Die Unbelangbaren (eBook)

Wie politische Journalisten mitregieren

(Autor)

eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
180 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74083-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Unbelangbaren -  Thomas Meyer
Systemvoraussetzungen
14,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
»Eine solche Jagd hat es in der Geschichte der Bundesrepublik bis dato nicht gegeben.« Mit diesen Worten beschrieb Heribert Prantl die Berichterstattung in der Affäre um Christian Wulff. Wie kaum ein anderes Ereignis in den vergangenen Jahren hat uns die Causa Wulff das spannungsreiche Verhältnis von Presse und Politik vor Augen geführt. Ein spektakulärer Fall. Aber nicht der erste und sicher nicht der letzte seiner Art, denn Journalisten, so die These von Thomas Meyer, nutzen ihre Position immer häufiger, um in der politischen Arena mitzumischen. Eine problematische Entwicklung, schließlich können wir Fernseh- und Zeitungsmacher, anders als Politiker, nicht einfach abwählen.

<p>Thomas Meyer, geboren 1943, ist Prof. em. für Politikwissenschaft an der TU Dortmund. In der edition suhrkamp erschien 2001 sein vieldiskutiertes Buch <em>Mediokratie. Die Kolonisierung der Politik durch die Medien </em>(es 2204).</p>

Einleitung:
Ein demokratisches Paradox


»Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.«[1] Dieser beinahe sprichwörtlich gewordene Satz von Niklas Luhmann schließt eine Aussage ein, die man folgendermaßen formulieren könnte: Darum wissen wir kaum etwas über die Medien, denn was wir über sie wissen können, bestimmen sie weitgehend selbst. Ulrich Beck hat den Punkt jüngst zugespitzt: »[D]ie politische Macht hat, wer über die Zulassung von Themen zur Öffentlichkeit entscheidet.«[2] Sobald die beiden Aussagen in Verbindung gebracht werden, zeigt sich das höchst folgenreiche Paradox, dem moderne Demokratien im Zeitalter der Massenmedien unterworfen sind: Die Medien zeigen uns die Welt – allerdings nicht wie in einem Spiegel, sondern unvermeidlich als von ihnen erzeugte Welt, als Ergebnis eines höchst eigensinnigen Auswahl- und Produktionsprozesses. Diesen Prozess selbst zeigen sie aber nicht: weder die Filter noch die Zutaten, noch die »geheimen« Künste ihres Handwerks. Das ist auch nicht in ihrem Interesse, sollen wir doch weiterhin glauben, dass sie uns und unserer Welt lediglich den Spiegel vorhalten. So wie die Medien heute verfasst sind, werden sie zur öffentlichen Selbstaufklärung über ihre Funktion wohl wenig beitragen. Wollen wir uns ein verlässlicheres Bild von modernen Mediendemokratien machen, müssen wir versuchen, uns selbst ein Verständnis der Vorgänge zu erarbeiten; rekonstruiert man die Mechanismen der Branche, sieht man, wie hochgradig fremdbestimmt wir heute sind. Im allgemeinen Bewusstsein wird diese Sachlage allerdings von dem angesprochenen, sich immer wieder aufdrängenden, dabei jedoch gründlich in die Irre führenden Bild der Medien als Spiegel wirkungsvoll überspielt. Selbst wenn wir dieses Bild als grobe Annäherung akzeptieren würden, wären die Massenmedien ja die Rückseite dieses Spiegels. Wer nicht darauf achtet, worauf er gerichtet wird und worauf nicht, wer sich nicht dafür interessiert, wann er auf Vergrößerung eingestellt ist und wann auf Verkleinerung oder gar Verzerrung, wer keine Sensibilität dafür entwickelt, über welche Themen er lediglich hinweghastet und bei welchen er ungebührlich lange verweilt, weiß am Ende nichts Verlässliches von der Welt, die ihm da gezeigt wurde. Und ist doch überzeugt, sie mit eigenen Augen gesehen zu haben. Dass die Sonne am Abend nicht untergeht, ist heute auch jenen klar, die sich von diesem vermeintlichen Abschied noch rühren lassen. Wie jedoch in den Massemedien gesiebt, gewichtet, zugespitzt, gefärbt und modelliert wird, können sogar jene allenfalls ahnen, die prinzipiell wissen, dass es diese Künste sind, die das Geschäft des Journalismus ausmachen.

Das alte Paradox bleibt bestehen, seine Folgen werden immer problematischer: Die Medien (nicht zuletzt das Internet) erreichen immer mehr Menschen, sie sind rund um die Uhr verfügbar, können praktisch in Echtzeit berichten; ihr Einfluss wächst, doch damit wächst auch ihr blinder Fleck – und die Notwendigkeit zu verstehen, nach welchen Regeln sie Themen auswählen und wie sie darüber berichten. Gelingt uns dies nicht, werden wir möglicherweise bald wie Blinde von unbekannten Mächten durch die Landschaften des Politischen geführt. Jedenfalls ist es bereits heute so, dass wir permanent akribisch über alle möglichen Kanäle recherchieren müssen, wenn wir überhaupt die Chance haben wollen, medial vermittelte Schilderungen zu überprüfen. Autonomie sieht anders aus.

Im privaten wie im öffentlichen Leben gibt es Ereignisse, die plötzlich einen Zustand ans Licht bringen, der zuvor verdeckt war. Genau das ist im Zuge des bundesdeutschen Wahlkampfjahres 2013 im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Massenmedien und Politik geschehen. Die entsprechenden Vorgänge haben eine Vielzahl von Kommentaren ausgelöst, sowohl von Betroffenen als auch von Beobachtern. Vor allem haben sie einen kundigen Protokollanten gefunden: Der FAZ-Journalist Nils Minkmar, ein geachteter Vertreter seiner Zunft, hatte über ein ganzes Jahr hinweg nahezu unbegrenzten Zugang zum sozialdemokratischen Spitzenkandidaten Peer Steinbrück und so die Gelegenheit, das Verhältnis von politischer und medialer Realität zu studieren, die Vorgänge auf und hinter der Bühne zu vergleichen. In seinem aufschlussreichen Buch Der Zirkus gelangt Minkmar zu folgendem Fazit: Die großen Sachthemen, über die in der Wahl eigentlich hätte abgestimmt werden sollen, kamen in dem immer selbstbezüglicher werdenden und auf die Person des Herausforderers fokussierten Spektakel so gut wie gar nicht zur Sprache. Der aufgekratzte Medienzirkus präsentierte ein auf gespenstische Weise verzerrtes Bild der politischen Welt. Politik im engeren Sinne wurde dabei zur Nebensache.

Das Ziel der maßgeblichen Medienleute bestand darin, selbst unmittelbar im Prozess der Machtbildung mitzumischen. Einflussreiche deutsche Journalisten erweckten den Anschein, der Kandidat sei ein kaputter Politiker ohne Programm. Sie wollten verhindern, dass er Kanzler und sein Programm Politik wurde, und konstruierten dabei ein Bild, das am Ende keinerlei Bezüge mehr zur Person des Kandidaten hatte und zu der Sache, für die er einstand. Das Medienkarussell drehte sich mit schwindelerregender Geschwindigkeit, die Journalisten bestätigten sich permanent gegenseitig selbst, die Leitmedien und ihre Gefolgschaft lieferten sich einen Überbietungswettbewerb, der früh geprägte Klischees so lange zementierte, bis nirgends mehr ein frischer Blick auf die Wirklichkeit möglich war. Dem eigentlich politischen Kern dieses Wahlkampfs, nämlich dem Umstand, dass die Amtsinhaberin beharrlich verschwieg, was sie im Fall ihrer Wiederwahl vorhatte, ging niemand auf den Grund.

Die Welt als Wille und Vorstellung eines selbstbewussten Journalismus, der sein Maß nur noch in sich selbst findet, da wirksamer Einspruch bei diesem gesellschaftlichen »Teilsystem« – im Unterschied übrigens zu allen anderen – nicht möglich ist, weil alles, was über dieses System öffentlich gesagt werden kann, durch dieses System selbst hindurch muss. Der politische Journalismus ist durch seine Stellung im gesellschaftlichen Kommunikationssystem unbelangbar geworden und scheint entschlossen, diese Chance nach Kräften zu nutzen.[3] Bei einer zentralen Gruppe von Alphajournalisten ist eine Erosion essentieller professioneller Maßstäbe zu beobachten, sie agieren längst, als hätten sie ein privilegiertes politisches Mandat. Ihren Höhepunkte erreichte diese Entwicklung, als sich einer der Wortführer wenige Tage vor der Wahl ermächtigt wähnte, den ohnehin bereits ins persönliche und psychische Elend heruntergeschriebenen Kandidaten im Spiegel wie einen Psychopathen auf die Analytikercouch zu legen und ihm auf der Zielgeraden in einer seitenlangen, Details akribisch auflistenden Krankenakte politische Unzurechnungsfähigkeit und charakterliche Untauglichkeit zu bescheinigen. Wie anmaßend, wie bar jeden politischen Gehalts dieses unmittelbar vor dem Wahltag präsentierte Bulletin war, fiel nach dem Vorangegangenen schon gar nicht mehr groß auf. Kaum ein Kollege hat es moniert, empört scheint es niemanden zu haben. Was einst als übergriffig wahrgenommen worden wäre, steht im Begriff, sich fest einzubürgern.

Um eines klarzustellen: Nirgends, wo Medienfreiheit herrscht, kann der Journalismus ein monolithischer Block sein. Profil und Farbe, Kompetenz und Ethos, vor allem auch der politische Machtwille begegnen in diesem illustren Berufszweig wie in den meisten anderen (zumal in der Politik) in größtmöglicher individueller Variation. Allerdings ist diese Berufsgruppe für die Gesellschaft und die Politik – also für das, was uns alle unmittelbar angeht – von einzigartiger Bedeutung. Gleichzeitig verbinden sich in dieser Branche auf widersprüchliche Weise zwei strukturelle Momente, ohne dass auch nur ansatzweise klar wäre, ob und wie sich diese Konstellation mit einem Verständnis von Demokratie als wohlinformierte politische Selbstbestimmung der Bürger verträgt – wobei diese Frage nicht zum Gegenstand öffentlicher Erörterungen werden kann, weil die Entscheidung, worüber diskutiert werden soll und worüber nicht, ihrerseits allein in den Händen der Journalisten liegt. Dieses Veröffentlichungsmonopol ist das erste der beiden genannten Momente; in einer freien Welt führt es mehr oder weniger automatisch zum zweiten: der prinzipiellen Unbelangbarkeit des Journalismus, die lediglich von einigen Tatbeständen im bürgerlichen und im Strafrecht eingeschränkt wird, die eng gefasste Persönlichkeitsrechte schützen und daher die Sphäre, in der die politischen Übergriffe stattfinden, gar nicht erfassen.

Um ihren demokratischen Anspruch einzulösen, unterhalten moderne, unübersichtliche Gesellschaften mit ihren Massenmedien ein System der (so hofft man) objektiven Selbstbeobachtung. Journalisten sollen – und so sehen sie es in ihrer Mehrheit tatsächlich bis heute – treuhänderisch dafür sorgen, dass Demokratien sich insgesamt neutral über sich selbst aufklären können. Wo diese Aufgabe jedoch unerledigt bleibt oder systematisch verzerrte Ergebnisse liefert, entstehen defekte Demokratien. Eine intakte Öffentlichkeit ist für die Demokratie daher nicht weniger notwendig als intakte politische Institutionen. Diese Aufgabe rechtfertigt die Privilegien des politischen Journalismus sowie seinen strikten Schutz. Aus diesem besonderen Auftrag folgt angesichts der Verfassung des Medienbetriebs die ihn kennzeichnende...

Erscheint lt. Verlag 6.4.2015
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte alternative Fakten • Christian • edition suhrkamp 2692 • ES 2692 • ES2692 • Fake News • Journaisten/-innen • Kellyanne Conway • Politische Berichterstattung • Wulff • Wulff, Christian
ISBN-10 3-518-74083-0 / 3518740830
ISBN-13 978-3-518-74083-5 / 9783518740835
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 4,6 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Die globalen Krisen und die Illusionen des Westens

von Carlo Masala

eBook Download (2022)
C.H.Beck (Verlag)
12,99
Die globalen Krisen und die Illusionen des Westens

von Carlo Masala

eBook Download (2022)
C.H.Beck (Verlag)
12,99
Wie aktivistische Wissenschaft Race, Gender und Identität über alles …

von Helen Pluckrose; James Lindsay

eBook Download (2022)
C.H.Beck (Verlag)
16,99