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Eine Welt von Schnee (eBook)

eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
144 Seiten
Arche Literatur Verlag AG
978-3-03790-079-6 (ISBN)
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Jedes Jahr zu Weihnachten hoffen wir erneut, dass Schnee fällt und Stadt wie Land weiß verhüllt. Schnee bringt eine Entschleunigung mit sich, sorgt dafür, dass um uns herum eine Winterstille entsteht, in der wir zur Ruhe kommen. Schnee verheißt aber auch Vergnügen - Schlittenfahren, Skilaufen, Wandern, Schneeballschlachten, Schneemänner bauen. Am schönsten ist es, wenn die Sonne scheint und alles glitzert und leuchtet. Doch wenn die weiße Pracht wieder verschwindet, überlässt sie uns Matsch und Nässe, Glätte und Dunkelheit. Was verbinden wir Menschen mit dieser 'häufigsten Form des festen Niederschlags' und wie bestimmt er unser Leben im Winter? Komisch oder melancholisch, nostalgisch oder nüchtern, klassisch, bekannt oder sogar extra für diesen Band geschrieben: Skandinavische und deutschsprachige Autorinnen und Autoren zeigen uns ihre eigene Welt von Schnee.

Ursel Allenstein, geb. 1978, Studium der Skandinavistik, Germanistik und Anglistik in Frankfurt und Kopenhagen. Sie ist Übersetzerin aus dem Schwedischen und Dänischen. Für die Arbeit an Sara Stridsbergs Roman erhielt sie das Bode-Stipendium des Deutschen Übersetzerfonds. Ulrike Ostermeyer, geboren 1964 in Hamburg, ist gelernte Buchhändlerin und studierte Romanistik, Germanistik und Betriebswirtschaftslehre. Sie hat als Literaturagentin in London gearbeitet und ist heute Verlagslektorin in München.

Ursel Allenstein, geb. 1978, Studium der Skandinavistik, Germanistik und Anglistik in Frankfurt und Kopenhagen. Sie ist Übersetzerin aus dem Schwedischen und Dänischen. Für die Arbeit an Sara Stridsbergs Roman erhielt sie das Bode-Stipendium des Deutschen Übersetzerfonds. Ulrike Ostermeyer, geboren 1964 in Hamburg, ist gelernte Buchhändlerin und studierte Romanistik, Germanistik und Betriebswirtschaftslehre. Sie hat als Literaturagentin in London gearbeitet und ist heute Verlagslektorin in München.

Stefan Moster

Gelbes Holzhaus bei Schneefall


Zuerst glaubt man, es wird nichts, es hat nur von irgendwoher ein paar Flusen in diesen Abend geweht, doch dann lässt der Wind nach, die Flusen werden zu Flocken, die Flocken vermehren sich, immer mehr davon sinken vom Himmel, die Abstände zwischen ihnen werden kleiner, und schon ist die Luft, der Abend, das ganze Universum erfüllt von weißem Flaum. Kinderschnee, denkt man, Schnee, der Kinder erstmals die Unendlichkeit ahnen lässt und sie verlockt, dem einzelnen Bestandteil mit herausgestreckter Zunge nachzujagen, als wäre das Unendliche nur zu ertragen, wenn eine Flocke davon spürbar im Mund zergeht.

Kinderschnee, dem nicht einmal meine Mutter widerstehen konnte, obwohl es schon spät war an jenem Abend. Wir warteten auf die Rückkehr meines Vaters von einer Dienstreise, waren ungeduldig, meine Schwester und ich, weil wir mit Mitbringseln rechneten und vielleicht auch ein wenig Sehnsucht hatten, immer wieder schauten wir aus dem Fenster, und dann fing es plötzlich an zu schneien. Innerhalb kürzester Zeit überdeckte eine weiße Schicht den Garten, und nichts hielt uns mehr. Wir wollten hinaus in den Schnee, toben und fröhlich sein, schneefröhlich, es zog uns so sehr hinaus, dass sich unsere Mutter anstecken ließ und wenig später mit uns durch den Garten rannte und Schneebälle zu werfen versuchte, die zur Hälfte am Wollhandschuh hängen blieben und zur Hälfte zerfielen, sobald sie die Wurfhand verließen.

Ein solcher Kinderschnee fällt heute Abend, und obwohl nichts leiser sein kann als fallender Schnee, bewegt sich am Haus gegenüber die Gardine. Wilma spürt, dass es schneit, und da sie es sieht, erwacht ihre Sorge, denn mit der Erfahrung von sechsundachtzig Wintern weiß sie, dass es bei so dicken Flocken nicht lange dauern wird, bis zehn Zentimeter Neuschnee liegen. Vor dem Schlafengehen muss man räumen, sonst wird man, falls es in der Nacht weiterschneit, am nächsten Morgen der weißen Masse nicht mehr Herr.

Wilma blickt auf, fasst mich im erleuchteten Fenster ins Auge und weicht im selben Moment zurück, als befürchtete sie, ich könnte ihren Blick für die Aufforderung halten, sofort nach Schieber und Schaufel zu greifen.

Es würde mir nicht einfallen, so zu denken, ich habe längst beschlossen, mich bald ans Werk zu machen, denn wir haben vereinbart, dass ich die Schneearbeiten auf dem Grundstück des gelben Holzhauses und auf der Straße davor verrichte. Als ihr Mann noch lebte, fing ich irgendwann damit an, weil ich sah, dass es den Greis überforderte, den Weg von der Haustür zum Gartentor, zur Mülltonne und zum Briefkasten frei zu halten und einen Weg um das Haus herum zur Kellertür und quer durch den großen Garten zum Schuppen mit den Holzvorräten zu bahnen. Ich machte keine Ankündigung deswegen, sondern dehnte eines Tages die Räumarbeit einfach von unserer Seite der Straße auf das Grundstück gegenüber aus.

Anfangs beschimpfte mich Wilmas dementer Mann deswegen vom Küchenfenster aus, aber bald erkannte er, dass ich die Arbeit gut machte und gab sich zufrieden.

Alte Leute fürchten den Schnee, Kinder brauchen ihn. Sie sehnen sich danach, dass sich die Welt ein Mal im Jahr maskiert, ohne Sinn, wie zum Spaß.

Wenn es geschneit hatte, fürchteten wir nichts so sehr wie die Ankunft des städtischen Streufahrzeugs, und wenn es dann kam, versuchten wir es zu verjagen, indem wir Schneebälle auf das orange Blech warfen, und jedes Mal fingen wir an zu heulen, weil sich das Gefährt nicht von seinem Auftrag abbringen ließ, sondern unbeirrt Salz verstreute, um die Pracht zu zerstören. Wir heulten und stampften mit den Füßen auf, weil uns von Amts wegen der Spaß verdorben wurde.

Zum Trost schlugen die Eltern vor, am Sonntagnachmittag rodeln zu gehen. Dann fuhren wir mit dem Auto zu den besten Hängen im Taunus, und meine Mutter trug die Pelzjacke, die sie von ihrer Tante geerbt hatte und sonst nie benutzte. Wenn sie hinter mir auf dem Schlitten saß, stellte ich mir vor, ein großes, flauschiges Tier den Hang hinabzusteuern, und wenn ich übermütig wurde, legte ich es darauf an, über die höchsten Wellen der Piste zu fahren, um zu erleben, wie bei der harten Landung nach einem Sprung das Plüschtier vom Sozius rutschte und im Schnee landete. Der Schnee nämlich hatte die Kraft, das in meiner Mutter verborgene Kind zum Lachen zu bringen.

Es fällt schwer, sich Wilma ausgelassen vorzustellen. Man merkt ihr an, dass sie gelernt hat, sich zu zügeln. Letzten Frühling sah ich sie mehrere Tage nicht, so dass ich anfing mir Sorgen zu machen. Schließlich passte ich sie am Briefkasten ab und fragte sie, wie es ihr gehe. Nicht so gut, sagte sie. Vor drei Tagen ist mein Mann gestorben.

Sie hätte herüberkommen und klagen können, aber sie wollte niemandem ihren Kummer aufbürden. Fast wäre ich ihr böse gewesen deswegen, aber dann röteten sich ihre Augen, als sie schilderte, wie sie sich im Alleinsein einrichtete, das sie ihr Leben lang nicht kennengelernt hatte.

Ich brachte mein Beileid zum Ausdruck, hoffte aber insgeheim, dass sie sich bei aller Trauer auch erleichtert fühlte, denn die Pflege des unberechenbar gewordenen Mannes hatte fast alle ihre Kräfte aufgezehrt.

Inzwischen lässt sie sich nichts mehr anmerken, und wenn sie mit mir redet, entwischt ihr manchmal sogar eine humorvolle Bemerkung. Dann wechselt sie allerdings abrupt die Miene und gleich darauf das Thema.

Ihr Gesicht ist von sechsundachtzig Lebensjahren modelliert worden, doch wenn sie sich dazu hinreißen lässt, von früher zu erzählen, wird für Augenblicke das Mädchen sichtbar, das an finsteren Wintermorgen auf Skiern drei Kilometer durch den Wald zur Schule läuft und sich unterwegs vor Wölfen fürchtet. Kommt sie mit ihrer Geschichte zum Ende, dominiert im Gesichtsausdruck sogleich wieder die alte Frau, die sich angesichts der dicken Flocken grämt, weil sie zum Schneeschaufeln zu schwach ist und darum mit ansehen muss, wie ihr Nachbar auf ihrem Grundstück ins Schwitzen gerät.

Jugendliche beharren darauf, nicht mehr klein zu sein, aber vom Schnee lassen sie sich in die Kindheit zurückversetzen, ohne sich zu schämen. Wenn er hoch genug liegt und sich hält, wird er zu Jugendschnee und fordert die Tollkühnheit heraus.

Wir legten im Stadtwald mit einer Mühe, die jedem jugendlichen Faulheitsgebot widersprach, eine Rodelbahn an. Sie schlängelte sich zwischen den Bäumen hindurch wie eine olympische Strecke, nur ohne sichernde Bande. Anfangs fuhren wir einzeln hinunter und trainierten unsere Steuerkünste, aber bald hängten wir mehrere Schlitten aneinander, legten uns bäuchlings darauf und stießen uns mit einem Dutzend Hände ab.

Wenn wir nicht in einer der ersten Kurven kippten oder uns verkeilten, konnte das Tempo atemberaubend werden und von Angst durchsetzte Euphorie auslösen, die uns dazu provozierte, es immer wilder zu treiben. Nach Einbruch der Dunkelheit trugen wir nächtliche Einzelrennen aus und erfüllten den Wald mit hemmungslosen Stimmbruchschreien, bis einer gegen einen Baumstamm fuhr und so lange reglos auf dem Schlitten liegen blieb, dass es uns die Stimmen verschlug.

Ängstlich näherten wir uns der Unfallstelle. An mehreren Stellen war das Holz des Schlittens gebrochen. Der Freund schien benommen, stand aber auf. Ganz langsam erhob er sich, als befürchtete er auseinanderzufallen, wenn er sich zu schnell bewegte. Sobald er stand, blickte er an sich herunter und dreht sich langsam zu uns um.

Im Licht einer Taschenlampe sahen wir den riesigen Blutfleck, dessen Zentrum auf dem Reißverschluss der Cordhose lag. Alle hielten den Atem an, und ich rannte zur nächsten Telefonzelle, um einen Krankenwagen zu rufen.

Erst als die Sanitäter mit der Trage eintrafen, wagte sich das Unfallopfer, den Reißverschluss zu öffnen. Die Retter beugten sich über die Blutung, schalteten aber gleich wieder die Handleuchte aus. Ist nur die Vorhaut, sagte der eine, und dann nahmen sie den Blutenden in ihre Mitte und führten ihn zum Krankenwagen, damit die Beschneidung unter hygienischen Bedingungen vollendet werden konnte.

Wir blickten ihnen stumm nach. Der verschneite Wald blinkte im regelmäßigen Rhythmus blau auf.

Das Außenlicht geht an, langsam öffnet sich die Haustür und Wilma erscheint in ihrem alten knöchellangen Steppmantel auf der Treppe. Sie bückt sich, um mit dem Handbesen den Pulverschnee vor der Schwelle zu kehren. Anschließend arbeitet sie sich Stufe für Stufe die Eingangstreppe hinab, ohne auch nur einmal aufzublicken. Unten angelangt, muss sie sich aufrichten und verschnaufen, vermeidet es aber weiterhin, in meine Richtung zu schauen.

Ich muss mit ansehen, wie sie sich erneut bückt und Schritt für Schritt fegend dem Gartentor nähert. Sie wirbelt dünnen Schneestaub auf, während es unablässig dicke Flocken schneit. Sie erinnert mich an eine Japanerin beim rituellen Fegen des Waldes, das keinem anderen Zweck dient als der Aussöhnung mit der Sinnlosigkeit. Wilma sieht so gut wie ich, dass sie mit dem Handbesen nichts ausrichtet, trotzdem macht sie weiter. Es soll ein Zeichen sein. Sie fegt nicht vorwurfsvoll, sondern zeigt mir, dass sie mich in meiner Arbeit unterstützt, so gut sie kann.

 

Erwachsenenschnee macht Arbeit, und die kann man sich nicht einteilen. Wenn es schneit, muss man ran.

Am besten räumt man vor dem Gartentor, bevor der Schneepflug kommt, sonst wirft das Fahrzeug, das mit beängstigender Geschwindigkeit die Straße heranbraust, rücksichtlos einen Wall von einem halben Meter Höhe vor dem Eingang auf.

Es ist erstaunlich, wie sich die Konsistenz des Schnees verändert. Vom Räumfahrzeug in die Mangel genommen, verdichtet sich sogar Pulverschnee zu schweren Brocken. Und unter dem Einfluss von Nässe und...

Erscheint lt. Verlag 22.9.2015
Reihe/Serie Die kleinen Bücher der Arche
Die kleinen Bücher der Arche
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Anthologien
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anthologie • Literatur • Schlittenfahren • Schnee • Schneeballschlacht • Schneemann • weiß • weiße Pracht • Winter
ISBN-10 3-03790-079-2 / 3037900792
ISBN-13 978-3-03790-079-6 / 9783037900796
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