Die zweite Schuld (eBook)

Oder Von der Last Deutscher zu sein
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2015 | 1. Auflage
384 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30938-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die zweite Schuld -  Ralph Giordano
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Aktueller denn je - der Klassiker der politischen Literatur. Ralph Giordanos erschütternde Studie untersucht die Folgen der moralischen Katastrophe, die ein Ausbleiben des Bekenntnisses zur Kollektivschuld bedeutete. Er schildert eindrücklich, wie das Versagen der deutschen Gesellschaft nach dem Holocaust die politische Kultur der Bundesrepublik geprägt hat. Und er weist nach, wie »der große Frieden mit den Tätern« zu einem Fundament der Staatsgründung wurde. In ihrem Nachwort beschreibt die Schriftstellerin Lena Gorelik die Aktualität dieses Buchs in einer Zeit, in der rechtsextreme Gedanken und Taten eine beängstigende Normalisierung erfahren.

Ralph Giordano wurde 1923 in Hamburg geboren. Nach der Befreiung am 4. Mai 1945 durch britische Truppen arbeitete er als Journalist und Publizist, als Fernsehdokumentarist und Schriftsteller. Er ist Autor zahlreicher Bestseller, darunter »Die Bertinis« (1982), »Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein« (1987), »Ostpreußen ade« (1994), »Deutschlandreise« (1998), »Sizilien, Sizilien! Eine Heimkehr« (2002) und »Erinnerungen eines Davon - gekommenen« (2007). Zuletzt erschien sein Buch »Mein Leben ist so sündhaft lang: Ein Tagebuch« (2010). Er starb am 10. Dezember 2014 in Köln.

Ralph Giordano wurde 1923 in Hamburg geboren. Nach der Befreiung am 4. Mai 1945 durch britische Truppen arbeitete er als Journalist und Publizist, als Fernsehdokumentarist und Schriftsteller. Er ist Autor zahlreicher Bestseller, darunter »Die Bertinis« (1982), »Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein« (1987), »Ostpreußen ade« (1994), »Deutschlandreise« (1998), »Sizilien, Sizilien! Eine Heimkehr« (2002) und »Erinnerungen eines Davon – gekommenen« (2007). Zuletzt erschien sein Buch »Mein Leben ist so sündhaft lang: Ein Tagebuch« (2010). Er starb am 10. Dezember 2014 in Köln.

2.


Jede zweite Schuld setzt eine erste voraus – hier: die Schuld der Deutschen unter Hitler. Die zweite Schuld: die Verdrängung und Verleugnung der ersten nach 1945. Sie hat die politische Kultur der Bundesrepublik Deutschland bis auf den heutigen Tag wesentlich mitgeprägt, eine Hypothek, an der noch lange zu tragen sein wird.

Denn es handelt sich nicht um einen bloß rhetorischen Prozess, nicht um einen Ablauf im stillen Kämmerlein. Die zweite Schuld hat sich vielmehr tief eingefressen in den Gesellschaftskörper der zweiten deutschen Demokratie. Kern ist das, was in diesem Buch der »große Frieden mit den Tätern« genannt wird – ihre kalte Amnestierung durch Bundesgesetze und durch die nahezu restlose soziale, politische und wirtschaftliche Eingliederung während der ersten zehn Jahre der neuen Staatsgeschichte. Das zweite Codewort, gleichsam der rote Faden von der ersten bis zur letzten Seite, ist der »Verlust der humanen Orientierung«, ein tief aus der Geschichte des Deutschen Reiches bis hinein in unsere Gegenwart wirkendes Defizit. Beide Codewörter – der große Frieden mit den Tätern und der Verlust der humanen Orientierung – korrespondieren miteinander und bilden meine Betrachtungsgrundlage.

Hauptschauplatz ist die Bundesrepublik Deutschland, obwohl sich bestimmte Abläufe der zweiten Schuld auch auf die Deutsche Demokratische Republik übertragen ließen. Davon wird in einem Kapitel die Rede sein.

Hauptthema ist die historische Fehlentscheidung einer Mehrheit der heute älteren und alten Generationen, sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und der eigenen Rolle in ihr nicht ehrlich auseinanderzusetzen, belastende Erinnerungen abzuwerfen und sich aus einem kompromittierenden Abschnitt selbst erlebter und mitgestalteter Nationalgeschichte herauszustehlen. Dies in Mittäterschaft einer Vielzahl bundesdeutscher Politiker aller Parteien, die um der Wählerstimmen willen dem nationalen Kollektiv der Hitleranhänger bei Verdrängung und Verleugnung weit entgegengekommen sind und damit ihren Anteil zur zweiten Schuld beigetragen haben.

Gleich eingangs also entschiedener Gebrauch eines hierzulande so verpönten Reizwortes wie Schuld. Das ist gegen das feingesponnene Netz der Nachsicht, das die Verdränger – und die auf ihre Stimmen erpichten Politiker – über nunmehr fast vierzig Jahre gewoben haben, und passt deshalb nicht in den ungeschriebenen bundesdeutschen Politknigge. Der Leser soll daran früh erkennen, wie wenig Rücksicht auf solche schlechten Gewohnheiten genommen wird.

Wenn der Einwurf käme, hier werde also angeklagt, so widerspräche ich nicht. Das täte ich erst, wenn behauptet würde, ich erhöbe Anklage. Denn die wohnt dem Thema selbst ganz natürlich inne, geht es doch nicht etwa um moralische Kategorien allein, sondern auch um einen blutig-realen Hintergrund von nie da gewesenen Dimensionen – um Auschwitz und um alles, was dieser Name symbolisiert und materialisiert. Jeder persönliche Zusatz wäre nicht nur überflüssig, er wäre auch vermessen. Der Einzelne kann dem Urteil der Geschichte nichts mehr hinzufügen, es ist gefällt.

Bei uns hat sich eingebürgert, jede Thematisierung von Schuld in Zusammenhang mit der Nazizeit als Selbstanmaßung, als politisches Pharisäertum zu verdächtigen. Hinter dieser bezeichnenden Allergie gegen Anklage steckt die Absicht, publizistische Bearbeitungen der Schuldfrage überhaupt zu verunglimpfen. Die Schuldangst, die das öffentliche Bewusstsein der bundesdeutschen Gesellschaft so lange panisch bestimmt hat und, wenn auch abgeschwächt, heute noch bestimmt, hat damit ein sehr erfolgreiches Abschreckungsrezept gefunden. Umso wichtiger, dem Widerstand zu leisten und zu fragen: Wann werden die Generationen der Eltern und Großeltern endlich aufhören, die eigenen Söhne, Töchter, Enkelinnen und Enkel mit ihren Rechtfertigungszwängen zu belasten? Erst wenn auch das biologische Ende dieser Generationen gekommen ist? Das kann noch gut zwanzig Jahre dauern. Es ist den schuldlos beladenen Nachkommen jedoch schon genug an historischer, politischer und moralischer Klarsicht verstellt worden.

Anklage – Selbstanmaßung – Pharisäertum? Ich will nichts als mein Lichtmolekül in jene Finsternis tragen, in die die hartnäckige Verdrängungsleistung der heute Alten und Älteren ihr eigen Fleisch und Blut gestürzt hat. Es lohnt nicht mehr, den noch lebenden Rest der Jasager und Versager anzuklagen. Schuldbehandlung als Schuldaufklärung – das ist der Tenor dieses Buches. Es gibt dankbarere Beschäftigungen, wichtigere kaum.

Von der Last, Deutscher zu sein.

Wenngleich Unbelehrbarkeit, Verdrängung und Verleugnung bald weniger primitive Ausdrucksformen fanden als in jenem Oktober 1945 dort auf der Hamburger Grindelallee und sich verdeckter, taktischer gaben – die zweite Schuld setzte unmittelbar nach der ersten ein. Heute, mit der riesigen Erfahrung von vier Jahrzehnten, kann gesagt werden, dass die hartnäckige Verweigerung aus Angst vor Selbstentblößung eine Mehrheit der alten und älteren Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg weit stärker motiviert hat als das Wohl ihrer Kinder. Natürlich ist sie nicht bereit, ihre historische Fehlentscheidung mit dieser Konsequenz zu koppeln, aber, unabhängig von der subjektiven Bewusstlosigkeit gegenüber den Folgen der Verweigerung, war dies ihr objektives Resultat.

Zu diesem Zweck haben sich die Eltern und Großeltern mit erstaunlicher Ausdauer vors Gesicht gehalten, was hier die »Maske« genannt werden soll. Sichtbar wurde dahinter nur der Teil, den der Selbstschutz zu lüften gestattete, und das war wenig genug. Der andere, größere Teil wurde seit 1945 vor Kindern und Kindeskindern fintenreich – und oft genug wohl auch qualvoll – verdeckt gehalten. Die Maske ist inzwischen von Millionen und Abermillionen ihrer Träger mit ins Grab genommen worden.

Unter Hitler lag das Antlitz offen zutage, spiegelte sich in ihm, was damals von einer Mehrheit wirklich gedacht und gefühlt wurde. Gibt es doch überaus eindrucksvolle Foto- und Filmdokumente, die die ungestellte, geradezu hysterische Verlorenheit der Massen an Adolf Hitler auf das Verräterischste demonstrieren. Das spätere Bekenntnis der Zujubler jedoch zu Ursache, Wesen und Inhalt solch wollüstiger Hingabe fehlt fast vollständig. Dabei hätte niemand den Erfolg des Nationalsozialismus und seiner Wahnideen im Körper eines großen Volkes bis in die allerfeinsten Verästelungen genauer, umfassender und tiefgründiger enttarnen können als ebendas riesige Kollektiv der ehemaligen Hitleranhänger selbst – wenn es geständig gewesen wäre. Aber es war nicht geständig, und es verpasste so die einmalige Chance, zum eigenen, aber auch zum Wohl der Nachkommen, Herkunft und Beschaffenheit der deutschen Anfälligkeit für den Nationalsozialismus zu ergründen.

Am 17. Juli 1944 trug Thomas Mann an seinem kalifornischen Wohnsitz Pacific Palisades in sein Tagebuch ein:

 

»Man soll nicht vergessen und sich nicht ausreden lassen, daß der Nationalsozialismus eine enthusiastische, funkensprühende Revolution, eine deutsche Volksbewegung mit einer ungeheuren seelischen Investierung von Glauben und Begeisterung war.«

 

Das ist die Wahrheit, und alles andere, sage ich als Augenzeuge, ist Lüge. Die Verschmelzung war, bis auf Reste, total, und es gibt in der Geschichte der Deutschen kein Beispiel, das an diese Amalgamierung von Führung und Volk auch nur entfernt heranreichen könnte. Das war nur möglich durch einen ungeheuren Verlust der humanen Orientierung.

Die Hitlergenerationen, also jene, die von ihrem Lebensalter her für das Dritte Reich verantwortlich sind, aber auch die »Pimpf«- und Hitlerjugend-Jahrgänge, die zwar nicht in diesem Sinne verantwortlich, wohl jedoch vom Dritten Reich geprägt worden sind wie niemand sonst – sie alle werden eines Tages ausgestorben sein. Es ist jedoch der leugnenden und verdrängenden Mehrheit gelungen, mit ihrer großen Lebenslüge einen Teil der nachgewachsenen bundesdeutschen Gesellschaft zu beeinflussen. Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch …

Es muss gelingen, zu erforschen, was zwischen der Naziführung und der damaligen deutschen Nation so trefflich korrespondierte. Wir müssen ergründen, warum für die Mehrheit diese Ära »so schön«, »so begeisternd« war (Originalton Stammtisch via Bildschirm), während gleichzeitig doch alle bürgerlichen Freiheiten und Menschenrechte aufgehoben waren und Menschen ihrer politischen Überzeugung oder ihrer Rasse wegen verfolgt und schließlich zu Millionen wie Ungeziefer ausgerottet worden sind.

Wir müssen herauskriegen, warum sich die damaligen Deutschen dennoch die Kehle mit ihren »Heil! Heil!«-Rufen heiser gebrüllt haben und die ungeheuerlichsten Anstrengungen und Opfer erbrachten. Kurz, wir müssen in Erfahrung bringen, wie es zu diesem Verlust der humanen Orientierung kommen und weshalb er sich mit der zweiten Schuld so epidemisch bis in unsere Tage gegen Ende des Jahrhunderts fortsetzen konnte. Da die Umstände keineswegs »schön« und »begeisternd« waren (wie sich viel später wohl mancher selbst eingestand), muss es an der Beschaffenheit der damaligen Deutschen gelegen haben, dass sie so empfanden. Es kann jedoch keine Erkenntnisse der geschichtlichen Realität des Dritten Reiches geben, ohne dass die innere Verstrickung zwischen dem staatlich...

Erscheint lt. Verlag 11.5.2015
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Deutschland • Gesellschaft • Holocaust-Aufarbeitung • Kiepenheuer & Witsch • Kollektivschuld • Kollektiv-Schuld • Krieg • Kultur • Nachkriegszeit • Nazi-Verbrechen • Politik • Sachbuch • Verdrängung
ISBN-10 3-462-30938-2 / 3462309382
ISBN-13 978-3-462-30938-6 / 9783462309386
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