Die Nacht gehört den Wölfen (eBook)

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2015 | 1. Auflage
464 Seiten
cbj Kinder- & Jugendbücher (Verlag)
978-3-641-16197-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Nacht gehört den Wölfen -  Wulf Dorn
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Wer hat Angst vorm bösen Wolf?
Seit dem tödlichen Autounfall seiner Eltern, den er selbst miterlebt hat, leidet Simon unter Albträumen und Angstzuständen. Nach einem Psychiatrieaufenthalt zieht er zu seiner Tante und seinem Bruder, aber es fällt ihm schwer, sich in seinem neuen Leben zurechtzufinden. Vor allem, als er feststellen muss, dass seine schlimmen Träume Wirklichkeit werden: Etwas Böses scheint im Dunkel, das Simon umgibt, erwacht zu sein. Und das Verschwinden eines Mädchens ist erst der Anfang ...



Wulf Dorn (*1969) war zwanzig Jahre in einer psychiatrischen Klinik tätig, ehe er sich ganz dem Schreiben widmete. Mit seinem 2009 erschienenen Debütroman 'Trigger' gelang ihm ein internationaler Bestseller, dem weitere folgten. Dorns Bücher werden in zahlreiche Sprachen übersetzt und begeistern eine weltweite Leserschaft. Für seine Storys und Romane wurde er mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem französischen Prix Polar, dem ELLE Readers Award und dem Glauser Preis.

24.

Als Simon am nächsten Morgen die Treppe herunterkam, fand er die Wohnung verlassen vor. Auf dem Küchentisch erwarteten ihn eine Großpackung Cornflakes, eine Tüte Milch (seine Lieblingsmarke mit der lächelnden Kuh auf dem Karton), eine Dose Kakaopulver und eine Nachricht von Tilia.

Guten Morgen Langschläfer

Musste ins Büro. Meine Kollegin ist krank.

Ich weiß noch nicht, wann ich zurück bin.

Werde auf dem Heimweg noch einkaufen.

Habe deine Liste dabei

Genieß den schönen Tag und lass dir dein Frühstück schmecken

Simon legte den Zettel auf den Tisch zurück. Bis auf die tickende Küchenuhr war es so still im Haus, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören.

Allein, dachte er. Ich bin allein. Kein vorübergehender Zustand, nein, es wird jetzt immer so sein.

Dieser Gedanke füllte den Raum wie ein unsichtbares Gas, das sein Herz lähmte und ihm das Atmen erschwerte. Auf einmal fühlte er sich wie ein Fremdkörper in Tilias Küche. Wie jemand, den man gegen seinen Willen hierher verschleppt hatte – was in gewisser Weise auch zutraf.

Er gehörte nicht an diesen Ort. Doch den Ort, zu dem er bisher gehört hatte, gab es nicht mehr. Stattdessen würde er in Zukunft nur noch ein Gast sein, wo immer er auch war. Zuerst hier, dann auf dem Internat, und was danach kam, wollte er sich lieber gar nicht vorstellen.

Ihm war nach Weglaufen zumute, und wenn ihm ein Ort eingefallen wäre, an der er hätte fliehen können, hätte er es getan.

Stattdessen hörte er auf seine Vernunft, holte eine Glasschüssel aus dem Küchenschrank und bereitete sein vertrautes Frühstück zu.

Die Schoko-Cornflakes schmeckten wie damals zu Hause – und doch auch wieder nicht. Die Marken stimmten, aber wieder einmal, wie schon in der Klinik, fehlte das entscheidende Detail: Er war nicht zu Hause, würde nie mehr zu Hause sein können.

… lass dir dein Frühstück schmecken

Er betrachtete Tilias Smileys auf dem Zettel. Sie hatte ihm eine Freude machen wollen. Auf der Kakao-Dose und der Cornflakes-Packung klebten Preisetiketten des Kössinger Tankstellen-Shops. Simon stellte sich vor, wie Tilia frühmorgens dorthin gefahren war. Sie würde es eilig gehabt haben und hatte nicht darauf warten können, bis einer der Supermärkte in Fahlenberg öffnete. Trotzdem war es ihr wichtig gewesen, Simon sein Lieblingsfrühstück zu besorgen.

Dann fiel ihm ein, was ein ehemaliger Nachbar einmal über seine Katze gesagt hatte. »Sie braucht nur ihr Futter, dann ist sie zufrieden.«

Doch der Nachbar hatte etwas sehr Wichtiges übersehen. Simon war damals noch klein gewesen, aber er erinnerte sich sehr gut an die Katze. Vor allem an ihr Schnurren, wenn er sie gestreichelt hatte. Die Katze hatte jeden Tag zur selben Zeit vor der Haustür auf ihn gewartet, damit er sie streichelte. Jeden Morgen, wenn er zur Schule ging, und jeden Nachmittag, wenn er wieder zurückkam.

Sie hatte mehr gebraucht als nur Futter und Simon konnte die Katze nur zu gut verstehen. Besonders jetzt, wo er mit seinem Frühstück allein am Tisch saß.

Tilia konnte ihm noch so viele Lebensmittel mitbringen, die er sich wünschte, ihn noch so oft zu McDonald’s einladen … es würde nichts gegen dieses dunkle Gefühl ausrichten können, das ihm alle Freude nahm.

Einsamkeit.

Nach dem Frühstück spülte er das Geschirr ab und stellte alles ordentlich an seinen Platz zurück. Dann starrte er aus dem Fenster.

Genieß den schönen Tag …

Das war leicht gesagt. Ja, es war wirklich ein schöner Tag. Sonnig und warm. Aber wie sollte er das genießen? Hier war doch überhaupt nichts los. Kössingen war einer der Orte, an denen man »nicht mal tot überm Gartenzaun hängen« wollte, wie Lennard gesagt hätte.

Er zog sein Smartphone aus der Hosentasche und versuchte, den Spielechat aufzurufen. Ein paar vertraute Kontakte hätten ihm jetzt gutgetan. Doch der Empfang war zu schwach. Die Seite lud nur im Schneckentempo, wohingegen der Balken der Akkuanzeige im Sekundentakt schrumpfte.

Dann eben nicht.

Simon brach die Verbindung ab und tröstete sich mit dem Gedanken, dass er hier sowieso keinen Computer gehabt hätte, um eine Testversion für ein neues Spiel auszuprobieren. Sein Laptop steckte irgendwo in einem der Kartons im Keller. Selbst wenn er es gefunden hätte, kannte er Tilias W-LAN-Passwort nicht. Er würde sie noch danach fragen müssen. Aber irgendwie war ihm auch nicht nach Spielen zumute. Er hätte viel lieber …

Plötzlich schrillte die Türglocke. Sie zerriss die Stille so abrupt, dass Simon erschrocken zusammenfuhr.

Wahrscheinlich der Postbote, dachte er, und noch ehe er auf dem Flur war, ging die Glocke erneut. Ein greller Ton, der ihm in den Ohren schmerzte.

Als er die Tür öffnete, erwartete ihn eine Überraschung. Statt des Postboten stand Richard Henning vor ihm.

»Hallo Simon.«

Der stellvertretende Schulleiter bedachte ihn mit einem Lächeln, dass ihm bei Simons Mutter die Bezeichnung Prince Charming eingebracht hätte, benannt nach der Titelfigur ihrer Lieblingskomödie.

Heute trug Henning Bermuda-Jeans und ein weißes T-Shirt mit dem Logo der Serling-Schule, das an seinen muskulösen Oberarmen bedenklich spannte und seine Sonnenbräune noch deutlicher zur Geltung brachte.

»Ich hoffe, ich störe nicht«, sagte er. »Es ist nur so, dass ich gerade auf dem Weg zum Bootshaus bin. Da dachte ich mir, ich schaue mal vorbei und frage, ob du Lust hast, mitzukommen.«

»Das geht nicht.«

Simon kam die Antwort so schnell über die Lippen, dass es ihn selbst wunderte. Irgendetwas in ihm sträubte sich bei dem Gedanken, Henning auf eine Rudertour zu begleiten. Er wusste nicht, woran es lag, aber er wusste, dass er besser auf dieses Gefühl hören sollte.

»Es würde nicht lange dauern«, sagte Henning und klang ein wenig enttäuscht. »Nur eine Stunde oder so. Ich dachte, es wäre ganz gut für dich, wenn du ein wenig rauskommst und Spaß hättest. Sport ist ideal, um sich abzureagieren. Beim Rudern kannst du alles Negative buchstäblich über Bord werfen. Danach fühlt man sich prima, glaub mir.«

»Tut mir leid, aber es geht wirklich nicht. Ich habe meiner Tante versprochen, dass ich ihr im Garten helfe. Sie wird bald wieder vom Einkaufen zurück sein.«

Das war glatt gelogen. Eigentlich konnte Simon Lügen kaum ertragen, aber in diesem Fall schien es ihm der einzige Weg, Henning ohne lange Erklärungen loszuwerden.

Und genau das wollte er: Henning loswerden. Die Gegenwart des Lehrers war ihm genauso unangenehm wie vorhin das Schrillen der Klingel – auch wenn ihm noch immer nicht klar war, warum.

Henning nickte und legte den Kopf ein wenig schief.

»Na, wenn das so ist, dann eben ein andermal.«

Simon konnte seinem Blick ansehen, dass er die Lüge erkannt hatte. Trotzdem behielt Henning sein Zahnpasta-Lächeln bei.

»Ja, ein andermal«, sagte Simon schnell und hoffte, dass er jetzt nicht rot wurde.

Henning sah ihn weiterhin auf eine Art an, die Simon unangenehm war. Er kam sich vor, als sei sein Kopf plötzlich aus Glas und Henning könnte jeden seiner Gedanken lesen.

»Weißt du, Simon, ich kann mir gut vorstellen, wie du dich im Moment fühlst. Du magst mich nicht besonders, stimmt’s? Keine Sorge, das ist für mich in Ordnung. Wir können ruhig ehrlich miteinander sein.«

Nun wurde Simon tatsächlich rot. Er spürte es genau, und es quälte ihn, aber er konnte nichts dagegen tun.

»Nein, nein, das hat nichts mit Ihnen zu tun.«

Wieder eine Lüge.

»Natürlich nicht«, sagte Henning. »Es hat damit zu tun, was ich für dich bedeute. Ich stehe für das Internat, in das du gehen sollst, obwohl du es eigentlich nicht möchtest. Du kommst dir einsam, verlassen und abgeschoben vor und sehnst dich nach deinem alten Leben zurück. Habe ich recht?«

Simon war viel zu überwältigt, um zu antworten. Sein Kopf schien tatsächlich gläsern geworden zu sein, jedenfalls soweit es Henning betraf.

»Wie gesagt, ich kann mich nur zu gut in dich hineindenken«, sagte Henning. »Ich habe meine Eltern ebenfalls verloren. Sie starben kurz nacheinander, als ich gerade zwanzig war. Mein Vater erlitt einen Schlaganfall und meine Mutter starb an Darmkrebs. Danach fühlte ich mich, als hätte mir jemand den Boden unter den Füßen weggerissen. Für dich muss das alles bestimmt noch viel schlimmer sein. Ein Unfall ist ein so abruptes Ereignis. Aber ganz gleich, auf welche Weise man seine Lieben verliert, danach fühlt man sich wie ein entwurzelter Baum, nicht wahr?«

Simon nickte. »Es ist schwer, damit klarzukommen.«

»Oh ja, das ist es«, stimmte Henning ihm zu. »Aber es wird leichter, wenn man Menschen hat, die einen verstehen und für einen da sind. Ich möchte, dass du weißt, dass ich so jemand für dich sein kann. Wenn dir nach Reden zumute ist, kannst du dich immer an mich wenden. Jederzeit.«

»Vielen Dank«, sagte Simon und befürchtete insgeheim, Henning würde ihm gleich die Hand auf die Schulter legen. Einer seiner ehemaligen Lehrer, der ebenfalls der beste Kumpel seiner Schüler hatte sein wollen, hatte das oft getan. Und Simon hatte es gehasst. Er konnte es nicht ausstehen, wenn Leute ihn ungefragt berührten.

Doch Henning behielt seine Hände bei sich. »Vielleicht begleitest du mich eines Tages ja wirklich zum Rudern«,...

Erscheint lt. Verlag 26.10.2015
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte ab 14 • Angst • Außenseiter • eBooks • Jugendbuch • Jugendthriller • Kinderkrimi • Liebe • Psychothriller • Pubertät • Rotkäppchen • Wolf • Young Adult
ISBN-10 3-641-16197-5 / 3641161975
ISBN-13 978-3-641-16197-2 / 9783641161972
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