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Ehe die Spuren verwehen (eBook)

eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
224 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-0385-7 (ISBN)
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Ein Mann in mittleren Jahren überfährt eine junge Frau. Hat sie den Tod gesucht, oder war sie nur unaufmerksam? So unaufmerksam wie der Fahrer des Autos, der nun den Spuren dieses Lebens nachgeht, das er schuldlos-schuldig ausgelöscht hat? Wo hat sie gelebt? Woher stammt sie? Wen hat sie geliebt? Am Ende seiner Reise in die Vergangenheit der geheimnisvollen Toten verliebt auch er sich in sie. Mehr über Christine Brückner erfahren Sie über die Stiftung Brückner-Kühner unter http://www.brueckner-kuehner.de/.

Christine Brückner (1921 - 1996) zählt zu den renommiertesten Schriftstellerinnen Deutschlands. Sie verfasste Romane, Erzählungen, Kommentare, Essays, Schauspiele, auch Jugend- und Bilderbücher. Besonders mit der Poenichen-Trilogie wurde sie einem großen Publikum bekannt.

Christine Brückner, am 10.12.1921 in einem waldeckischen Pfarrhaus geboren, am 21.12.1996 in Kassel gestorben. Nach Abitur, Kriegseinsatz, Studium, häufigem Berufs- und Ortswechsel wurde sie in Kassel seßhaft. 1954 erhielt sie für ihren ersten Roman einen ersten Preis und war seitdem eine hauptberufliche Schriftstellerin, schrieb Romane, Erzählungen, Kommentare, Essays, Schauspiele, auch Jugend- und Bilderbücher. Von 1980-1984 war sie Vizepräsidentin des deutschen PEN; 1982 wurde sie mit der Goethe-Plakette des Landes Hessen ausgezeichnet, 1990 mit dem Hessischen Verdienstorden, 1991 mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. Christine Brückner war Ehrenbürgerin der Stadt Kassel und stiftete 1984, zusammen mit ihrem Ehemann Otto Heinrich Kühner, den "Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor". Christine Brückners Gesamtwerk ist im Ullstein Verlag erschienen.

Ich kam in der elften Stunde eines Sonntags auf dem Bahnhof jenes Städtchens an, in dem Gabriele zur Schule gegangen war und, soweit ich erfahren konnte, einen Teil ihrer Kindheit verbracht hatte.

Es war einer dieser Herbsttage, die aus der sanften Bläue des Morgens nur zögernd in das gedämpfte Gold des Nachmittags hinüberdämmern. – Wie ich es gerne tue, ging ich den Weg vom Bahnhof in das Stadtinnere zu Fuß, obwohl zwei altmodische Kremser, die ein rühriger Bürgermeister zur Vervollständigung der Idylle seines Kurstädtchens hervorgeholt hatte, einladend auf dem Vorplatz warteten. Dort, wo die Straße in die Stadt einbog, fand ich eine übersichtliche, farbige Wanderkarte, die einen ersten, orientierenden Überblick gab. Ich stellte meine Reisetasche ab und vertiefte mich in die Anordnung der wenigen, gleichmäßig gewinkelten Straßen, die alle auf Schloß und Kirche gerichtet waren und in das Grün der nahen Wälder ausliefen.

Während ich die leichte Steigung gemächlich nahm, fühlte ich mich angenehm aufgetan für die Fremdheit der Stadt, die mir schon jetzt so vertraut war, daß ich voller Erwartung, ja Ungeduld dem Lauf der Bahnhofstraße folgte, die von jenem Durcheinander aus Geschäfts- und Privathäusern und kleinen Handwerksbetrieben gesäumt war, das allen kleinen Städten eigen ist, die einmal aus fehlgegangener Überlegung den Bahnhof weit vor die Tore ihrer Stadt gerückt haben. Als in meinem Blickfeld der Umriß der hellsteinigen Kirche erschien, wandelte sich plötzlich das Straßenbild, die Häuser ordneten sich ein, standen nun säuberlich nebeneinander, eines wie das andere: rosa, hellblau, blaßgrün getüncht wie aus einem Kinderbaukasten, und nicht einmal die Mitteltreppe fehlte, um die man einen Bogen machen mußte, weil sie ein Stück auf den Bürgersteig ging. Diese kleinen Rotdornbäumchen vor den bunten Häusern stimmten mich heiter. Ich blieb vor den Auslagen der Schaufenster stehen, besah mir die Kuh aus bemaltem Stein, die unter den Blattpflanzen einer Metzgerei den Marmor abgraste, und stand, mit mancherlei Kindheitserinnerungen beschäftigt, vor dem roten Elefanten mit den kleinen, silbernen Steigbügeln, der zwischen adrett gereihten Kinderschuhen spazierte, bog auf den Kirchplatz ein und trat einen Augenblick in die Kirche, deren Inneres die gleiche helle Ebenmäßigkeit aufwies wie die Bürgerhäuser, die zwar keinen Einfallsreichtum, wohl aber Anmut besaßen.

Unter der Tür des »Hotels zur Post« stand der weißlockige, heitere Wirt, der sich mit Recht für das beste Aushängeschild seines Gasthofes ansehen mochte, und hielt bereits Ausschau nach dem letzten Sommergast, der sich noch im Oktober in das Städtchen verirrt hatte. Nachdem wir ein ausgiebiges Gespräch über mein Mittagessen hatten, fand sich leicht ein Übergang zu dem Anlaß meines Besuches. Ich sagte, daß ich nicht ganz fremd hier sei, da ich jemanden gekannt habe, der hier aufgewachsen war. Es stellte sich heraus, daß der Wirt eine Tochter hatte, die mit ihr zusammen zur Schule gegangen war. Ihr Vater pflegte, bevor er endgültig hierher zog, im Hotel zur Post einzukehren, wenn ihn eine Synode in die Kreisstadt rief. Bevor er jedoch zu Einzelheiten ausholen konnte, die ich nicht aus dem Munde meines Wirtes erfahren wollte, fragte ich mit Zurückhaltung, wen ich wohl aufsuchen könnte, der der Familie Feldcamp nahegestanden habe. Er nannte mir den Namen einer Ärztin, die im ersten Stock der Apotheke ihre Praxis als Orthopädin betrieb und dort auch wohnte, gleich an der gegenüberliegenden Seite des Kirchplatzes. Dr. Lenz. Mir fiel sofort ein, daß ich diesen Namen bereits gelesen hatte. – Reinhold Lenz. Die Lieder für Gabriele. Ich war bestürzt, diesmal so rasch an eines der Ziele meiner Reise zu kommen.

Nach dem Essen setzte ich meinen Stadtrundgang fort, der, als ich die zweihundert Meter der Hauptstraße hinter mir hatte, am Schloß schon zu Ende war. Es blieb nur noch ein Gang durch die bereits für den Winter versorgten Anlagen. Dann bog ich in eine Allee ein, deren Mittelweg durch Holzbarrieren mehrfach versperrt war und dessen Seitenwege, von hohen Eichen beschattet, eher Reitwegen denn Gehwegen glichen. Es wanderte sich gut in dem feuchten Laub der weichen Erde. Ich setzte mich schließlich auf eine der flachen, unbequemen Steinbänke, legte den Hut neben mich, stellte die Tasche ab und fühlte mich wohl. Tatsächlich, ich tat nichts anderes als mich wohl zu fühlen. – Später entdeckte ich einen kleinen Gasthof, der mir geeignet schien, mich für die Nacht zu beherbergen. Ich fand ein Zimmer, das meinen Wünschen durchaus entsprach: Zwei Fenster, die auf einen Obstgarten blickten, hellgetünchte Wände, deren Kahlheit durch ein paar kolorierte Stahlstiche – der Fürst auf der Jagd, eine Ansicht der Stadt aus der Zeit ihrer Gründung um 1800, das Schloß – unterbrochen wurde, ein brauner Kachelofen, zwei Korbsessel vor einem runden Tisch, auf dem ein Strauß Astern stand. Ich trug mich in ein Gästebuch ein, das neben Namen und Beruf die ungewöhnliche Rubrik: »Zweck des Aufenthaltes« aufwies, die mich einiges Nachdenken kostete und in meiner damaligen Verfassung nicht mit »geschäftlich« oder »Erholungsreise« abzutun war. Ich war der Meinung, daß ich auch diesmal auf den Grund gehen müsse, und schrieb, nachdem ich mein Kännchen Kaffee geleert und zwei Stück Zwetschgenkuchen zu mir genommen hatte, schließlich mit Bedenken: »Besuch von Freunden«.

Ich war unschlüssig, ob es wohl passend sein mochte, der Ärztin ein paar Blumen mitzubringen. Ich unterließ es, um meinem Besuch nicht von vornherein den Anschein eines Kondolenzbesuches zu geben, außerdem sah ich keinen Blumenladen. Ich ging die kurze Strecke zum Kirchplatz zurück und zog die Nachtglocke, da die Haustür verschlossen war. Man ließ mich nicht lange warten. Schritte kamen eine Treppe herunter, ich legte mir den ersten, schwierigen Satz zurecht, da wurde die schwere Haustür bereits aufgezogen; ich half ein wenig nach und fand mich einer Frau im weißen Kittel gegenüber, die einen Patienten erwartet haben mochte und die dem Fremden abwartend, um nicht zu sagen kühl, entgegensah.

Auch bei ihr kam mir mein Aussehen zustatten. Auch sie war sich sofort darüber im klaren, daß ich nicht irgendeiner war, den man unter der Haustür abfertigen konnte. Sie bat mich herauf, nachdem ich meinen Namen genannt und sie um eine Unterredung gebeten hatte. Sie hieß mich in einen Raum eintreten, der wohl ihr Wohnzimmer war, während sie selbst für kurze Zeit hinter einer anderen Tür verschwand. Eine Reihe von Blattpflanzen, lieblos auf einem Holzgestell, das seine Arme ungeschickt zur Seite streckte, abgesetzt, machten den Raum kühler, anstatt ihn, wie es beabsichtigt sein mochte, wohnlich zu machen. Es war das einzig Überflüssige in dem Zimmer und störte darum seine Sachlichkeit.

Ohne der Aufforderung nachzukommen, einstweilen Platz zu nehmen, stand ich, Hut und Handschuhe in der Hand, in der Mitte des Zimmers und hörte zu, wie die nahe Kirchturmuhr schlug, und betrachtete das Pastellbild eines braunhaarigen Knaben, das in einem ovalen Rahmen zwischen den beiden Fenstern hing. Es lag nahe, daß das Bild jenen Reinhold darstellte, der ihr die Lieder aus dem Felde geschrieben hatte. Unwillkürlich war ich einen Schritt näher gegangen und hatte mich darum zu entschuldigen, als Frau Dr. Lenz durch eine Nebentür das Zimmer wieder betrat. Übrigens erleichterte mir die Frage nach dem Bild den Übergang zu meinem Anliegen.

Frau Dr. Lenz trug jetzt ein Kostüm, das korrekt und nichtssagend wie ein Berufskleid wirkte. Um diese Wirkung zu erzielen, hätte sie den Kittel nicht abzulegen brauchen. Ihr blondgraues Haar war auf ungefällige Weise straff nach hinten gekämmt. Sie schien sich nicht zu lieben; sie schien sich selbst gleichgültig zu sein. Merkwürdig bei einer Frau, unbegreiflich bei einer Ärztin. Flüchtig dachte ich, daß einem der Nächste – von Nächstenliebe wollte ich nicht einmal reden – wenig bedeuten könnte, wenn man von sich selbst so wenig hält. Geringschätzung, wie sie aus diesem Gesicht sprach, hat immer ihren Ursprung in dem Fehlen der Liebe zu sich selbst; sie wirkt bestürzend bei einer Ärztin; in der Abgeschiedenheit der kleinen, anmutigen Stadt nahezu ungehörig.

»Gabriele Feldcamp?«

Sie dehnte den Namen. Stopfte währenddessen mit ihren mageren Fingern gewandt, aber ohne Eile eine Zigarette, deren hohles Mundstück sie mehrfach einkniff, und dann erst, aber auch jetzt ohne Eile, obwohl ich schon eine geraume Zeit mit dem brennenden Streichholz dasaß, hob sie die Zigarette und gleichzeitig den Blick zu mir. Sie hatte eigentümliche Augen. Das Graugrün der Iris getrübt und auch die unnatürlich geweiteten Pupillen ohne Glanz. Unbestechliche Augen einer Frau, die in Lüge und Leid gesehen hatten und von nichts anderem mehr zu wissen schienen. Sie atmete den Rauch langsam ein und blies ihn auf eine männliche Weise in kurzen Stößen durch die schmalen Nasenlöcher aus.

»Gabriele Feldcamp? – Ob ich sie kannte? O ja! Aber ich schätzte sie nicht. Sie war schon als junges Mädchen eine von den Frauen – aber lassen wir das.«

Sie sprach langsam, akzentuiert, stellungnehmend, während sie folgende Sätze formte:

»Ich vermute, daß Sie ein ernstes Interesse an ihr nehmen? – Nein, Sie sind mir keine Erklärung schuldig. Sagen Sie es mir, wenn ich gesprochen habe, ich würde vielleicht nicht unvoreingenommen sein. –

Hier, von diesem Fenster aus, habe ich sie zum ersten Mal gesehen.

Eines Nachmittags kam mein Sohn ganz verändert nach Hause. Er war von der Schule aus in einer Ausstellung gewesen; ich weiß heute nicht mehr, worum es sich dabei handelte, aber auch die Ausstellung hatte ihn sehr beeindruckt. Er zog mich...

Erscheint lt. Verlag 1.7.2015
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abenteuer • Abschied • Alter • Auto • Begriff • Blumen • Deutschland • England • Englisch • Entwicklung • Erbe • Ereignis • Erinnerung • Familie • Folge • Frankreich • Frau • Frauen • Freundschaft • Gegenwart • Geheimnis • geschehen • Geschichte • Gesundheit • Grammatik • Heinrich • Held • Humor • Jahrhundert • Krankheit • Kultur • Kunst • Leben • Lebenskrise • Leiche • Leser • Licht • Liebe • liegt • Loslassen • Mann • Männer • Mark • Markt • Maschine • Menschen • menschliche • Modern • Mord • Neue • Person • Polizei • Privat • Raum • Recht • Reihe • Reise • Roman • Schuhe • Schuld • Seele • Seite • Spannung • Sterben • Suche • Titel • Tod • Tode • Todes • Toten • Umgang • Unfall • Unterschied • Ursache • Vergangenheit • Verkehr • Verstand • Verstorbene • Welt • Weltkrieg • Zeit • zugleich • Zukunft • Zweiten
ISBN-10 3-8437-0385-X / 384370385X
ISBN-13 978-3-8437-0385-7 / 9783843703857
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