Das Foto meines Lebens (eBook)
400 Seiten
Francke-Buch (Verlag)
978-3-86827-838-5 (ISBN)
Tamera Alexander ist für ihre historischen Romane schon mehrfach mit dem Christy Award ausgezeichnet worden, dem bedeutendsten christlichen Buchpreis in den USA. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei erwachsenen Kindern in Nashville.
Tamera Alexander ist für ihre historischen Romane schon mehrfach mit dem Christy Award ausgezeichnet worden, dem bedeutendsten christlichen Buchpreis in den USA. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei erwachsenen Kindern in Nashville.
Kapitel 1
Rocky Mountains, Colorado-Territorium
15. April 1875
Elizabeth Garrett Westbrook ließ sich vom steilen Abfall hinunter in die Schlucht nicht im Geringsten einschüchtern, sondern trat näher an den Rand der Felswand heran. Sie hatte sich ihr ganzes Leben lang auf diesen Moment vorbereitet und wusste, dass sie es schaffen konnte. Trotz ihrer zweiunddreißig Jahre war sie immer noch nicht die Frau, die sie sein wollte. Das war einer der Gründe, warum sie dreitausend Kilometer in den Westen nach Timber Ridge im Colorado-Territorium gekommen war. Sie hatte ihr gewohntes Leben in Washington, D. C., hinter sich gelassen und wollte ihren Traum verwirklichen, auch wenn sie nicht wusste, wie viel Zeit ihr noch blieb.
Der kalte Wind drang durch ihren Wollmantel. Sie zog den Mantel enger um sich und betrachtete den endlosen Fluss und das Tal, das sich tief unter ihr durch die Landschaft schnitt. Sie ließ ihren Blick über die Berge gleiten, die zerklüftet in die Höhe ragten und in das strahlende Licht des frühen Morgens getaucht waren, so weit das Auge reichte. Dann sah sie nach unten, wo der Boden vor ihren Stiefelspitzen abrupt endete und die Schlucht in atemberaubende Tiefen abfiel.
Das Chronicle-Verlagshaus in Washington, D. C., befand sich in einem hohen, vierstöckigen Gebäude. Dennoch, so schätzte sie, müssten mindestens zehn solcher Gebäude aufeinandergestapelt werden, um auch nur annähernd die Höhe der Felswand zu erreichen, auf der sie jetzt stand. Sie kam sich plötzlich so klein vor. Gleichzeitig erfüllte sie eine große Ehrfurcht und die Gewissheit, dass derselbe Schöpfer, der dieses Wunderwerk der Natur geschaffen hatte, auch die bruchstückhaften, wenig schönen Teile ihres Lebens in der Hand hielt.
Der Konkurrenzkampf war hart gewesen, aber sie hatte es geschafft: Sie gehörte zu den drei Kandidaten, die für die Stelle als Fotograf und Journalist beim Washington Daily Chronicle in Betracht gezogen wurden. Die anderen beiden Kandidaten waren Männer. Männer, die sie kennengelernt hatte, die sie mochte und achtete, und die es verstanden, die Welt sowohl durch ein Objektiv als auch mit Worten zu beschreiben. Das bedeutete, dass sie sich besonders anstrengen musste, um sich zu beweisen.
Ein leichter Wind kam auf und sie schob sich eine Locke aus dem Gesicht. Sie atmete die trockene, kalte Luft ein, füllte ihre Lunge damit und atmete dann langsam wieder aus, wie die Ärzte sie angewiesen hatten. Die Bergluft wurde wegen ihrer Reinheit und Heilungskräfte gelobt und war noch dünner und belebender, als sie erwartet hatte.
Sie konzentrierte sich wieder auf ihre Aufgabe, schnallte sich ihren Rucksack um und kontrollierte zum zweiten Mal das zusammengeknotete Seil um ihren Bauch. Dann löste sie die Schnürsenkel an ihren Schuhen und setzte in Strümpfen einen Fuß auf den gefällten Baum, der über den Abgrund gelegt worden war.
Sie testete, ob die natürliche Brücke ihr Gewicht aushielt, und kam zu dem Ergebnis, dass der Baum sie problemlos tragen würde. Obwohl der Baumstamm stark aussah, hatte sie auf schmerzliche Weise gelernt, dass die Dinge nicht immer so waren, wie sie schienen. Ihr Blick wanderte über den knorrigen Stamm zu der Stelle, an der der Baum ungefähr sieben Meter weiter auf der gegenüberliegenden Seite auflag. Sie hatte noch nie Höhenangst gehabt, aber sobald sie den ersten Schritt machte, zwang sie sich, niemals nach unten zu schauen. Es war besser, den Blick auf das Ziel zu richten und nicht auf die Hindernisse.
Sie rückte das Gewicht ihres Rucksacks zurecht, konzentrierte sich, richtete ihren Blick geradeaus und machte den entscheidenden ersten Schritt.
„Fallen Sie mir nicht hinunter, Miss Westbrook!“
Durch diese Störung aufgeschreckt, sprang Elizabeth auf den festen Boden zurück. Dann drehte sie sich um. Josiah stand auf dem gewundenen Bergpfad und umklammerte das andere Ende des Seils, das an einem Baum hinter ihm gesichert war.
Unsicherheit sprach aus seinen mahagonifarbenen Gesichtszügen. „Ich will Sie nur ein letztes Mal warnen, Madam. Bevor Sie losgehen.“
Obwohl ihr das Herz bis zum Hals schlug, bemühte sie sich um eine freundliche Stimme. „Mir passiert nichts, Josiah. Das versichere ich Ihnen. Ich habe das schon unzählige Male gemacht.“ Jedoch noch nie in so großer Höhe. Aber egal, ob es drei Meter oder dreihundert Meter tief hinunterging, waren Konzentration und Gleichgewicht nötig, um eine Schlucht erfolgreich zu überbrücken. Wenigstens sagte sie sich das immer wieder. „Aber es wäre hilfreich, wenn Sie nicht so brüllen würden.“
Sein leises Lachen war genauso tief wie die Schlucht und genauso sanft wie der Wind. „Ich brülle nicht, Madam. Löwen brüllen. Wir Männer schreien.“
Sie warf ihm einen tadelnden Blick zu. „Dann hören Sie bitte auf, so männlich zu schreien.“
Er zog an der Krempe seines abgetragenen Hutes. „Ich müsste nicht schreien, wenn Sie anfangen würden, sich wie eine normale Frau zu benehmen, und nicht wie eine Verrückte, die über einen Ast klettert, um ein Vogelnest zu fotografieren.“
Der gefällte Baum war breit, er hatte über einen Meter Durchmesser und war ganz gewiss kein Ast, wie Josiah behauptete. Nur, wenn sie auf die andere Seite hinüberbalancierte, bekäme sie einen besseren Blick auf den Adlerhorst. Der Horst war auf einem Felsvorsprung gebaut, der unterhalb der Felswand ungefähr zehn Meter von ihr entfernt aus der Seite des Berges hinausragte. Das Foto von dem Adlerhorst mit der Schlucht darunter und den Bergen im Hintergrund wäre atemberaubend – falls sie nicht vorher abstürzte und sich den Hals brach.
Sie hatte schon auf schmaleren Baumbrücken viel breitere Abgründe überquert. Wenn sie so etwas tat, fühlte sie sich jedes Mal ein wenig wie ein kleines Mädchen und wurde in die Zeit zurückversetzt, in der man ihr noch nicht gesagt hatte, dass bestimmte Dinge unmöglich seien.
„Darf ich Sie daran erinnern, dass ich Sie bezahle. Und das sehr gut!“ Sie zog eine Braue in die Höhe und genoss das fröhliche Geplänkel zwischen ihnen. „Ich zahle Sie dafür, dass Sie meine Ausrüstung tragen und mir bei meiner Arbeit helfen. Nicht dafür, dass Sie mir Ihre Meinung zu meinen Entscheidungen kundtun.“
„Die bekommen Sie kostenlos dazu, Madam. Dafür müssen Sie nichts zahlen.“
Über sein breites Grinsen konnte sie nur den Kopf schütteln. In der letzten Woche hatte Josiah Birch ihre Anweisungen genau befolgt und sich als zuverlässiger Mitarbeiter erwiesen. Der Washington Daily Chronicle stellte ihr das Geld für seinen Lohn zur Verfügung.
Zwei andere Männer hatten sich für diese Stelle als Assistent beworben. Sie hatten ebenfalls einen fähigen Eindruck gemacht, aber sie hatte Josiah Birch auf Anhieb vertraut. Er war kein gebildeter Mann, aber er konnte lesen und schreiben, und er hatte genauso schnell wie sie gelernt, mit den chemischen Lösungen, die sie für ihre Arbeit brauchte, richtig umzugehen und sie zu mischen. Dass er doppelt so viel wog wie sie und kräftige Muskeln und einen ehrlichen, offenen Blick hatte, war ein zusätzlicher Pluspunkt gewesen.
Elizabeth konzentrierte sich wieder und stellte ihren rechten Fuß auf den Baum. Sie streckte wie eine Hochseiltänzerin die Arme seitlich aus, um das Gewicht des Rucksacks auszugleichen, der schwerer als gewöhnlich war. Dann ging sie einen sorgfältig durchdachten ersten Schritt.
Dann einen zweiten Schritt. Und einen dritten …
Ungefähr vier Meter unter ihr ragte ein Felsvorsprung aus der steilen Felswand heraus. Er würde ihren Sturz abfangen, falls das Seil aus irgendeinem Grund seinen Dienst versagen sollte, aber der Vorsprung reichte nur bis zur Hälfte der natürlichen Brücke. Ab dort wäre es ein freier Fall nach unten auf den Boden der Schlucht. Da sie sich von Höhen nicht leicht einschüchtern ließ, konzentrierte sie ihren Blick auf ihre Schritte und warf gelegentlich einen Blick auf die andere Seite des Abgrunds.
Zentimeter für Zentimeter verschwand der Vorsprung aus ihrem Blickfeld. Sie widerstand der Versuchung, auf den Fluss hinabzuschauen, der sich durch das Tal unter ihr schlängelte. Ein Windstoß kam von hinten und wollte sie nach vorne drücken. Einige Locken wehten ihr in die Augen. Sie musste sich anstrengen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren … und schaffte es. Aber das Seil um ihren Bauch wurde plötzlich fest und zog sie zurück.
„Nein, Josiah!“
Jeder Muskel in ihrem Körper spannte sich an. Ihr Rücken verkrampfte sich. Sie hatte Mühe, sich aufrecht zu halten. Das Gewicht, das auf ihre Schultern gebunden war, brachte sie in Versuchung, sich nach vorne zu beugen. Doch wenn sie sich zu weit nach vorne lehnte, könnte das verheerende Folgen haben. Dann tat sie das, was sie auf keinen Fall hatte tun wollen. Sie sah nach unten.
Der sich durch die Schlucht windende Fluss verschwamm augenblicklich vor ihren Augen.
Schnell riss sie den Blick davon los und richtete ihre Augen wieder auf den Felsvorsprung. Sie stellte sich vor, so wie sie es schon mit sechs Jahren gelernt hatte, dass ein starker Stab vom Himmel herabkäme, ihre Wirbelsäule stütze und sich im Baum unter ihr verankerte. Langsam fühlte sie, wie ihr Kinn und ihre Schultern sich wieder hoben. Ihre Beine zitterten zwar noch, aber sie hatte ihr Gleichgewicht zurückgewonnen. Sie setzte ihren Weg fort, indem sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte.
Mit einem Anflug von überschwänglicher Freude stieg sie auf der anderen Seite vom Baumstamm herunter und trat auf den...
Erscheint lt. Verlag | 1.3.2015 |
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Übersetzer | Silvia Lutz |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | From a Distance |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Schlagworte | Colorado • Fotografin • Landschaft • Roman • Roman, Wilder Westen, Fotografin, Colorado, Landschaft • Wilder Westen |
ISBN-10 | 3-86827-838-9 / 3868278389 |
ISBN-13 | 978-3-86827-838-5 / 9783868278385 |
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