Mitternacht zu sein ist nicht jedem gegeben (eBook)
576 Seiten
Luchterhand (Verlag)
978-3-641-15569-8 (ISBN)
Eine Frau Anfang fünfzig hält Rückschau auf ihr Leben: Es sind nur drei Tage, die sie im einstigen Ferienhaus ihrer Familie verbringt, um Abschied zu nehmen, weil das Haus verkauft worden ist. Doch in diesen drei Tagen stürzt das ganze Drama ihrer Existenz über sie herein, und ihre Erinnerungen an die glücklichen Tage der Kindheit weichen einem immer bedrohlicheren Strudel der Verzweiflung ...
Eine Frau Anfang fünfzig fährt für ein Wochenende an den Strand. Das Ferienhaus ihrer Familie, an der Atlantikküste nördlich von Lissabon gelegen, ist verkauft worden, und sie möchte Abschied nehmen, ihren Erinnerungen an die Kindheit, an die gemeinsamen Sommer dort nachhängen. Doch die Vergangenheit bricht regelrecht über sie herein, und der Kurzurlaub gerät ihr zur Rückschau auf ihr Leben, zur Abrechnung über ihr Leben. Da ist die gar nicht glückliche Ehe ihrer Eltern, deren Gefühlskälte die Kinder geprägt hat; da sind die drei Brüder mit ihren unterschiedlichen Schicksalen: einer von Geburt an taubstumm, einer gezeichnet von seinem Einsatz im Kolonialkrieg, der dritte und älteste stürzte sich im Alter von achtzehn Jahren von einer Klippe. Und nun ist sie allein in dem leeren Haus. Ihr Mann hat sie schon lange verlassen, sie ist kinderlos, und ihr Beruf als Lehrerin füllt sie nicht mehr aus. Ihr Dasein, erkennt sie, ist ihr mit den Jahren mehr und mehr zur Last geworden. Am Ende führt ihr Weg sie zur Klippe über dem brausenden Ozean, wo sie das Lächeln ihres Bruders evoziert ...
António Lobo Antunes wurde 1942 in Lissabon geboren. Er studierte Medizin, war während des Kolonialkriegs 27 Monate lang Militärarzt in Angola und arbeitete danach als Psychiater in einem Lissabonner Krankenhaus. Heute lebt er als Schriftsteller in seiner Heimatstadt. Lobo Antunes zählt zu den wichtigsten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. In seinem Werk, das mittlerweile mehr als dreißig Titel umfasst und in vierzig Sprachen übersetzt worden ist, setzt er sich intensiv und kritisch mit der portugiesischen Gesellschaft auseinander. Er erhielt zahlreiche Preise, darunter den »Großen Romanpreis des Portugiesischen Schriftstellerverbandes«, den »Jerusalem-Preis für die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft« und den Camões-Preis.
1.
Ich wachte mitten in der Nacht in der Gewissheit auf, dass mich das Meer durch die geschlossenen Rollläden hindurch rief, ich wandte den Kopf zum Fenster und spürte, wie das Meer mich ansah, so wie mich das Rascheln der Kiefern ansah und die Stimmen meiner Eltern am Ende des Flures mich ansahen, alles sah mich im Dunkeln an und wiederholte meinen Namen, ich fragte
– Was habe ich denn getan?
und Stille, das Meer und die Kiefern verschwanden aus dem Fenster, wohin seid ihr gegangen, und meine Eltern schwiegen, wenn wir das Meer und die Kiefern verlieren, bleibt fast nichts mehr, ein paar Dächer, etwas Röhricht, der Sand ohne die Spuren von Möwen morgens in aller Frühe, nur der Ebbemüll, den die Bademeister noch nicht weggefegt haben, Holz, Algen, Dieselöl, ich fünf Jahre alt, meine Brüder sieben und neun, von meinem ältesten Bruder werde ich nicht reden, man redet nicht über meinen ältesten Bruder, da ist er und lächelt mich an
– Kleine
und fährt mit mir auf der Querstange, die mir etwas wehtut, hinunter zum Strand, ich glücklich und ängstlich
– Wir werden doch nicht stürzen oder versprich es mir
und wir stürzten nicht, wenn ich von der Querstange sprang, tat sie mir weiter ein wenig weh, aber das ging dann vorbei, vor den Wellen zogen sie an einem Mast eine grüne Fahne auf, hin und wieder in der Ferne ein Passagierdampfer, mein Vater schlief, die Zeitung auf der Brust, auf dem Sofa, will heißen, man merkte am offenen Mund, dass er schlief, er hatte weder weißes Haar, noch war er krank, er war nicht gestorben, meine Mutter, die sich mit der Sonnensegelnachbarin unterhielt
– Ich habe dir schon tausendmal gesagt dass du sie nicht auf dem Fahrrad mitnehmen darfst aber du gibst wohl erst Ruhe wenn du der Kleinen ein Bein gebrochen hast
mein nicht tauber Bruder und mein tauber Bruder bewarfen sich mit Gegenständen, und mein tauber Bruder, rief man seinen Namen, wandte er sich uns nicht zu, begann zu weinen, meine Haare schon nicht mehr schwarz wie die meines Vaters, blond gefärbt, meine Mutter zur Sonnensegelnachbarin, während sie die Wangen meines tauben Bruders abwischte
– Da sehen Sie mal das Kreuz das ich zu tragen habe
am Ende des Strandes oberhalb der Felsen hinter der Lagune ein verlassenes Gebäude, auf dessen Kalkanstrich der Schriftzug Alto da Vigia Mariscos & Bebidas verblasste und wo sich nach dem Abendessen die Räuber versammelten und Pläne schmiedeten, um uns zu verschleppen, meine Mutter
– Wäre schön wenn sie euch alle verschleppen würden damit ich Frieden und meine Ruhe habe
obwohl niemand mit einem Holzbein und Säcken zu sehen war, in die sie uns stecken konnten, ich habe gesehen, wie sie das mit kleinen Katzen machten und wie der Sack sich bewegte, sie tauchten den Sack in den Betonbottich zum Wäschewaschen, und niemand bewegte sich mehr darin, sie warfen alles in eine Grube in der Ecke des Gartens und befahlen uns
– Geht weg
nur mein tauber Bruder blieb dort, versuchte die Erde mit den Füßen aufzuwühlen, ich zu ihm
– Sei nicht traurig
und in den Kiefern eine Amsel mit zwei Tönen, wieso traurig sein wegen eines Sackes, aus dem es tropfte, und der Katze, die dort herumschnupperte, ich hatte keine Kinder, will heißen, ich hatte eines und habe es verloren, in welche Grube haben sie es geworfen, mein Mann
– Sie haben es in überhaupt keine Grube geworfen es war noch nicht mal ein Baby
während das Fahrrad langsam den Hang hinauf nach Hause fuhr, ich erinnere mich an den Klang der Klingel, die des Briefträgers war lauter, heute Morgen bin ich angekommen, um mich vom Haus zu verabschieden, in der nächsten Woche übergeben wir die Schlüssel, die Bäume sind mir böse, solche Gefühle bemerkt man
– Wie gemein von dir uns zu verlassen
sie werden mich heute Nacht nicht ansehen, werden so tun, als hätten sie vergessen, wer ich war, Zimmer ohne Möbel, ein Stück Papier auf dem Boden, hin und her, Reste von Stroh aus einer Matratze an der Stelle, wo mein Bett gestanden hat, die gleichen Ameisen wie einst in der Küche, aber die Borde ohne Krüge, ein Paket Zucker, mit einer Wäscheklammer verschlossen, allein im Schrank, und die Erinnerung an meinen Vater, wie er hier in der Speisekammer nach der Flasche suchte, ich an seine Hast gewandt, die es nicht mehr gab, doch seine zittrigen Finger lösten sich aus meiner Erinnerung
– Es sind keine Flaschen mehr da Vater
und mein Vater schaute trotzig in eine Truhe, probierte es bei einer Schachtel, gab auf, starrte mich an, mit wirren Haarsträhnen, ich kann mich an mein Blond nicht gewöhnen, Sie sind schon jahrelang tot, warum kommen Sie hierher zurück, Senhor, ausgerechnet heute, um mich mit Ihrem Durst zu quälen, dazu das Taschentuch, mit dem Sie glauben, die Stirn abzuwischen, aber sogar das Gesicht verfehlen, es winkt ein zielloses Adieu, überlegt einen Augenblick lang hin und her pendelnd, wird schließlich in der Tasche unsichtbar, ähnlich wie eine Katze im Sack, kurz darauf reglos, man gräbt im Garten eine Grube, und sie verschwindet für immer, während das, was von Ihnen noch geblieben ist, durchs Zimmer stolpert, meine Mutter zur Sonnensegelnachbarin, indem sie auf uns zeigt
– Sie sind zu nichts nutze
mein Kreuz, Dona Liberdade, ein Tauber, eine, die zu nichts taugt, einer, der sich umbringt, und ein Verrückter, einmal ganz abgesehen vom Ehemann mit seinen Alkoholnebeln
– Nimm die Spinnen von mir weg
ein Sauhaufen, beste Freundin, mir war so, als wäre da beim Alto da Vigia Mariscos & Bebidas ein Räuber, aber bei genauerem Hinsehen nur ein vom Meereswind geschüttelter Busch, zwei oder drei spindeldürre von den Zigeunern vergessene Esel, die mit schwächlichen Hufen die Welt betreten, schweigend wie das Meer und die Kiefern, die mich enttäuscht anschauen
– Wirst du uns wirklich verlassen?
und mein tauber Bruder schien das zu verstehen, was man daran sah, wie seine Augenbrauen sich verzogen, schlug man mit einem Löffel gegen einen Topf, blieb mein tauber Bruder teilnahmslos, schwiegen wir nachdenklich, er, jeden Buchstaben abwägend
– Vielleicht
er fand vor den anderen, wie, weiß ich nicht, heraus, dass ich heiraten wollte und zog mich auf den Flur
(viel weniger Möwen als damals, als ich klein war, warum?)
hauchte
– Nein
viel weniger Möwen, kein einziger Räuber, das Alto da Vigia nicht vorhanden, kein Erker, kein Stück Gemüsegarten, Unkraut wiegte sich unermüdlich, einer der Esel stürzte ab, als die Spitze eines Felsens nachgab, und rings um ihn herum die Hunde, klapperdürr, ich wachte mitten in der Nacht in der Gewissheit auf, dass mich das Meer durch die geschlossenen Rollläden hindurch rief, wer hat ihm meinen Namen verraten, ich wandte den Kopf zum Fenster und spürte, wie das Meer mich ansah, wenn ich mich den Rollläden nähern würde, so viel Dunkelheit, wo sind die Augen geblieben, der Esel wurde aufgedunsen ans Ufer gespült, mit steifen Beinen, nur Zähne, mein Vater, ebenfalls aufgedunsen, im Pyjama
– Hast du da irgendwo eine Flasche gesehen Kleine?
die Füße matt vom Laufen, eine Stimme, die sich mühsam einen Hang hinaufschob, meine Mutter
– Willst du dich umbringen wie dein ältester Sohn?
ich bin zu diesem Haus gekommen, um mich von ihm zu verabschieden, die Bademeister bedeckten den Esel mit einem Wachstuch und nahmen ihn mit ins Lagerhaus, Echos von Kiefern im Echo meiner Schritte, wer von uns ist Baum und wer von uns bin ich, eine Amsel wechselte unter Buchseitengeraschel den Zweig, die Zimmer wurden immer größer, mir war, als wäre da der Fetzen eines Kleides von Esmeralda, einer Puppe, die ich einmal hatte, aber am Ende war es die Sonne auf einer Tellerscherbe, wenn es mir einfiele, mich mitzuteilen, in wie viele Stimmen würde meine Stimme sich aufteilen, meine Mutter
– Kannst du nicht mal stillhalten?
während sie die Bluse zuknöpfte, die mich im Rücken piekste, das Einzige, was mich beim Gedanken ans Großwerden stört, ist, dass mein ältester Bruder nicht mehr mit mir auf der Querstange zum Strand fährt, von der nächsten Woche an, nachdem ich die Schlüssel übergeben habe, werde ich nicht imstande sein, das Haus von ferne anzusehen, die Zeitungsseiten glitten zu Boden, während mein Vater schlief, hin und wieder ging er in die Speisekammer, um heimlich einen Schluck zu nehmen
– Hustensaft Kleine Hustensaft
Ohren und Stirn in einer anderen Farbe, den Kiefern sagen, dass sie mich nicht anschauen sollen, es ist nicht meine Schuld, wir kamen im August an und fuhren während der Springfluten wieder ab, wenn die Möwen nicht am Strand waren, sondern auf den Schornsteinen saßen, die Wellen die Strandmauer erreichten und den Sand mit sich forttrugen, einmal abgesehen vom Sommer und der Stimme meiner Mutter, meine Brüder und ich auf der Rückbank des Autos voller Koffer, sie nach vorn schauend und ich, auf Knien, in die Gegenrichtung, ich sah, wie in der Fensterscheibe die Ferien immer kleiner wurden, der Kiosk, das Café mit dem Tischfußball, die letzten Bäume und dann die Straße, die Tankstelle, in der wir Pipi machen mussten, auch wenn wir nicht mussten, meine Brüder bei der Tür mit der Silhouette des Mannes und ich bei der Tür mit der Silhouette der Frau, wohin meine Mutter mich schon nicht mehr begleitete
– Wasch dir ordentlich die Hände
und ich war stolz, ganz allein dort hineinzugehen, immer Spuren von Parfüm, mein Gesicht ganz unten im Spiegel, ich brauchte Ewigkeiten, um weiter oben in den Spiegel zu kommen, es gab eine dritte Tür mit der...
Erscheint lt. Verlag | 2.11.2015 |
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Übersetzer | Maralde Meyer-Minnemann |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Não é mei noite quem quer |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | eBooks • einsame Frau • Klippe • Lebensrückschau • Lehrerin • Metaphern • portugiesische Küste • Roman • Romane • Sprachrhythmus • Stimmenvielfalt • Strandhaus |
ISBN-10 | 3-641-15569-X / 364115569X |
ISBN-13 | 978-3-641-15569-8 / 9783641155698 |
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