Totengebet (eBook)

Spiegel-Bestseller
Kriminalroman
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
448 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-16650-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Totengebet -  Elisabeth Herrmann
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Ein Mord, eine geheimnisvolle junge Frau in Tel Aviv und Anwalt Joachim Vernau im Visier eines gnadenlosen Killers.
Berlin, 2015. Anwalt Vernau erwacht im Krankenhaus und kann sich an nichts mehr erinnern. Dafür ist er der Held von Berlin: In einer U-Bahnstation hat er mehrere Männer in die Flucht geschlagen, die einen älteren Herrn bedrängt haben. Aber wer ist die junge Frau mit dem Davidstern, die seitdem durch seine Erinnerung geistert? Und was hat sie mit den schrecklichen Morden zu tun, die sich wenig später ereignen? Als Vernau der schönen Unbekannten zu nahe kommt, wendet sich das Blatt: plötzlich steht er unter Mordverdacht. In letzter Sekunde kann er das Land verlassen, sein Ziel: Tel Aviv. In der brodelnden Metropole am Mittelmeer sucht er nach dem einzigen Menschen, der ihn entlasten kann - und wird hinabgezogen in den Strudel eines vergessenen Verbrechens, das sich vor über dreißig Jahren in einem Kibbuz in Israel ereignet hat ...

Elisabeth Herrmann wurde 1959 in Marburg/Lahn geboren. Nach ihrem Studium als Fernsehjournalistin arbeitete sie beim RBB, bevor sie mit ihrem Roman »Das Kindermädchen« ihren Durchbruch erlebte. Fast alle ihre Bücher wurden oder werden derzeit verfilmt: Die Reihe um den Berliner Anwalt Joachim Vernau sehr erfolgreich vom ZDF mit Jan Josef Liefers. Elisabeth Herrmann erhielt den Radio-Bremen-Krimipreis, den Deutschen Krimipreis und den Glauser für den besten Jugendkrimi 2022. Sie lebt mit ihrer Tochter in Berlin und im Spreewald.

Haifa, 7. Oktober 1987

Um kurz vor halb sieben ging die Sonne unter.

Rebecca saß auf der Holzbank neben dem schmalen Bahnsteig, den Blick starr auf die Betonbrücke gerichtet, die in einem weiten Schwung die Gleise überspannte und direkt von der Straße in den Hafen führte. Sie wusste, dass sie spätestens in ein paar Minuten wieder den Platz wechseln musste, um nicht aufzufallen. Seit heute Mittag saß sie hier, und nun, da der Horizont in glühendes Rot getaucht war und der heiße Wind langsam abkühlte, hatte die Hoffnung Zeit genug gehabt, sich in tiefe Sorge zu verwandeln.

Ab und zu fuhr ein Auto über die Brücke. Am Hafeneingang wurde es angehalten, und der Fahrer konnte nach einem kurzen Plausch mit den Sicherheitskräften und dem Vorzeigen der Papiere und Tickets passieren. Manchmal tauchten auch Fußgänger auf. Meist Rucksacktouristen mit ihrem hoch aufgetürmten Gepäck, gekrönt von Schlafsack und Isomatte. Sie kamen einmal pro Stunde mit dem Zug und alle dreißig Minuten mit dem Bus.

Nur ihr Liebster, der kam nicht.

Die erste Fähre nach Limassol auf Zypern hatten sie schon verpasst. Und auch die zweite würde ohne sie abfahren. Was dann? Eine dritte gab es nicht. Sie würde mit ihrer Tasche, in der sie alles für die Flucht untergebracht hatte, bei ihrer Tante Rose anklopfen müssen. Es war nicht weit, nur ein paar hundert Meter, wenn man aus dem kleinen Bahnhof auf den staubigen Vorplatz hinaustrat und sich nach rechts wandte. Sie wohnte in der deutschen Kolonie, direkt an der Ben-Gurion-Straße. Aber Rebecca fürchtete sich davor. Nicht weil die alten Häuser am Hafen verfallen und die Gassen dunkel waren. Auch nicht vor dem, was Tante Rose sagen würde, wenn sie von dem weißen Kleid und dem Schleier erführe, beides in Papier eingeschlagen und ganz unten in ihrer Reisetasche vergraben. Sie fürchtete sich, weil ein Aufbruch bedeutet hätte, dass ihr Plan gescheitert war und sie das Kleid und den Schleier gleich auf dem Bahnhofsvorplatz verbrennen konnte.

Dabei hatten sie alles so gut vorbereitet. Schon vor Wochen, heimlich und in aller Stille. Seit klar war … Rebeccas Hand legte sich auf ihren Bauch. Noch war er flach, aber in wenigen Wochen würde jeder im Kibbuz sehen können, was passiert war.

»Ist alles in Ordnung?«

Erschrocken sah sie hoch. Der Mann, der den ganzen Tag schon hinter dem Fahrkartenschalter saß, hatte zwischen zwei Zügen sein Kabuff verlassen. Er wollte sich ein wenig die Beine vertreten und hatte zufällig mitbekommen, dass sie seit vier Stunden weder nach Tel Aviv noch nach Akko oder Naharija gefahren war. Sie saß einfach nur da wie bestellt und nicht abgeholt. Ausgesetzt. Sie trug ihre besten Sachen – eine dunkelblaue Baumwollbluse und den knielangen Rock, beides selbst genäht, frisch gewaschen und gebügelt. Die Haare gescheitelt und nach hinten gebunden. Am Handgelenk das Bat-Mizwa-Geschenk ihres Vaters, eine kleine Timex, um den Hals den goldenen Davidstern ihrer Großmutter. An ihrer Erscheinung lag es ganz sicher nicht, dass der Mann sie ansah wie eine Gestrandete. Vielleicht war es ihre Haltung: die Arme verschränkt, etwas vornübergebeugt, die Ecken suchend. Seht nicht zu mir her, nehmt mich nicht wahr, ich bin eine Unsichtbare, die gerade an der größten Herausforderung ihres Lebens scheitert. Ganz langsam tropfte die bleierne Gewissheit in ihre Verzweiflung, dass etwas passiert sein musste.

»Ich warte auf jemanden.«

Der Fahrkartenverkäufer holte ein Päckchen Zigaretten aus der Brusttasche seines Hemdes und zündete sich eine an. Er war hager und nicht sehr groß. Die dunklen Augen in seinem Beamtengesicht lagen tief in den Höhlen, er sah nicht gesund aus. Prompt bekam er nach dem ersten Zug einen Hustenanfall. Zwei Soldaten, die sich ein paar Schritte weiter weg in den Schatten der Mauer gestellt hatten, ihre Maschinenpistolen an die Wand gelehnt, vermutlich auf dem Weg nach Norden an die Grenze zum Libanon, drehten sich zu ihnen um. Sie wechselten ein paar Worte, der eine lachte leise. Was sie wohl dachten beim Anblick des jungen Mädchens mit der Reisetasche zu Füßen?

»Wohin soll’s denn gehen?«, fragte der Verkäufer, nachdem er sich wieder beruhigt hatte.

»Tel Aviv«, log sie.

»Der letzte Zug fährt um acht.«

Sie wusste, wie spät es war. Noch eineinhalb Stunden. Die würde sie ihm geben. Danach musste sie zu Tante Rose aufbrechen und ihr ein Märchen erzählen. Die alte Dame war bestimmt schon außer sich vor Sorge, weil ihre minderjährige Nichte seit den Mittagsstunden wie vom Erdboden verschluckt war. Was sollte sie ihr bloß sagen? Dass sie in den falschen Bus gestiegen und eingeschlafen war? Das würde als Entschuldigung nicht ausreichen.

Ein Mann ging über die Brücke. Etwas an ihm kam Rebecca bekannt vor, aber er war nicht ihr Liebster. Ihr Puls begann zu rasen. Konnte man sie von dort oben sehen? Was, wenn jemand aus Jechida sie durch Zufall hier antreffen würde, bevor sie es auf die Fähre schafften?

Wo bist du?, dachte sie verzweifelt. Weißt du denn nicht, was ich ohne dich durchstehe? Unser schöner Plan, scheitert er etwa schon hier, an diesem Bahnhof, die Brücke zum Hafen in Blickweite? Bis jetzt war doch alles gut gegangen. Er hatte den Kibbuz schon gestern Abend verlassen. Heute Morgen war sie kurz an seiner Baracke gewesen und hatte mit klopfendem Herzen hineingespäht. Seine Sachen waren weg, das Bett abgezogen. Ihr Herz hatte jubiliert. Er macht es wahr! Wir verschwinden wie Romeo und Julia, aber wir werden überleben und eine Zukunft haben.

Die Euphorie hatte ihr den Abschied nicht schwer gemacht. Sie war im Kibbuz geboren und aufgewachsen. Eine Tochter der Pioniere, die die Pflöcke ihrer Claims ebenso fest in die Erde gerammt hatten wie ihre Überzeugungen. Deshalb wusste sie auch, wie ihre Zukunft aussehen würde, wenn sie jetzt nicht den entscheidenden Schritt tat.

Es war leichter gewesen, als sie befürchtet hatte. Ein letzter Blick auf die Baustelle, ein Gruß, ein harmloser Ruf in Richtung der anderen, die an der Betonmischmaschine standen, Sand und Zement in Säcken zum Pool karrten, ein Moment der Wehmut, dass sie die Fertigstellung nicht mehr erleben würde. Dann schnell zurück in ihr Zimmer. Das kleine Apartment bewohnte sie seit ihrem vierzehnten Lebensjahr, wie alle anderen Jugendlichen im Kibbuz, die mehr in den Kinderhäusern und Gemeinschaftsräumen aufgewachsen waren als unter einem Dach mit ihren Eltern. Ein letzter Blick auf ihr Zuhause und das Bett … Sie hatte das Kissen hochgenommen und geglaubt, noch seinen Duft darin zu riechen. Ihr brennendes Herz, die Atemlosigkeit angesichts dessen, was sie vorhatten … Dann hatte sie die Tür hinter sich zugezogen und sich auf den Weg zur Bushaltestelle gemacht. Dass sie dabei ausgerechnet ihrer Mutter begegnen musste, damit hatte sie nicht gerechnet. Ein Besuch bei Tante Rose in Haifa, soso. Weiß sie Bescheid, dass du kommst? Hast du dich ausgetragen im Dienstplan? Wann kommst du zurück? Kein echtes Interesse lag in diesem Verhör. Fährst du allein? Wer holt dich ab? Rebecca hatte kein Problem damit, ihre Mutter anzulügen. Es gehörte dazu, dieses fein austarierte Wechselspiel von offizieller und inoffizieller Version ein und desselben Vorgangs, und es ödete sie an. Sie war auf dem Absprung, heraus aus dem Schutz, aber auch aus der Kontrolle der Kibbuzniks. In Jechida hatte es sich gut angefühlt. Hier, auf dem Bahnsteig, fühlte sie sich unter den Augen der fremden Leute und deren unausgesprochenen Spekulationen hilflos. Sie war zum ersten Mal in ihrem Leben allein.

»Entschuldigen Sie bitte.«

Hastig stand sie auf, nahm die Tasche und betrat das schmale Gebäude. Linker Hand war ein Kiosk, der Zeitungen, Limonade und Kaffee verkaufte. Außer ihr befanden sich nur noch die müde Verkäuferin und zwei Männer im Warteraum, die sich leise unterhielten. Sie trugen den Habit orthodoxer Juden und wären gewiss die Letzten, denen ein verzweifelter Teenager auffallen würde. Der Fahrkartenverkäufer draußen auf dem Bahnsteig sah ihr nach. Ob er sich an sie erinnern würde? Bestimmt.

Wo bist du? Warum kommst du nicht?

Tränen schossen ihr in die Augen, aber sie hatte in den letzten Stunden mit einer fast übermenschlichen Anstrengung verhindert, die Fassung zu verlieren. Die Übelkeit zog ihr den Magen zusammen.

Sie rannte auf die schmale Tür zwischen Ticketschalter und Fahrplan zu und schaffte es in letzter Sekunde, sich über das Waschbecken zu beugen. Sie würgte, hustete, kotzte sich die Seele aus dem Leib. Endlich war der Anfall vorüber. Sie richtete sich auf und betrachtete ihr geschwollenes rotes Gesicht im Spiegel.

Rebecca Kirsch, siebzehn, einziges Kind der Eheleute Kirsch aus dem religiösen Kibbuz Jechida, hatte sich mit einem deutschen Saisonarbeiter eingelassen und bekam ein Kind von ihm.

Wasser, viel Wasser. Als sie sich wieder ansah, war ihr Gesicht tropfnass. Tante Rose würde sofort auffallen, dass etwas nicht stimmte. Wohin? Himmel, wohin nur? Sie schloss die Augen und lehnte sich an die Wand, rutschte hinunter, blieb einfach sitzen in diesem winzigen, stinkenden Raum.

Sie gab sich fünf Minuten stilles Weinen. Die Lautsprecherdurchsage kündigte die Ankunft des Zuges aus Akko an. Jemand rüttelte an der verschlossenen Tür und verlangte erst bittend, dann wütend, schließlich verzweifelt, dass geöffnet wurde. Rebecca riss einen halben Meter Toilettenpapier ab und tupfte sich damit die Tränen weg. Der Mann vor der Tür verschwand. Das kleine Fenster über dem Klo stand auf Kipp. Sie hörte das Ächzen der Lok und die Scharniere der Zugtüren. Hastige Schritte, ein paar...

Erscheint lt. Verlag 15.2.2016
Reihe/Serie Joachim Vernau
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte eBooks • Joachim-Vernau-Roman • Kibbuz • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Spiegel-Bestseller-Autorin • Thriller
ISBN-10 3-641-16650-0 / 3641166500
ISBN-13 978-3-641-16650-2 / 9783641166502
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