Hundstage (eBook)
220 Seiten
Bebra Verlag
978-3-8393-6148-1 (ISBN)
Frank Goyke, geboren 1961 in Rostock, arbeitete nach dem Studium der Theaterwissenschaften in Leipzig als Lektor und Dramaturg. Seit 1997 ist er freier Schriftsteller. Sein Roman 'Dummer Junge, toter Junge' wurde von der RaymondChandlerGesellschaft mit dem 'Marlowe' als bester deutschsprachiger Kriminalroman ausgezeichnet. Frank Goyke lebt in Berlin. Im berlin.krimi.verlag sind zuletzt von ihm erschienen die FontaneKrimis 'Altweibersommer' (2008), 'Schneegestöber' (2009) und 'Nachsaison' (2011).
Frank Goyke, geboren 1961 in Rostock, arbeitete nach dem Studium der Theaterwissenschaften in Leipzig als Lektor und Dramaturg. Seit 1997 ist er freier Schriftsteller. Sein Roman "Dummer Junge, toter Junge" wurde von der RaymondChandlerGesellschaft mit dem "Marlowe" als bester deutschsprachiger Kriminalroman ausgezeichnet. Frank Goyke lebt in Berlin. Im berlin.krimi.verlag sind zuletzt von ihm erschienen die FontaneKrimis "Altweibersommer" (2008), "Schneegestöber" (2009) und "Nachsaison" (2011).
Erstes Kapitel
Montag, 26. Juli 1875, vormittags
Schon am Vormittag war die Hitze unerträglich. Nur die Mücken fühlten sich wohl, die in großen Schwärmen über dem Finowkanal tanzten wie Mänaden bei einem dionysischen Fest. Allerdings hatten sie den Wein durch das Blut der Wanderer ersetzt. Theodor Fontane verscheuchte sie durch Wedeln mit dem karierten Schweißtuch, dann fuhr er sich zum x-ten Male über die Stirn. Obwohl er erst vor einer halben Stunde vom Bahnhof Neustadt-Eberswalde aufgebrochen war, war der Rucksack auf seinem Rücken bereits so schwer, als hätte er Wackersteine geladen. Die Riemen schnürten sich durch den Gehrock in die Schultern, auf Gesicht, Hals und Händen blühten die Pusteln der Mückenstiche. Welcher Teufel nur hatte ihn geritten, ausgerechnet während der Hundstage nach Lichterfelde wandern zu wollen?
Der Teufel hieß Adolf Menzel und schritt beschwingt neben ihm, so als würden ihm die Unbilden des Wetters überhaupt nichts ausmachen. Vor drei Tagen hatten sie in der Frederichsschen Speisewirtschaft gesessen, dem Stammlokal des Malers, in dem er täglich seine Abendmahlzeit einzunehmen pflegte, und sich gegenseitig von ihrer Arbeit erzählt, Fontane von seinem Zeitroman Allerlei Glück, der nie fertig zu werden drohte, Menzel von seinem Gemälde Eisenwalzwerk, an dem er bald den letzten Strich zu machen gedachte; Fontane hatte es nicht ohne Neid zur Kenntnis genommen. Fast hundert Zeichnungen hatte Menzel in der schlesischen Königs-hütte angefertigt, und er hatte sich auch einige Male in der Eisenspalterei umgesehen, die schon 1830 von Carl Blechen in dem Gemälde Walzwerk Neustadt-Eberswalde verewigt worden war. Doch bevor er seine Arbeit abschloss, wollte er noch einmal zu letzten Studien ins Tal der Finow aufbrechen. Von den Gründen, warum man es auch märkisches Wuppertal nannte, hatte sich Fontane bereits überzeugen können, waren sie doch auf ihrem Wege an dem Kupferhammer vorbeigekommen, mit anderen Worten: an rauchenden Schloten. Immerhin war das Finowtal das älteste Industrierevier Preußens; ob der Vergleich mit dem Tal der Wupper gerechtfertigt war, vermochte Fontane nicht zu sagen. Doch war er nicht wegen der Fabriken gekommen, auch wenn eine von ihnen sogar Papier herstellte, für einen Schriftsteller kein überflüssiger Stoff. Nein, er hatte seinen schon länger geplanten Aufsatz Von Sparren-Land und Sparren-Glocken im Hinterkopf, als er sich Menzel als Begleiter anbot. Und er hatte gehofft, der Glut der Großstadt zu entkommen. Schon jetzt verfluchte er seinen Entschluss.
Menzel blieb stehen.
»Gott im Himmel, mein lieber Fontane«, sagte er, »Sie schnaufen wie eine Lokomotive!«
»Ich fühle mich auch, als würde mein Leib mit glühenden Kohlen beschickt.«
Der Maler betrachtete sein Gegenüber durch die kleine Brille mit Metallrand. Wie zu den meisten Menschen musste er auch zu Fontane aufschauen.
»Ihre Präzision lässt nach, Meister des Wortes«, sagte er. »Seit wann beschickt man den Kessel einer Lokomotive mit glühender Kohle?«
»Wir hätten eine Droschke nehmen sollen.« Fontane wischte sich Schweiß aus den Augen.
»Eine Droschke? Firmieren Ihre geschätzten Aufsätze nicht unter Wanderungen?«
»Ja, ja. Wobei ich einräumen muss, dass ich manche Wege allein per Korrespondenz oder in der Bibliothek zurückgelegt habe. Lichterfelde ist nicht Paris, man muss es nicht gesehen haben.«
Menzels Augen wurden schmal. »Wollen Sie umkehren?«
»Oh, nein. Doch für den heutigen Tag genügt mir das Walzwerk als Ziel. Ist es noch weit?«
»Keinesfalls.« Der Maler legte seinen Ranzen ab, schnürte ihn auf und entnahm ihm einen vergilbten Plan. Kgl. Privilegierter Amts-Plan der Kur- und Badestadt Neustadt-Eberswalde stand darauf. Es gab hier nämlich nicht nur hohe Essen, sondern auch einen Gesundbrunnen, nicht nur eine Provinzial-Irrenheil- und Pflegeanstalt, sondern auch Badegäste. »Schauen Sie, der Treidelweg.« Menzel tippte mit dem Zeigefinger auf die Karte. »Nur noch wenige Schritte bis zur Drahthammerschleuse, und von dort ist es bloß ein Katzensprung.«
Fontane schaute. Und stieß einen Seufzer aus: Das Gehölz neben dem Weg hieß Hölle.
Da Menzel den Ranzen schon abgelegt hatte, biwakierten sie für eine Viertelstunde unter einem Strauch zwischen Treidelweg und Hölle. Fontane streckte sich im Gras aus und schob den Hut ins Gesicht, um für ein paar Minuten die Sonne nicht sehen zu müssen. Lange währte die Ruhe nicht. Er hörte Stimmengemurmel, und als er die Augen öffnete, erblickte er eine Gruppe von eleganten Menschen. Zwei Herren in lockeren Jacken, weiße Zylinder auf den Häuptern, begleiteten drei Frauen, die drei Generationen zu repräsentieren schienen. Sie trugen helle Sommerkleider und Strohhüte mit farbigen Bändern, und jede von ihnen schützte sich mit einem weißen Schirm gegen die Sonnenstrahlen. Als sie die ruhenden Wanderer sahen, nickten sie ihnen zu, während die Herren die Zylinder lüfteten. Fontane vermutete in ihnen Kurgäste, die sich das Walzwerk anschauen wollten, in dem man bereits in den Zwanzigerjahren begonnen hatte, Besichtigungen für Touristen anzubieten – zu einer Zeit, als das Wort Tourist gerade seinen Siegeszug durch die besseren Kreise Europas begonnen hatte. Irgendeine Sensationslust trieb die Menschen offenbar an, oder es war die Langeweile. Oder das Nomadentum aus der Zeit der Jäger und Sammler in jedermanns, auch in Fontanes Blut.
Die Gruppe entfernte sich. Menzel skizzierte sie, Fontane schloss noch einmal die Augen. Seine Gedanken schweiften nach Hause, nach Berlin, wo seine Frau Emilie mitten in den Reisevorbereitungen für die Sommerfrische in Schlesien steckte. Manchmal verbrachte sie viele Wochen bei ihrer Jugendfreundin Johanna Treutler, die den Besitzer eines Zuckerrübengutes in Neuhof bei Liegnitz geheiratet hatte. Die Kinder begleiteten sie, Sohn Theodor mit seinen achtzehn Lenzen allerdings nur nach langer Debatte, denn mit dem Abitur in der Tasche begab man sich für gewöhnlich auf die Grande Tour, jedenfalls wenn man von Familie war – und der Junior betonte stets, er sei schließlich adlig, da ein von Thane!
Fontane musste schmunzeln. Er hörte, wie Menzel seinen Tornister öffnete, sicher um seine Zeichenutensilien zu verstauen, dann vernahm er einen Schrei, der ihn auffahren ließ. Er kam aus Richtung der davonwandernden Gruppe, und als sich Fontane zu ihnen wandte, sah er einen Mann, der offenbar aus der Hölle auf die Damen und Herren zugesprungen war. Er tänzelte vor ihnen auf und ab. Die Frauen wichen zurück, die Männer versuchten, ihn mit ihren Gehstöcken zu verjagen. Der Mann, mit einem gestreiften Hemd, dunklen Hosen mit breiten Trägern und einem Strohhut bekleidet, lachte anscheinend, verbeugte sich linkisch und setzte seinen Weg fort. Er ging nicht, er sprang den Treidelweg entlang, und seine Gliedmaßen schleuderten immer wieder nach allen Seiten. Je näher er kam, desto deutlicher wurde, dass er unartikulierte Laute ausstieß. Doch schälten sich das eine und andere verständliche Wort, ja ganze Wortgruppen aus seinem Gestammel: »Bäh, bäh, widerlich … janz un’ jar … Bah, bah, bäh! Wi-der-lichst! Allerhöchst widerlichst!« Er kicherte und sprang wie das Rumpelstilzchen, nur eben nicht im Kreise. Der Strohhut bekam bei den Sprüngen eine immer gefährlichere Neigung, vom Kopf zu fallen, auch die Hosenträger waren verrutscht. Aus groben Schuhen, die Arbeitsschuhen von Fabrikarbeitern glichen, quollen wollene Socken, als wäre Winter.
Vor Menzel und Fontane baute er sich auf. Menzel zog schnell den soeben verstauten Zeichenblock und einen Stift aus dem Ranzen und warf ein paar Skizzen aufs Papier; der Mann versuchte, stillzustehen, was ihm kaum gelang. Sein Gesicht war verzerrt, seine Zähne mahlten unermüdlich Worte, und es war schwer zu sagen, ob er wirklich grinste oder ob nur sein Tic eine Art Grinsen hervorrief. Zwischen all den Lauten und Rufen, zwischen den vielen Bahs und Bähs waren nun aber auch zwei einigermaßen klare Sätze zu verstehen: »Lieb mir oder ick zerhack dir die Kommode!« und sogar ein überraschendes »Der Tor hat seine Schuldigkeit getan.«
Er zappelte und sprang, wiederholte das »Lieb mir oder ick zerhack dir die Kommode!«, während er sich davonmachte, der Stadt Neustadt-Eberswalde entgegen. Immer leiser klang es über den Treidelpfad, als der Mann längst hinter einer Biegung verschwunden war: »Lieb mir oder ick zerhack dir die Kommode!«
Fontane drehte sich halb zu Menzel um. »Was war denn das?«
»Vielleicht ein entsprungener Irrer?«
»Es hatte den Anschein …« Fontane erhob sich mühselig und klopfte Gehrock und Hosen ab. »Vermutlich aus Berlin.«
»Weil er berlinert?« Menzel schob Block und Stift zurück in
den Tornister. »Das könnte auch reinstes Eberswalder Kanaldeutsch gewesen sein, das dem Berliner Dialekt sehr ähnelt. Man könnte sogar sagen, es ist berlinerischer als das Berlinerische. Wie...
Erscheint lt. Verlag | 19.3.2015 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Adolph Menzel • Eberswalde • Fontane • Fontane-Krimis • Maria-Magdalene-Kirche • Neustadt-Eberswalde • Theodor Fontane • Walzwerk |
ISBN-10 | 3-8393-6148-6 / 3839361486 |
ISBN-13 | 978-3-8393-6148-1 / 9783839361481 |
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