Der Clan der Wölfe, Band 5 - Knochenmagier (eBook)
256 Seiten
Ravensburger Buchverlag
978-3-473-47656-5 (ISBN)
Edme hatte ihre Wache am Vulkankreis beendet. Erschöpft und mutlos stieg sie von ihrem Knochenhügel herunter. Die letzten zwölf Monde waren hart gewesen, schlimmer als alles, was die Hinterlandwölfe je erlebt hatten. Die Rentierherden waren verschwunden, und damit ihre wichtigste Fleischquelle. Seitdem hungerten die Wölfe. Eine Zeit endloser Hungermonde war angebrochen, denn Frühling und Sommer blieben aus, genau wie die Herden. Es herrschten nur Eis und Kälte. Viele Wölfe waren gestorben. Zu allem Übel tauchte auch noch ein falscher Prophet auf, der die Wölfe auf Abwege führte. Er trug die Maske und den Helm von Gwyndor, einem berühmten Eulenkrieger, der im letzten Glutkrieg gefallen war. Doch statt die hungernden Wölfe zu retten, wie er ihnen weismachte, hatte er viele von ihnen in den Tod geführt.
Faolan und Edme hatten den Propheten gefangen und entlarvt, aber die Toten wurden davon nicht wieder lebendig. Danach war Faolan mit seinen Schwestern zur Stummelkrallen-Spitze gewandert. Er wollte ihnen den Drumlyn zeigen, den er zu Ehren ihrer Mutter errichtet hatte.
Edme war allein zurückgeblieben und sie vermisste ihre Freunde. Auch die, die für immer von ihnen gegangen waren. Als Erstes hatte Edme ihre Taiga Blink in der Hungersnot verloren, dann ihren Malcadh-Freund Tearlach. Und jetzt war sie ganz allein. Eine einsame Träne tropfte aus ihrem Auge, als sie am Fuß ihres Knochenhügels ankam.
Aber was war das? Edme spitzte die Ohren. Ein tiefes Grollen drang aus den Vulkankratern und eine hohe, schmale Flamme schoss in den Himmel empor. Wie eine Blutfontäne, dachte sie schaudernd. Im Flammenschein blitzte die Träne auf ihrer Wange rubinrot auf und Zwirbel, der gerade vorüberkam, blieb wie angewurzelt stehen.
„Was ist mit dir, Edme? Hast du dich verletzt?“, fragte er besorgt.
„Aber nein“, murmelte Edme verlegen. „Ich weiß nicht, wovon Ihr redet.“
„Oh“, sagte Zwirbel kopfschüttelnd. „Ich hätte schwören können, dass aus deinem Auge Blut tropft, Edme. Aber es war nur das Licht, wie ich jetzt sehe. Was bin ich doch für ein dummer alter Kerl!“
Dann wandte er den Kopf zum H’rathgar-Vulkan. „Das alte Mädchen da drüben gefällt mir nicht, Edme. Sie spielt sich ganz schön auf in letzter Zeit. Und die vier anderen auch, wenn du mich fragst.“ Er hielt inne. „Nun ja, vielleicht werden sie ein bisschen schrullig. Aber trotzdem …“, er drehte sich wieder zu Edme um, „das hier sind merkwürdige Zeiten, oder? Wie war deine Wache?“
„Gut. Alles bestens.“
Ein ohrenbetäubendes Krachen erfüllte die Luft. Zwirbel geriet ins Stolpern. Dann zerbarst der Boden unter ihren Füßen und im nächsten Moment war der Taiga verschwunden. Die Erde bebte erneut, ein heißer Windschwall riss Edme in die Luft. Die Welt wurde schwarz und es regnete rote Glutbröckchen.
Der Vulkankreis stürzt ein. Die Glut ist dahin. Mein Dienst ist vorüber. Ich bin frei – frei, um allein zu sterben. Allein! Allein!
Das waren die letzten Gedanken, die Edme durch den Kopf gingen. Dann wurde es Nacht um sie.
Im Schattenwald, fernab vom Vulkankreis, kreiste Gwynneth, die Maskenschleiereule, über einer Blautanne. Es flog sich hervorragend in der glatten, samtigen Nachtluft. Der Baum war die Grabstätte ihres Vaters Gwyndor, die der falsche Prophet entweiht hatte. Aber Gwynneth hatte das Grab wieder in Ordnung gebracht und die Knochen ihres Vaters in einer Baumhöhle hoch oben versteckt, zusammen mit seiner Maske. Jetzt konnte Gwyndor in Frieden ruhen, nachdem die Freveltat des einstigen Oberhaupts des MacDuncan-Clans, Liam MacDuncan, wiedergutgemacht war. Liam hatte vor Hunger den Verstand verloren – das letzte Fünkchen Vernunft, das er je besessen hatte. Mit Gwyndors Maske getarnt, hatte er viele verzweifelte Wölfe in den Tod geführt.
Wunderbar, wunderbar!, wisperte die Stimme, die nicht wirklich eine Stimme war, als Gwynneth den letzten Knochen in die Höhle legte. Langsam erschien ein Geisterschnabel als dunstiger Nebel über ihr und schwebte durch die Äste des Baums.
Die Sark, die unten am Boden kauerte, hob ihre Schnauze zu Gwynneth empor. „Riechst du das? Nein, natürlich nicht. Ihr Eulen riecht ja nicht mal einen Haufen Rentierkacke, selbst wenn er direkt vor eurem Schnabel liegt.“
„Aber ich rieche es auch“, wisperte Liam und stürzte sich in die tiefste Unterwerfungshaltung. Sein Schwanz war so fest zwischen die Beine geklemmt, dass man ihn für schwanzlos hätte halten können.
Dann kam Wind auf. Der Geisterschnabel wurde zerfetzt und die Tanne erbebte bis in die Wurzeln. Die winzigen Wirbelknochen, die Gwynneth so behutsam in der Baumhöhle verstaut hatte, schossen heraus wie ein weißer Hagelschauer.
„Großer Glaux!“, kreischte Gwynneth, wie nur eine Maskenschleiereule kreischen konnte. Die Sark unter ihr torkelte hilflos umher. Ein riesiger Felsbrocken lockerte sich und polterte den Hang hinunter. Liam MacDuncan schrie gellend auf und im nächsten Moment zersplitterten seine Knochen unter dem Felsen.
„Lauft, Madame, lauft!“, schrie Gwynneth. Aber die Sark war verschwunden. Die Erde unter ihr war ein Bild der Verwüstung. Riesige Furchen klafften in der dicken Schneedecke, die so lange über den Hinterlanden und dem Schattenwald gelegen hatte. Die Blautanne krümmte sich fast bis zum Boden, sodass noch mehr Wirbelknochen aus der Höhle flogen. Nur Gwyndors Maske blieb an ihrem Platz.
„Die Maske gehört dorthin, komme was wolle“, wisperte Gwynneth. Der Baum war schließlich die Heldenmarke ihres Vaters.
Dann erzitterte die Luft um sie herum. Die Bäume ruckten und zuckten wie in einem uralten Tanz. Gwynneth, die hoch über allem schwebte, schaute voller Entsetzen zu, wie der ganze Wald entwurzelt wurde. Wie Rüben flutschten die Stämme aus dem Boden und flogen durch die Luft. Gwynneth spürte, wie ihre Flügel erlahmten.
Beim Glaux, ich krieg die Flügelstarre!
Ihr Magen flatterte vor Angst und ihr Fluginstinkt ließ sie im Stich. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen stürzte die Blautanne um und Gwynneth blickte schaudernd zum Himmel, der vom Widerschein der lodernden Vulkanglut erfüllt war. Dann trudelte der Helm ihres Vaters herunter, langsam, ganz langsam, als kreiste eine rote Teufelseule durch die Nacht. Gwynneth legte die Flügel an und stürzte zu Boden.
Seit der Pfeifer in der Blutwache diente, schlief er meistens in der Höhle, die Faolan ihm vor über einem Mond gezeigt hatte. Es war ein sonderbarer Ort. Rätselhafte Zeichnungen prangten an den Wänden der weit verzweigten Gänge. Aber der Pfeifer fühlte sich wohl hier. Die Höhle erinnerte ihn an seinen besten Freund Faolan.
Der Pfeifer und Faolan kannten sich, seit Faolan nach seinem einsamen Jahr in der Wildnis zum MacDuncan-Clan zurückgekehrt war. Beide mussten dem Clan damals als Knochennager dienen, nachdem sie wegen ihrer Missbildungen als Malcadh ausgesetzt worden waren. Malcadh bedeutete „verflucht“ in der Wolfssprache.
Beim Pfeifer war fast nichts davon zu merken – nur wenn er sein Maul aufriss, um zu knurren oder zu sprechen. Er hatte ein zackiges Loch in der Kehle, das jeden Laut, den er von sich gab, in ein schrilles, heiseres Pfeifen verwandelte. Die Welpen in seinem Rudel hatten ihm immer „Zischschlange“ nachgerufen. Aber solche Dummheiten waren ihnen in den Hungermonden längst vergangen. Niemand brachte jetzt noch die Kraft auf, andere zu ärgern oder zu quälen.
Im vergangenen Mond war der Pfeifer in die Blutwache aufgenommen worden, was früher für einen Knochennager undenkbar gewesen wäre. Jetzt hütete er mit anderen Wölfen die Grenze zu den Frostlanden, dem Streifgebiet der gefürchteten Clanlosen. In der Blutwache war er einfach „der Pfeifer“, ein geachteter Wolf. Niemand beschimpfte oder misshandelte ihn. Er war sogar zum Leutnant aufgestiegen, dem zweithöchsten Rang der Blutwache.
Der Pfeifer hatte gerade eine Doppelschicht hinter sich und war hundemüde. Trotzdem konnte er nicht schlafen. Er vermisste seine Freunde, nicht nur Faolan, sondern auch Edme und Faolans Schwestern. Langsam trottete er durch die geräumige Höhle und sog die letzten Überreste der Duftspuren ein, die seine Freunde in ihrer gemeinsamen Zeit hinterlassen hatten. Endlich hatte er sich satt geschnüffelt und sein Blick fiel auf die Bilder an den Wänden. Er lief durch Gänge, die er vorher nie gesehen hatte, bis ihn eine Zeichnung besonders anzog. Sie zeigte einen Byrrgis, eine Jagdformation, die nach Osten glitt, mit einem gebrechlichen alten Wolf an der Spitze.
Das Bild hatte etwas Urtümliches, Majestätisches, das den Pfeifer zutiefst berührte. Als stünde er am Schnittpunkt zweier Welten und zweier Geschichten. Geschichten, die ihn in ihren Bann zogen, ihn ganz und gar einhüllten. Zum ersten Mal fühlte er sich gebunden, vom Clangeruch umfangen. Nur war das hier nicht der Geruch der MacDuncan, sondern der ferne, uralte Geruch längst vergangener Clans und Wesen aus grauer Vorzeit.
Der Pfeifer folgte den Bildern zu einem Durchgang, den er noch nie bemerkt hatte. Die Glimmerplättchen im Gestein waren die einzige Lichtquelle hier, aber er konnte die Einritzungen in den Wänden dunkel erkennen. Es war ein großes Bild und er musste zurückweichen, um die Szene als Ganzes zu erfassen. Er entdeckte ein Geschöpf mit Flügeln, eine Hoole, wie Eulen in der alten Wolfssprache genannt wurden. Die Eule schwebte über...
Erscheint lt. Verlag | 1.6.2015 |
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Reihe/Serie | Der Clan der Wölfe |
Der Clan der Wölfe | |
Illustrationen | Wahed Khakdan |
Übersetzer | Ilse Rothfuss |
Verlagsort | Ravensburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur |
Kinder- / Jugendbuch ► Kinderbücher bis 11 Jahre | |
Schlagworte | Abenteuer • abenteuerliche Tier-Fantasy • Anführer • Bestimmung • Buch • Bücher • Chaos • Erdbeben • Fantasie • Freunde • Gefahr • Gemeinschaftsgefühl • Geschenk • Geschenkidee • Legende der Wächter • Lesen • Literatur • Schicksal • Tiere • Träume Buch • Überleben • Warrior Cats • Wolf |
ISBN-10 | 3-473-47656-0 / 3473476560 |
ISBN-13 | 978-3-473-47656-5 / 9783473476565 |
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