um die Geheimnistuerei nicht zu übertreiben, gab er wenigstens preis, was ihm durch den Kopf ging: Ich bekomme ein Motiv für Cello nicht los, es geht mir nach und singt im Schlaf weiter. Hörst du? Er sang.

Das gefällt mir, Verdi. Wer soll es singen? Nur du?

Wenn es nach mir geht, Peppina, dann schon.

Sie lehnte sich gegen ihn, machte sich schwer: Womöglich vergisst du es, schreib es lieber auf. Vorsichtig, um ihre Leidenschaft nicht zu wecken, legte er den Arm um sie: Du hast recht, Peppina, das werde ich nicht versäumen, das nicht.

 

Draußen vorm Hotel stritten zwei Kutscher lauthals über ihre Warteposition auf der Gasse. Peppina machte sich los, küsste ihn flüchtig auf den Hals, lief zum Fenster, lachte, wie nur sie lachen konnte, den Anfang einer Arie: Den Kerlen werde ich es zeigen und mir beim Portier eigens eine Kutsche bestellen. Sie ging und hinterließ einen Luftwirbel. Er sah hinaus, beobachtete die Kutscher, die von ihren Böcken angriffslustig gestische Botschaften aussandten, doch dann stieg, mithilfe des Concierge, Peppina in die Kutsche des einen. Und die Sonderpost?, fragte er gegen die Fensterscheibe.

In den dritten Satz, dem Scherzo, für dessen Trio er das Motiv schon vorausgesungen hatte, redeten ihm die Proben zu »Aida« hinein. Vieles stimmte nicht, nachdem sich die Stimme der Stolz belegt hatte. Die Kulissenbauer schlampten, sodass die Leute auf der Bühne fürchten mussten, unter Teilen des Bühnenbildes begraben zu werden. Manchmal, wenn ihn die Wut packte, vergaß er sich. Und danach fürchtete er sich vor dem Spott Peppinas.

 

Er rief, nein, er schrie nach dem Bühnenmeister: Signor Calotto! Der kam, hager, ungemein fluchtgeübt und mit Augen, in denen sich die Frechheit konzentriert: Maestro, wo fehlt’s?

In drei Tagen haben wir Premiere, und das komplizierte Bühnenbild kommt mir vor wie improvisiert.

Der dürre Kerl nickte und ließ die Augen funkeln: Das stimmt, Maestro, nur wenn ich mich nicht irre, haben Sie ebenfalls in den letzten Tagen improvisiert.

Er hätte ihn am liebsten gepackt und in seine wackligen Kulissen geschmissen. Doch nun hörte er sich brüllen, und der Kerl wich zurück, machte geschwind kehrt und verschwand im Bühnengang.

Er merkte die erstaunten und erschrockenen Blicke der Bühnenarbeiter, der Musiker.

Sie hatten Teresina in ihrer Garderobe alarmiert. Sie war plötzlich da, neben ihm. Eine banale und bizarre Szene, die sich nur ein schlechter Librettist hätte ausdenken können.

Sehr leise fragte sie, um nicht weiter seinen Zorn zu schüren: Was ist, Verdi?

Sie legen sich alle quer, haben kein Interesse. Er musste aufpassen, sie nicht in seine Arme zu reißen und wie ein Hilfe suchendes Kind auf sie einzureden. Sie umfasste mit beiden Händen seine Hand: Das stimmt nicht, Verdi. Nach unendlich vielen Premieren, die du erlebt hast, müsstest du wissen, dass niemand vorher bei Trost...

Erscheint lt. Verlag 17.8.2015
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Biografischer Roman • Das ausgestellte Kind • Die Lebenslinie • Ein Balkon aus Papier • Felix Guttmann • Grosse, kleine Schwester • Guiseppe Verdi • Hölderlin • Komponist • Künstler • Künstlerroman • Künstler-Roman • Leben • leben lernen • Liebste Fenchel! • Musik • Musiker • Peter Härtling • Rekonstruktion • Romanbiografie • Schubert • Tage mit Echo • Verdi
ISBN-10 3-462-30983-8 / 3462309838
ISBN-13 978-3-462-30983-6 / 9783462309836
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