Sprache und Kritische Theorie (eBook)

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2016 | 1. Auflage
356 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-43270-0 (ISBN)

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Sprache und Kritische Theorie -
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Welche Rolle spielt Sprache für eine kritische Theorie? Die Beiträger beantworten diese Frage vor dem Hintergrund gegenwärtiger Diskussionen in der Sprach- und Sozialphilosophie. Sie zeichnen so ein Bild epistemologischer, kommunikativer, sozialer und normativer Gefahren und Potenziale der Sprache. Mit Beiträgen von Robert B. Brandom, Alexander G. Düttmann, Martin Seel u.a.

Philip Hogh, Dr. phil., ist wiss. Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Oldenburg. Stefan Deines, Dr. phil., ist Postdoctoral Fellow an der University of Macau.

Philip Hogh, Dr. phil., ist wiss. Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Oldenburg. Stefan Deines, Dr. phil., ist Postdoctoral Fellow an der University of Macau.

Vorwort
Mit der kommunikationstheoretischen Wende, die Jürgen Habermas vor nunmehr beinahe vierzig Jahren der Kritischen Theorie gegeben hat, ist die Form und Verfasstheit unserer Sprache zu einem zentralen Gegenstand dieser heute maßgeblich von ihm repräsentierten Tradition geworden. Allerdings wäre es falsch, daraus zu schließen, die menschliche Sprache hätte seine Vorgänger überhaupt nicht oder nur am Rande beschäftigt; von den frühen Texten Theodor W. Adornos und Walter Benjamins bis hin zu einigen Ausführungen des späten Max Horkheimer zieht sich eine kontinuierliche Linie durch das Schrifttum dieser Schule, an der unschwer zu erkennen ist, dass die sprachliche Verfasstheit unserer Beziehung zur Welt immer schon ein wesentlicher Gegenstand ihrer kritischen Bemühungen gewesen ist. Gewiss, die Stellung und die Rolle der Sprache hat sich im Laufe der intellektuellen Entwicklung der Kritischen Theorie erheblich verändert; galt sie in den Anfängen eher als das Medium, das uns aufgrund seiner begrifflichen Struktur einen qualitativen Zugang zur Wirklichkeit zu versperren droht, so wird sie mit Habermas kraft ihres kommunikationsstiftenden Vermögens zum Träger und Garanten moralischer Ansprüche unter den Menschen. Aber dieser Bedeutungswandel ändert nichts daran, dass die Beschaffenheit und der historische Zustand der menschlichen Sprache von Beginn an ein untergründiges Schlüsselthema der Frankfurter Schule gebildet hat: ob nun in Reflexionen über den angemessenen Stil der eigenen Schriften oder in sachbezogenen Abhandlungen, der Sprache waren viel mehr Arbeiten gewidmet, als man lange Zeit angenommen hatte.
Es ist das große Verdienst der beiden Herausgeber des vorliegenden Bandes, Philip Hogh und Stefan Deines, den damit umrissenen Spannungsbogen zum Thema einer Konferenz gemacht zu haben, deren wesentliche Beiträge sich hier versammelt finden. Zum ersten Mal wird in diesem Sammelband, wenn ich es richtig sehe, die Sprache in ihrer vielfältigen Bedeutung für die Kritische Theorie im Gesamtzusammenhang erörtert; was bislang nur gesondert abgehandelt wurde, sei es die Begriffskritik Adornos, die Sprachmystik Benjamins oder die Diskursethik von Habermas, wird darin aufeinander bezogen und damit als ein Geflecht von untergründigen Querverweisen erkennbar. Was im Lichte einer solchen Zusammenschau zutage tritt, dürfte mit Blick auf die intellektuelle Geschichte der Kritischen Theorie tatsächlich etwas Neues beinhalten: dass nämlich die Sprache nicht einen beliebigen Gegenstand des einen oder anderen Vertreters der Frankfurter Schule darstellt, sondern sie eines ihrer thematischen Zentren bildet, weil sich an ihr wie an kaum einem anderen Medium die Möglichkeiten und Grenzen unserer Bemühungen um eine vernünftige Einrichtung der Welt spiegeln; an der jeweiligen Verfassung unseres sprachlichen Weltbezugs soll sich im Guten oder im Schlechten ablesen lassen, wie es um unsere gesellschaftlichen Beziehungen bestellt ist. Es ist diese These, die die beiden Her­ausgeber in ihrer Einleitung als roten Faden benutzen, um daran Absicht und Inhalt des Bandes zu erläutern; die Umsicht und Genauigkeit, die sie dabei walten lassen, erübrigt es, ihren Ausführungen noch weitere einführende Bemerkungen zur Seite zu stellen. Mir bleibt nur, Philip Hogh und Stefan Deines an dieser Stelle für ihre Initiative zu danken; zudem dürfte es keine leichte Aufgabe gewesen sein, die Beiträge der von ihnen organisierten Konferenz kritisch durchzusehen und für den in unserer Reihe veröffentlichten Aufsatzband zusammenzustellen. Dessen Bedeutung für eine Vergewisserung über Aufgabe und Stand der Kritischen Theorie dürfte außer Frage stehen.
Axel Honneth
Frankfurt am Main, im Januar 2016
Sprache und Kritische Theorie.
Zur Einleitung
Philip Hogh und Stefan Deines
Für die Geistes- und Sozialwissenschaften im Allgemeinen und für die Philosophie im Besonderen ist die Sprache im 20. Jahrhundert zu einem der zentralen Begriffe geworden. Der durch Frege und die frühe analytische Philosophie angestoßene linguistic turn ließ in der Folge kaum eine geistes- und sozialwissenschaftliche Disziplin und kaum eine Richtung der Philosophie unberührt. Ludwig Wittgensteins Früh- und Spätphilosophie, der Wiener Kreis, Ferdinand de Saussure und der Strukturalismus, Martin Heideggers Fundamentalontologie, Hans-Georg Gadamers Hermeneutik, John L. Austins Sprechakttheorie, Jacques Derridas Dekonstruktion, Judith Butlers Gendertheorie sowie die verschiedenen Spielarten der (post)analytischen angloamerikanischen Philosophie etwa von Donald Davidson, Richard Rorty, Robert B. Brandom oder John McDowell - all diese höchst unterschiedlichen philosophischen Ansätze gewinnen ihre Spezifik durch eine Auseinandersetzung mit der Rolle der Sprache für die menschliche Lebensform.
Spätestens mit der 1981 von Jürgen Habermas veröffentlichten Theorie des kommunikativen Handelns wurde auch in der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule die Wende zur Sprache in dem Sinne vollzogen, dass Sprache von nun an nicht mehr nur allein als ein Gegenstand unter vielen Gegenständen der Kritischen Theorie erschien, sondern ihre Grundlage darstellte. Nach dem von Habermas explizit als solchen bezeichneten Paradigmenwechsel von der Bewusstseins- zur Sprachphilosophie sollte sich die Kritische Theorie an den normativen Strukturen der Sprache und kommunikativer Handlungen orientieren, um die Maßstäbe der Gesellschaftskritik auszuweisen. Habermas ging es darum, im gesellschaftlichen Leben neben all den Fehlentwicklungen und Deformationen, die die ältere Kritische Theorie Theodor W. Adornos, Walter Benjamins, Max Horkheimers und Herbert Marcuses aufgedeckt und kritisch beschrieben hat, im Sprechen als Grundlage des gesellschaftlichen Austausches eine Form unhintergehbarer Vernünftigkeit auszumachen, die von nun an als Maßstab der Kritik gelten konnte. Es gelang ihm so nicht nur, die Frage nach der Möglichkeit von Kritik nach dem von Adorno und Horkheimer pessimistisch festgestellten 'universalen Verblendungszusammenhang' (Adorno 1997 [1966]: 397) wieder positiv zu beantworten, sondern es war aus seiner Sicht nun auf einer erneuerten Grundlage auch möglich, die Kritische Theorie an aktuelle Fragen der philosophischen und sozialwissenschaftlichen Forschung anzuschließen.
Doch auch vor dieser kommunikativen Wende war Sprache in den Schriften der Vertreter der älteren Kritischen Theorie bereits ein durchaus präsentes und bedeutsames Thema. Zwar fungiert Sprache bei Adorno, Benjamin und Horkheimer nicht explizit als die Dimension gesellschaftlicher Realität, durch deren rationale Rekonstruktion sich ein normativer und ra­tio­naler Maßstab der Kritik gewinnen ließe. Aber sie spielt in den verschiedenen Ansätzen sowohl in der Erkenntnis- und Gesellschafstheorie als auch in der Geschichts- und Kunstphilosophie eine zentrale Rolle, einerseits - negativ - als potentielle Quelle von Ideologie, Unterdrückung und Verdinglichung, andererseits aber auch - positiv - als normative Bezugsgröße und Medium von Kritik. Von Benjamins Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen und Die Aufgabe des Übersetzers über die in Auseinandersetzung damit entstandenen Thesen über die Sprache des Philosophen Ador­nos, Horkheimers Kopula und Subsumtion und die sich daran anschließenden Diskussionen mit Adorno, die sich bis in die Dialektik der Aufklärung hinein fortgesetzt haben, Adornos Reflexionen über das Verhältnis von Sprache, Darstellung und Rhetorik in Der Essay als Form und in der Negativen Dialektik bis zu seinen umfassenden Überlegungen zum Sprachcharakter der Kunst und vor allem der Musik in Musik, Sprache und ihr Verhältnis im gegenwärtigen Komponieren und in der Ästhetischen Theorie finden sich in der Kritischen Theorie bereits vor ihrer kommunikativen Wende eine Vielzahl von sprachphilosophischen Arbeiten und Motiven.
Die systematische Bedeutung dieser sprachphilosophischen Überlegungen ist in ihrer ganzen Tragweite heute erst noch zu bestimmen. Denn die Wirkmächtigkeit des von Habermas vollzogenen kommunikationstheoretischen und sprachpragmatischen Paradigmenwechsels führte auch dazu, dass die Thematisierungen der Sprache in den Arbeiten der älteren Kritischen Theorie in der Sprachphilosophie und der Sozialphilosophie eine nur geringe Aufmerksamkeit fanden. In der Rezeption verfestigte sich der Eindruck, dass die Sprache bei den Vertretern der älteren Kritischen Theorie aufgrund der marginalen Stellung der intersubjektiven und verständigungsorientierten Dimension entweder eine magisch-theologisch übersteigerte Funktion als Fluchtpunkt des Versöhnungsdenkens einnehme oder aber eine lediglich untergeordnete Rolle spiele und allenfalls als ästhetisches Medium von Interesse sei. Entsprechend fanden vor allem Adornos und Benjamins sprachphilosophische Überlegungen zwar Eingang in literaturwissenschaftliche und kunstphilosophische Diskussionen und waren dort höchst einflussreich, blieben aber in den dezidiert sprachphilosophischen und gesellschaftstheoretischen Diskussionen, die in den ersten Jahren nach der Veröffentlichung der Theorie des kommunikativen Handelns stattfanden, mehr oder weniger unbeachtet.
Trotz einer Anzahl jüngerer Studien besteht bis heute ein Rezeptionsdefizit dahingehend, dass die Fülle dieser sprachphilosophischen Arbeiten für die systematische Ausrichtung der Kritischen Theorie nach dem linguistic turn noch der Erschließung bedarf. Denn erst aus einer Perspektive, die einerseits auf der Höhe der jüngeren sprachphilosophischen Debatten ist und über ein theoretisches Instrumentarium zur Beschreibung und Beurteilung der semantischen, pragmatischen, performativen und rhetorischen Aspekte der Sprache verfügt und die andererseits den produktiven Ertrag, aber auch die Grenzen und Desiderate des kommunikationstheoretischen Paradigmas abzuschätzen weiß, besteht die Möglichkeit für eine fundierte Entscheidung darüber, welche Aspekte dieser Arbeiten tatsächlich überholt sind und mit welchen sich gerade entgegen der bisherigen Rezeption produktiv weiterarbeiten lässt. Nur aus einer solchen Perspektive nämlich lässt sich verlässlich einschätzen, welche Thematisierungen von Sprache der älteren Kritischen Theorie auf sprachphilosophisch obsoleten Annahmen beruhen, welche sich im Rahmen einer verständigungsorientierten Position reformulieren lassen und welche Einsichten formulieren, die über den Rahmen der Diskurstheorie hinausgehen und damit als Ergänzung oder Alternative verstanden werden können.
In den jüngsten Ansätzen der Kritischen Theorie scheint nun Sprache keine prominente systematische Bedeutung mehr zuzukommen. Axel Honneth etwa hat eine Wende vom Verständigungs- zum Anerkennungsparadigma vollzogen und hält die verschiedenen Dimensionen gegenseitiger Achtung und Wertschätzung in genetischer und normativer Hinsicht für grundlegender als die kommunikativen Relationen (vgl. Honneth 2004: 109). Die Kritische Theorie gewinne die normativen Orientierungspunkte durch eine rationale Rekonstruktion der Anerkennungsordnung einer Gesellschaft und nicht der Struktur verständigungsorientierten Handelns. Und auch in anderen jüngeren Ansätzen in der Tradition der Kritischen Theorie - etwa in der kantianisch inspirierten Theorie eines Rechts auf Rechtfertigung von Rainer Forst oder in Rahel Jaeggis auf Hegel zurückgehender Explikation einer immanenten Kritik von Lebensformen - spielt die Dimension der Sprache eine lediglich marginale Rolle. Sowohl die methodologische Verständigung über normative Grundlagen und kritische Potentiale als auch die Diagnose der Gefahren von sozialen Pathologien und Ideologien lassen sich diesen Positionen zufolge durchführen, ohne die Eigenschaften und Strukturen von Sprache und Verständigung in einer besonderen Weise in den Blick zu nehmen.
Vor diesem Hintergrund einer Wende weg vom Sprachparadigma ist es sinnvoll, sich (gleichsam in der Rückschau) noch einmal über die systematische Rolle von Sprache und Kommunikation für eine Kritische Theorie zu verständigen. Angesichts der Tatsache, dass die Reflexion auf Sprache in der Tradition der Kritischen Theorie - bei Habermas, aber eben auch bei den Vertretern der älteren Kritischen Theorie - stets ein zentraler Bezugspunkt war, drängt sich die Frage auf, ob nicht mit der fast vollständigen Ausblendung der Dimension von Sprache und Verständigung theoretische Einsichten aus dem Blick geraten, die wichtige Ressourcen für das Projekt der Kritischen Theorie insgesamt darstellen können. Insbesondere drei Aspekte scheinen hier von maßgeblicher Bedeutung zu sein:
a) Sprache, Erkenntnis und Welterschließung: Seit Benjamins frühen Aufsätzen wird Sprache in der Kritischen Theorie als ein Medium thematisiert, das welterschließende Kraft besitzt und uns Aussichten auf und Erkenntnisse über die Welt und andere ermöglicht. Bereits früh war die erkenntnistheoretische Ausrichtung mit einer ethischen Dimension verknüpft: Erkenntnis bedeutet in diesen Konzeptionen nicht nur, mehr oder weniger zutreffende Meinungen über die Welt zu gewinnen, sondern den Personen und Dingen in ihrer Individualität gerecht zu werden. Insofern Erkenntnis in dieser Weise als anerkennende Erkenntnis verstanden wird, ist Sprache als Erkenntnismedium immer auch im Fokus der Frage nach richtigen gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen sich das Einzelne und Individuelle entweder entfalten und als solches akzeptiert werden kann oder aber dominiert und allgemeinen und externen Strukturen unterworfen wird. Damit rückt die Struktur der Sprache in den Fokus der kritischen Gesellschaftstheo­rie, weil der jeweilige historische Stand ihrer Kategorien und Verknüpfungsmuster (die als abhängig von anderen politischen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen und Praktiken gedacht werden) darüber entscheidet, was und wie viel im Rahmen der sozialen Welt sichtbar, artikulierbar und lebbar ist. Eine kritische Analyse von Logik und Struktur der Sprache wird so zu einer bedeutsamen Aufgabe Kritischer Theorie: Wenn Sprache und ihre verschiedenen Verwendungsweisen als historisch wandelbar und als abhängig von anderen sozialen und gesellschaftlichen Verhältnissen gedacht werden, kann zwischen besseren und schlechteren Ausformungen - das heißt solchen, die es ermöglichen, den Objekten der Erkenntnis in ihrer Individualität zu begegnen, und solchen, die mit ideologischen Verzerrungen und Tendenzen der Verdinglichung einhergehen - unterschieden werden. Die Frage nach der richtigen Einrichtung der Gesellschaft ist aus dieser Warte mit der Frage nach der angemessenen Sprache und ihrem angemessenen Gebrauch aufs engste verknüpft.
Auch für Habermas ist diese Aufgabe einer Evaluierung der sprachlichen Dimension einer Gesellschaft in Bezug auf ihre erschließende und Erkenntnis ermöglichende oder aber ihre verdeckende und ideologische Funktion zentral. Mit den Modi der strategischen Kommunikation sowie der systematisch verzerrten Kommunikation diagnostiziert Habermas Verwendungsweisen und Konfigurationen von Sprache und Verständigungsverhältnissen, die die epistemische Bedeutung der Sprache konterkarieren. Weil Habermas diesen Aspekt der Kritik aber auf der Basis einer sprachpragmatisch und kommunikativ gewendeten Konzeption der Sprache erläutert, unterscheidet er sich von der früheren Kritischen Theorie in der Einschätzung darüber, wie fundamental die verzerrende und verdinglichende Gewalt der Sprache anzusetzen ist. Während Benjamin, Adorno und Horkheimer dazu tendieren, den 'Sündenfall' einer verzerrenden, abschneidenden und zurichtenden Wirkung von Sprache bereits in den basalen Formen des Zeichens beziehungsweise des Allgemeinbegriffs zu verorten, rekonstruiert Habermas die jeglichem Sprechen implizite Normativität, der zufolge jede sprachliche Äußerung notwendig mit der kontrafaktischen Annahme einer von Gewalt und Manipulation freien Sprechsituation einhergeht, in der aufgrund des zwanglosen Zwangs des besseren Arguments ein Konsens zwischen gleichberechtigten und rationalen Kommunikationsteilnehmerinnen erzielt werden kann. Hierarchische, manipulative und ideologische Aspekte der Sprache resultieren damit nicht aus ihrer basalen Form oder Struktur, sondern lassen sich im Gegenteil als abkünftige Verwendungsweisen von Sprache verstehen, die der konstitutiven Normativität und dem verständigungsorientierten Telos der Sprache widerstreiten.
b) Sprache als Bezugspunkt normativer Orientierung: Aufgrund ihrer potentiell beherrschenden, ideologischen und reifizierenden Wirkungen ist die Dimension der Sprache also einerseits einer der Gegenstände von Kritik, aber sie dient andererseits auch als die Quelle der Normativität, auf die sich die Kritische Theorie in ihren wertenden Diagnosen beziehen kann. Es ist (wie bereits erwähnt) Habermas' erklärtes Programm, die für die Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse maßgeblichen Werte und Normen nicht (mehr) in marxistischer Tradition in Bezug auf Konzeptionen von Arbeit und Produktion zu bestimmen, sondern aus einer Rekonstruktion der quasitranszendentalen Bedingungen der Möglichkeit von Sprache und Verständigung zu gewinnen. Sprecher haben sich als Teilnehmerinnen an intersubjektiver Kommunikation (in der Übernahme der Geltungsansprüche der Wahrheit, der Richtigkeit und der Wahrhaftigkeit) immer schon implizit auf Normen festgelegt, deren Geltung die faktische Gesprächssituation und den realen sozialen Kontext transzendiert, womit sich in der Rekonstruktion der faktisch realisierten kommunikativen Praktiken normative Maßstäbe explizieren lassen, mit denen die gesellschaftlichen Praktiken selbst wiederum kritisch bewertet werden können.
Doch nicht nur bei Habermas, sondern bereits in den Ansätzen der frühen Kritischen Theorie wird Sprache häufig (und in unterschiedlicher Weise) als ein Bezugspunkt normativer Orientierung thematisiert. Deutlich ist dies in Benjamins kabbalistisch inspirierter Sprachtheorie der Fall, in der die paradiesische Sprache das Signum eines Zustands der Versöhnung darstellt, in dem Gott, die Menschen und die Natur in einem harmonischen, vollständig anerkennend-erkennenden Verhältnis miteinander stehen, und in der die kritische Diagnose von sozialen Verwerfungen und Entzweiungen in der aktuellen gesellschaftlichen Wirklichkeit in Bezug auf den Abstand von diesem normativen Ideal der Versöhnung vollzogen wird. Auch in den Ausführungen zur Logik des Namens und zur mimetischen Dimension der Sprache bei Adorno und Horkheimer finden sich noch Aspekte dieses messianischen Sprachkonzepts: Sprache wird vorrangig in Bezug auf ihre Fähigkeit erörtert, durch ihre mimetischen und expressiven Potentiale eine Erkenntnis zu befördern, die den Verfälschungen abstrahierenden und instrumentellen Denkens entgeht. Aber auch in der frühen Kritischen Theorie werden bereits die normativen Aspekte der intersubjektiven und kommunikativen Dimension der Sprache herausgestellt, wenn konstatiert wird, dass mit Sprache und Sprechen notwendig die Idee eines Vereins freier und gleicher Menschen gesetzt ist.
Die normative Erörterung von Sprache in der Tradition der Kritischen Theorie arbeitet Formen der Rationalität heraus, die sich gegen pathologische oder defiziente Ausprägungen der Vernunft in Stellung bringen lassen: So wird unverzerrte Rationalität zum einen als ein sensitives und offenes Weltverhältnis konzipiert, das den Menschen und Dingen in ihrer Eigenheit und Besonderheit gerecht wird und damit ein Korrektiv zu den dominierenden Verfügungen einer rein instrumentellen Vernunft darstellt; zum anderen wird sie als eine kommunikative Vernunft verstanden, in der sich die Menschen als rationale und gleichberechtigte Wesen gegenübertreten, die für Gründe empfänglich sind und sich gegenseitig für ihre Überzeugungen und Handlungen rechtfertigen. Die kommunikative Vernunft ist von Formen der Herrschaft, Kontrolle und Meinungsbildung bedroht, die nicht durch Gründe im Rahmen diskursiven Austauschs legitimiert sind.
Wie rational die menschliche Lebensform und die menschlichen Praktiken sind, hängt für die Kritische Theorie vom jeweiligen historischen Stand der Vergesellschaftung ab. Die Überlegungen, die sich diesbezüglich über den Zusammenhang von Sprache und Rationalität in der Kritischen Theorie finden lassen, drehen sich deshalb auch um die Frage, ob die verdinglichenden Tendenzen im Spätkapitalismus so weit gehen, dass auch die fundamentalen Strukturen von Sprache und Rationalität als verdinglicht und verdinglichend zu betrachten sind, oder ob Sprache und Rationalität ein überhistorischer Status zukommt, von dem her die gesellschaftlichen Verstellungen spezifischer sprachlicher Handlungen erst kritisiert werden können.
c) Sprache als Medium der Kritik: Kritische Theorie operiert selbst im Medium der Sprache und die Thematisierungen der Strukturen und Formen der Sprache dienen daher häufig auch der Reflexion auf die Möglichkeiten und Grenzen der eigenen Darstellungs- und Ausdrucksmittel. Vor allem Ador­no hat mit seiner Analyse der ästhetischen und rhetorischen Aspekte der Sprache die Frage nach einer den Zielen Kritischer Theorie adäquaten Form philosophischen Schreibens aufgeworfen. Zum einen werden sowohl die Großentwürfe philosophischer Systeme nach dem Vorbild des deutschen Idealismus als auch die Versuche einer am Modell der Naturwissenschaften orientierten Beschreibung kritisiert, da beide (in der Folge von Descartes' Ausführungen zur Methode) auf der Illusion der Möglichkeit einer umfassenden und vollständigen Darstellung und einer lückenlosen nomologischen Erklärung der menschlichen Welt basieren. Dagegen werden beispielsweise mit Essay, Fragment und Aphorismus Formen der theoretischen Auseinandersetzung und Darstellung erprobt, die einer sich historisch wandelnden und von Spannungen und Widersprüchen durchdrungenen gesellschaftlichen Wirklichkeit angemessener seien.
Zum anderen stellen sich in diesem Zusammenhang aber auch Fragen der Form, die mit der besonderen (reflexiven) Struktur des Projekts einer Kritischen Theorie zusammenhängen. Denn Kritische Theorie dient nicht allein der objektiven Repräsentation gesellschaftlicher Strukturen und Zusammenhänge, sondern ist darüber hinaus eingreifend auf deren kritische Bewertung und gegebenenfalls deren Veränderung hin zu einem besseren Zustand ausgerichtet. Damit richten sich die Schriften der Kritischen Theorie potentiell auch an die Leserinnen in ihrer Rolle als wertende und handelnde Mitglieder der Gesellschaft: indem an ihre normative Haltung appelliert oder diese erweitert und sensibilisiert werden soll oder indem motivationale Kräfte erzeugt werden sollen, die in der Konsequenz zu kritischem Einspruch und zu einer Veränderung der gesellschaftlichen Praxis führen können. Es stellt sich die Frage, inwieweit Kritische Theorie in ihren Texten auf narrative Muster oder rhetorische Verfahren der Übertreibung und Zuspitzung zurückgreifen darf und soll, um dieser auf eine transformierte Haltung und Praxis gerichtete Aufgabe der Theorie gerecht zu werden. Solche reflexiven Thematisierungen der Bedeutung formaler Aspekte des Gebrauchs von Sprache finden sich häufiger in der früheren Kritischen Theorie als in den späteren Positionen. Die dahinterstehenden Fragen resultieren aber mit einer gewissen Notwendigkeit aus den basalen methodischen Weichenstellungen des Projekts der Kritischen Theorie und dem damit einhergehenden besonderen Verhältnis von Theorie und Praxis.
Diese grundsätzlichen Fragen nach dem Weltverhältnis und den Bedingungen von Erkenntnis, den normativen Maßstäben und den Formen von Rationalität sowie den formalen Aspekten der Vermittlung und Adressierung prägen die Tradition der Kritischen Theorie, und sie sind nach wie vor höchst aktuell. Die Antworten, die gegeben wurden, sind dabei durchaus unterschiedlich und der mit der Theorie des kommunikativen Handelns vollzogene linguistic turn stellt tatsächlich eine deutliche Zäsur im Umgang mit den sprachphilosophischen Themen dar. Statt sich auf die paradigmatischen Differenzen zu konzentrieren und so beispielsweise die Ansätze der späteren schlicht gegen die der früheren Kritischen Theorie auszuspielen, dürfte es aber produktiver sein (und viele der Beiträger dieses Bandes teilen diese Einschätzung), die Gemeinsamkeiten und Differenzen der unterschiedlichen Theorien genauer zu analysieren und so Aspekte herauszuarbeiten, in denen sie sich wechselseitig korrigieren, ergänzen und befruchten können.
So lässt sich zwar eine grundlegende Differenz bezüglich der Konzep­tionen von Sprache feststellen, mit denen die verschiedenen Ansätze jeweils operieren. Eine vorrangig am Subjekt-Objekt-Verhältnis orientierte Theorie, die die erkenntnistheoretischen Spannungen zwischen Name und Allgemeinbegriff, zwischen ästhetischem und wissenschaftlichem Sprachgebrauch auslotet, steht einer Theorie gegenüber, die die intersubjektive und pragmatische Struktur der Sprache und die mit unterschiedlichen Sprechakten erhobenen Geltungsansprüche in den Blick nimmt. In den sprachphilosophischen Grundlagen finden sich damit auf den ersten Blick nur wenige Gemeinsamkeiten. Aber statt allein solche grundsätzlichen Differenzen zu konstatieren, lohnt es sich, die verschiedenen Konstellationen sprachlicher Aspekte und die unterschiedliche Gewichtung der verschiedenen sprachlichen Funktionen zu betrachten, wie sie in den jeweiligen Theorien zu finden sind. So lässt sich in einem wechselseitigen Vergleich gewinnbringend diskutieren, wie der Zusammenhang der Dimension der Sprache mit den Dimensionen von Welt, Subjektivität, Normativität und gesellschaftlichen Praktiken und Institutionen angemessen zu fassen ist und wie sich die oben genannten grundlegenden Fragen Kritischer Theorie am besten beantworten lassen.
Betrachtet man die Sprache in dieser Weise - um es mit einem Wort Adornos zu sagen - als 'Kraftfeld', in Bezug auf das sich verschiedene Facetten menschlichen In-der-Welt-Seins und verschiedene gesellschaftliche Zusammenhänge erörtern lassen, zeigt sich, in welcher Weise die unterschiedlichen sprachphilosophischen Ansätze der Tradition der Kritischen Theorie in eine produktiv-kritische Auseinandersetzung gebracht werden können. Dies betrifft zum Beispiel das Verhältnis von Semantik und Pragmatik sowie das Gewicht, das dem repräsentativen, dem kommunikativen, dem expressiven und dem welterschließenden Aspekt der Sprache jeweils zukommt.
Deutlich ist, um ein Beispiel zu geben, dass sich gewisse problematische Aspekte, die sich aus der einerseits messianischen, andererseits bewusstseinsphilosophischen Herkunft des Sprachdenkens der frühen Kritischen Theorie ergeben, überwinden lassen, wenn sich die intersubjektiven und kommunikativen Aspekte, die sich in diesen Ansätzen auch finden, aus einer habermasschen Perspektive stärker akzentuiert und systematisch erläutert werden. Damit wird zum einen ein facettenreicheres Bild von Sprache gezeichnet, das neben der repräsentativen Funktion der Sprache auch die unterschiedlichen Dimensionen sprachlichen Handelns berücksichtigt; zum anderen werden die normativen Aspekte von Freiheit, Gleichberechtigung und Anerkennung im Verhältnis der Subjekte unterstrichen, die in einer vorrangig am Objekt orientierten Konzeption der Sprache nicht zur Genüge beachtet werden.
Albrecht Wellmer hat hingegen bereits früh darauf hingewiesen, dass in Adornos Überlegungen zur Sprache nach wie vor 'Schätze' zu heben seien, mit denen sich das kommunikationstheoretische Paradigma der Sprache ergänzen und erweitern ließe (Wellmer 1993: 234). Danach ist es gerade die Objektorientierung in Adornos Sprachphilosophie, die in Habermas' Theorie nicht vollständig rekonstruiert werden kann, insofern es die individuelle Besonderheit der Dinge, Personen und historischen Konstellationen ist, die die poetischen Kräfte und die welterschließende Dynamik der Sprache in Gang setzt, indem stets neue Begriffe und Ausdrucksformen gefunden werden müssen, um das bisher noch nicht Sagbare, mit dem wir uns konfrontiert sehen, zu artikulieren. Dieser welterschließende Aspekt der Sprache ist in der jüngeren Kritischen Theorie weniger thematisiert worden, obwohl er mit einer der Fragen verbunden ist, die für Kritische Theorie insgesamt von zentralem Interesse ist: inwieweit sich nämlich die historischen gesellschaftlichen Veränderungen einem Prozess des begründeten diskursiven Austauschs verdanken und inwieweit sie auf der (unbegründeten und insofern kontingenten) poetischen Erschaffung neuer expressiver und begrifflicher Mittel beruhen.
Insgesamt hat der expressive Charakter der Sprache seit dem linguistic turn in der Kritischen Theorie eine nur noch untergeordnete Rolle gespielt, obwohl sich auf diesem Feld ästhetische, epistemische sowie subjektivitäts- und leiblichkeitstheoretische Fragestellungen in einer produktiven Weise überschneiden. Einerseits finden sich in der Tradition der Kritischen Theorie Überlegungen, die den sprachlichen Ausdruck primär vom individuellen sprechenden Subjekt und seinen inneren emotionalen und psychischen Zuständen her verstehen. Die Ausdrucksqualitäten der Sprache verweisen damit auch auf die Leiblichkeit des Subjekts und auf das, was sich in seinem sprachlichen Ausdruck von seinen gesellschaftlich vermittelten Erfahrungen zeigt, ein Aspekt, der in der frühen Kritischen Theorie vor allem unter Bezug auf die Psychoanalyse bearbeitet worden ist. Andererseits finden sich Überlegungen, in denen das Expressive in ästhetischen Kontexten nicht primär als Ausdruck von einzelnen Menschen, sondern von Kunstwerken verstanden wird, als Artikulation der Spannungen und Kräfte einer gesellschaftlichen Konfiguration als ganzer. Von den expressiven Potentialen der Sprache her lässt sich exemplarisch zeigen, wie in der Kritischen Theorie Ästhetik, Sozial­philosophie und Rationalitätstheorie zusammengedacht werden können.
Für viele sprachphilosophische Aspekte erweist sich, wie diese kurzen Bemerkungen zeigen, eine vergleichende Diskussion der unterschiedlichen Konzeptionen und Konstellationen in den verschiedenen Positionen der Kritischen Theorie als produktiv. Darüber hinaus ist es aber für eine angemessene Erörterung der Bedeutung der Sprache für die menschliche Lebensform im Allgemeinen sowie für eine daraus resultierende Beantwortung der skizzierten systematischen Grundfragen des Projekts einer Kritischen Theorie mit Bezug auf sprachliche und kommunikative Strukturen im Besonderen notwendig, nicht nur die sprachtheoretischen Schriften zu berücksichtigen, die von Vertretern der Kritischen Theorie vorgelegt wurden, sondern darüber hinaus in einen Austausch mit anderen geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen und anderen sprachphilosophischen Theorien zu treten.

Erscheint lt. Verlag 8.4.2016
Reihe/Serie Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie
Co-Autor Jay M. Bernstein, Georg W. Bertram, Robert B. Brandom, Julia Christ, Stefan Deines, Alexander Garcia Düttmann, Philip Hogh, Julia König, Johann Kreuzer, Hannes Kuch, Jan Müller, Stefan Müller-Dohm, Martin Seel, Sebastian Tränkle
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Adorno • Benjamin • Habermas • Kritische Theorie • Linguistic turn • Sozialphilosophie • Sprachphilosophie
ISBN-10 3-593-43270-6 / 3593432706
ISBN-13 978-3-593-43270-0 / 9783593432700
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