Der Arm des Kraken (eBook)

Roman
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2015 | 1. Auflage
352 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-16388-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Arm des Kraken -  Christoph Peters
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Die Kommissarin und der Samurai
Seit fünfzehn Jahren ist Annegret Bartsch Kommissarin im Vietnamdezernat der Berliner Polizei - seit zehn Jahren hat sie niemanden mehr vor Gericht gebracht. Während der Job sie zunehmend frustriert, wachsen zugleich die Spannungen zu Hause. Ihr Mann entpuppt sich als nörgelnder Eigenbrötler, die 8-jährige Tochter Lizzie geht ihr zunehmend auf die Nerven. Als der Japaner Yuki O. erschossen im Teich einer Parkanlage aufgefunden wird, steht Annegret Bartsch zunächst vor einem Rätsel. Vieles deutet darauf hin, daß Yuki O. zur japanischen Yakuza gehört hat und mit den Clans der vietnamesischen Mafia aneinandergeraten ist. Ihre Ermittlungen führen die Kommissarin in ein Labyrinth von vietnamesischen Gastronomiebetrieben, Import-Export-Firmen, Lebensmittelhandlungen und Blumenläden. Doch mit wem sie auch spricht: Überall stößt sie auf eine Mauer des Schweigens.

Zur selben Zeit wird der Japaner Fumio Onishi von seiner Yakuza-Organisation nach Berlin beordert, um Yuki O.s Tod aufzuklären und Vergeltung zu üben. Fumio Onishi ist ein Meister im Handwerk des Tötens und sieht sich doch nicht als eiskalten Killer, sondern als Erbe japanischer Traditionen, wie sie die Samurai der alten Zeit verkörpert haben. Bald schon zieht er eine Blutspur durch die vietnamesische Parallelgesellschaft im Prenzlauer Berg. Schließlich versucht Annegret Bartsch, ihm mit Hilfe eines vietnamesischen Kontaktmanns eine Falle zu stellen ...

»Der Arm des Kraken« ist ein fulminanter Großstadtroman und actiongeladener literarischer Thriller zugleich. Und er ist in dem Katz-und-Maus-Spiel zwischen der deutschen Kommissarin und dem japanischen Killer das bestechende Psychogramm zweier vielfach gebrochener Menschen, die gefangen sind in den Zwängen und Absurditäten ihres jeweiligen Lebensentwurfs.

Christoph Peters wurde 1966 in Kalkar geboren. Er ist Autor zahlreicher Romane und Erzählungsbände und wurde für seine Bücher vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Wolfgang-Koeppen-Preis (2018), dem Thomas-Valentin-Literaturpreis der Stadt Lippstadt (2021) sowie dem Niederrheinischen Literaturpreis (1999 und 2022). Christoph Peters lebt heute in Berlin. Zuletzt erschienen von ihm bei Luchterhand 'Tage in Tokio' (2021) und 'Der Sandkasten' (2022).

1.

Um kurz vor neun am Dienstagmorgen betrat Paul Karstensen deutlich nach seinem kläffenden Cockerspaniel Heinzi die vom Sommer verdorrte Wiese im Zentrum des Erich-Mühsam-Parks, wo bereits Hedda Kern, Vinzi Volk und Beppe Aaron beieinanderstanden, jeder einen Pappbecher Kaffee in der einen, Beppe und Hedda dazu eine selbst gedrehte Zigarette in der anderen Hand. Wenige Schritte entfernt warf Kurt Seemann mit stumpfsinniger Unermüdlichkeit allen Hunden, die kamen, Bälle, weil er um diese Zeit nur ungern mit Menschen sprach. Die Luft war feuchtwarm, es regnete nicht. Die Wettervorhersagen auf den Mobiltelefonen meldeten eine Niederschlagswahrscheinlichkeit zwischen sechzig und siebzig Prozent, je nach Anbieter. So oder so änderte es wenig, denn die Hunde hatten ihre Verdauungsrhythmen und brauchten Auslauf, sonst wurden sie krank. Allerdings stellten auch Qualitätsfutter und Bewegung keine Garantie für gesunde Tiere dar. Während er sich ebenfalls eine Zigarette drehte, sagte Paul Karstensen, Heinzi leide wieder unter entzündeten Analdrüsen, und die einzig wirksame Methode, sie zu behandeln, sei manuelle Therapie, deshalb müsse er nach dem Spaziergang zum Tierarzt.

»Was heißt manuelle Therapie«, wollte Beppe wissen.

»Er drückt sie ihm aus.«

»Verstehe.«

Jeden Morgen um diese Zeit trafen sich hier dieselben drei bis acht Leute zwischen Ende zwanzig und Mitte vierzig, ließen ihre Hunde spielen, klaubten die Kacke mit Spezialbeuteln auf und besprachen alles, was für die innerstädtische Hundehaltung von Bedeutung war. Je nachdem, wie sich die Gruppe zusammensetzte, redeten sie außerdem über Politik, Fußball, Musik oder Berufliches.

»Kannst du nicht endlich mal still sein«, fauchte Paul Heinzi an, der ununterbrochen den Himmel ankläffte.

»Er hat halt keine Lust auf Arzt«, sagte Beppe.

»Ernsthaft jetzt: Ich will nicht, dass er sich diese Dauerkläfferei angewöhnt.«

»Hat er doch schon«, sagte Hedda.

Paul beugte sich hinunter, hielt Heinzi die Schnauze zu, ohne dass in der Geste Zorn oder wenigstens Entschlossenheit erkennbar gewesen wäre.

»Bringt nichts«, sagte Beppe.

»Er muss das lernen – allein schon wegen der Anwohner.«

In den Plattenbauten und Hochhäusern rund um die Wiese lebten verdiente Rentner der verblichenen DDR, von denen viele den Veränderungen der letzten dreißig Jahre seelisch und wirtschaftlich nicht gewachsen gewesen waren, dazu Mitglieder linker und rechter Jugendbewegungen, klassische Sozialfälle, ärmere Ausländer sowie eine Handvoll Avantgardisten mit Visionen für die Zeit nach der jetzigen Zukunft. Richtung Westen ging die Wiese in ein geschütztes Kleinbiotop aus Waldstück und künstlich angelegtem Teich über, dahinter führte die Stettiner Allee, eine der drei Hauptausfallstraßen nach Norden, aus der Stadt heraus. Wenn man sie bis ans Ende fuhr, erreichte man in Polen schließlich das Meer. Ursprünglich war die Erich-Mühsam-Siedlung von der SED als Vorzeigeprojekt für 4000 ausgewählte Bewohner zur 750-Jahr-Feier Berlins geplant worden, doch auch städtebaulich hatte inzwischen eine vollständige Abkehr von den utopischen Visionen der Moderne stattgefunden. Hier ein Apartment zu bewohnen verschaffte niemandem mehr gesellschaftliches Ansehen. Wer es sich leisten konnte, war längst in einen sanierten Altbau mit hohen Decken, Parkett und Jugendstilfliesen auf der anderen Seite der Gontscharowstraße gezogen.

»Vorn beim Observatorium sollen gestern Giftköder gelegen haben«, sagte Hedda. »Präparierte Hackbällchen.«

»Vielleicht waren es Überbleibsel von einem Kindergeburtstag.«

»Erst haben die Muttis Party gemacht«, sagte Beppe, »und dann den Rest mit Unkrautvernichter versetzt, weil ihre Gören reihenweise in die Kacke gefallen sind.«

Kurt Seemann warf weiterhin schweigend Bälle.

De facto kam es im Park nur selten zu Konflikten zwischen Hundebesitzern und Kleinkindeltern. Das Bezirksamt hatte den Spielplatz geschlossen, Schaukeln und Klettertürme waren abgebaut worden, weil das Erdreich wegen des Gaswerks, das vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Achtzigerjahre hier gestanden hatte, erhöhte Cyanid- und Phenol-Werte aufwies. Zudem saßen auf den Bänken rund um die Wiese vereinzelte Trinker ihre Tage ab, und in den Büschen beim Teich wurden neben unversteuerten Zigaretten auch Drogen verkauft. Den reichen und schönen Müttern von jenseits der Gontscharowstraße war die Umgebung nicht geheuer, und die Sozialhilfeempfängerinnen aus den Plattenbauten verbrachten ihre Freizeit eher vor dem Fernseher als im Park.

Aus Richtung des Observatoriums betrat Astrid Kehrmann die Wiese. Mit zehn Metern Abstand folgte ihr angefetteter Scotch Terrier Winnie, der offensichtlich keine Lust hatte, sich zu bewegen.

»Habt ihr das gehört: Jemand soll vergiftete Frikadellen ausgelegt haben.«

»Ist ein Gerücht.«

»Ich hab vorne Gerti getroffen, die hatte Berta an der Leine, was ich überhaupt noch nie gesehen habe, und sie sagte, dass dort gestern ein Hund kollabiert ist.«

»Welcher denn?«

»Wusste sie nicht.«

Ein dunkelgrüner Helikopter der Luftwaffe flog so niedrig über den Park, dass Pilot und Passagiere den Leuten im achtzehnten Stock beim Teleshopping oder Frühstücksbier hätten zuschauen können.

Heinzi, der als Einziger von den Hunden seine ursprüngliche Aufgabe, den Menschen gegen Feinde zu verteidigen, ernst nahm, raste bellend hinter ihm her. Die Rufe seines Herrchens, er solle stehen bleiben, wurden vom Lärm des Rotors zerhackt.

»Sieht aus, als käme die Frau Bundeskanzler heute direkt von der Datsche zur Arbeit«, brüllte Beppe.

Paul setzte sich jetzt selbst in Bewegung, fiel in Laufschritt, denn spätestens vorne beim Kunsttempel würde Heinzi die Orientierung verlieren und womöglich versuchen, allein die Gontscharowstraße zu überqueren, was leicht tödlich enden konnte.

»Komisch, oder?«, sagte Vinci. »So niedrig hab ich hier noch nie einen Hubschrauber gesehen.«

»Wahrscheinlich spielen sie im Kanzleramt der Führerin ihr Hauptquartier«, sagte Beppe. »Irgendein Krieg wird sich schon finden – geschossen wird immer.«

Astrid verdrehte die Augen. Sie arbeitete halbtags als Referentin eines FDP-Abgeordneten aus der Westpfalz, was ihr peinlich war, so dass sie lieber nicht darüber sprach. Unabhängig davon fand sie Beppes proletarisch-antikapitalistisches Gehabe reichlich kindisch für einen Mann Mitte dreißig.

Paul kehrte zurück. Er hatte Heinzi an die kurze Leine genommen und redete sehr ernsthaft auf ihn ein. Nach einer abschließenden Ermahnung mit erhobenem Zeigefinger ließ er ihn wieder frei. Heinzi stürzte kläffend auf die anderen Hunde zu, die Kurt Seemanns Ball verfolgten, hielt dann mitten in der Jagd inne und besann sich. Da er keine Chance hatte zu gewinnen, machte er eine Wende um hundertachtzig Grad, rannte quer über die Wiese auf das Waldstück zu und verschwand im Unterholz.

»Der Hund nervt«, knurrte Paul.

»Scheint, als wäre der Vietnamese heute schon früh bei der Arbeit«, sagte Beppe.

»Ich frag mich immer, wer diese Zigaretten eigentlich kauft«, sagte Astrid. »Ich hätte Angst, dass sie da irgendwas reinmischen.«

»Ich«, sagte Beppe. »Sind zwar keine original Camel, schmecken aber fast genauso. Und zwei fuffzig statt fünf Euro sind echt ein Argument.«

Bis vor wenigen Jahren hatten die vietnamesischen Zigarettenhändler im Osten der Stadt vor jedem Supermarkt gestanden, inzwischen waren sie in die Randlagen gedrängt worden. So oder so stellte das von außen nicht einsehbare Wäldchen im Mühsam-Park einen guten Platz für Schattengeschäfte dar: Schon von weitem sah man jeden, der sich näherte, und konnte unbemerkt durchs Gebüsch über die Straße in der angrenzenden Arbeitersiedlung verschwinden. Außerdem wohnten die Hauptabnehmer in der unmittelbaren Nachbarschaft.

»Keine Angst vor der Polizei?«

»Die nehmen ja nicht einmal mehr die Vietkong hoch. Ist einfach sinnlos, weil die sowieso alle das Maul halten. Ich weiß von keinem den Namen, obwohl ich seit Jahren Stammkunde bin.«

Paul brüllte »Heinzi!«, doch Heinzi interessierte sich nicht dafür.

Vinci Volk, deren kniehoher Windhundmischling Frieda auch nur gehorchte, wenn er gerade Lust dazu hatte, grinste Astrid an, während Paul sich erneut auf den Weg machte, um seinen Cockerspaniel einzufangen.

»Inzwischen hat er schon den dritten Trainer verschlissen, und gebracht hat es gar nichts«, sagte Kurt Seemann.

Es waren seine ersten Worte an diesem Morgen.

»Und locker fünfhundert Tacken dafür hingeblättert«, ergänzte Beppe.

»Ist halt ein Jagdhund«, sagte Vinci. »Abgesehen davon gelten Cocker sowieso als schwer erziehbar.«

»Alles Inzucht«, murmelte Kurt. »Habt ihr mal so ’ne Hundezüchterseite angeklickt? Blinkende Deutschlandfahnen, Warnungen vor Rassenschande, wenn unrein gefickt – also wenn der Deutsche Drahthaar Champion eine griechische Straßentöle bestiegen hat. Was dabei rauskommt, siehst du an Heinzi: degenerierter Mist.«

»Na ja, eigentlich …«, sagte Vinci. »Die Büsche sind voll mit Ratten, insofern macht der Hund das, was er soll. Zumindest ungefähr.«

Paul tauchte mit dem rückwärts zerrenden Heinzi an der Leine aus dem Dunkel des Wäldchens wieder auf und winkte seltsam aufgeregt.

»Irgendetwas will er«, sagte Vinci.

Er riss den Hund mit einem Ruck zu sich heran, klappte...

Erscheint lt. Verlag 17.8.2015
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Berlin • eBooks • Erich-Mühsam-Park • Großstadtroman • Heimatkrimi • japanische Kultur • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Mafia • mafiathriller • Organisierte Kriminalität • Parallelgesellschaft • Prenzlauer Berg • Profikiller • Roman • Romane • Samurai • Spannungsroman • Thriller • Unterwelt • Vietnamesen • Yakuza
ISBN-10 3-641-16388-9 / 3641163889
ISBN-13 978-3-641-16388-4 / 9783641163884
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