Wenn die Organe ihr Schweigen brechen und die Seele streikt (eBook)
240 Seiten
Scorpio Verlag
978-3-943416-83-1 (ISBN)
Prof. Dr. Annelie Keil, Sozial- und Gesundheitswissenschaftlerin, ist seit 2004 emeritierte Professorin und ehemalige Dekanin der Universität Bremen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Gesundheitswissenschaft, Biografie- und Lebensweltforschung sowie die Arbeit mit Menschen in Lebenskrisen sowie mit schwer kranken und sterbenden Menschen. Die Autorin ist Mitbegründerin des wissenschaftlichen Weiterbildungsstudiums Palliative Care an der Universität Bremen und Mitglied im Vorstand der privaten Herz-Kreislauf- Klinik Lauterbacher Mühle. Sie hält zahlreiche Vorträge, ist gern gesehener Gast in Radio- und Fernsehsendungen und arbeitet ehrenamtlich in unterschiedlichen psychosozialen und Bildungsprojekten im In- und Ausland.
Prof. Dr. Annelie Keil, Sozial- und Gesundheitswissenschaftlerin, ist seit 2004 emeritierte Professorin und ehemalige Dekanin der Universität Bremen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Gesundheitswissenschaft, Biografie- und Lebensweltforschung sowie die Arbeit mit Menschen in Lebenskrisen sowie mit schwer kranken und sterbenden Menschen. Die Autorin ist Mitbegründerin des wissenschaftlichen Weiterbildungsstudiums Palliative Care an der Universität Bremen und Mitglied im Vorstand der privaten Herz-Kreislauf- Klinik Lauterbacher Mühle. Sie hält zahlreiche Vorträge, ist gern gesehener Gast in Radio- und Fernsehsendungen und arbeitet ehrenamtlich in unterschiedlichen psychosozialen und Bildungsprojekten im In- und Ausland.
Einleitung
Vor viertausend Jahren…
Wer hat die beiden Fersen des Menschen geformt? Wer hält sein Fleisch zusammen? Wer hat seine beiden Fußknöchel gemacht? Seine wohlgeformten Finger? Die Öffnungen? Wer hat ihm seinen stabilen Bau gegeben? Womit sind denn die beiden Fußknöchel und die beiden Knie gemacht? Wo sind denn eigentlich die Kniegelenke festgemacht, dass wir sie beugen können? Wer hat sie so festgemacht? Wer versteht das wirklich? Das Gerüst ist an vier Stellen aneinandergefügt, die Gliedmaßen zusammengewachsen, oberhalb der Knie, und doch kann sich der Rumpf biegen dank Gesäß und Oberschenkeln. Wer hat denn das geschaffen, was dem Rumpf Halt gibt? Wie viele und welche Götter haben die Knochen von Brust und Hals zusammengefügt, die Brüste einzeln angemacht? Wie viele haben die Anordnung der Schulterknochen gemacht? Der Rippen? Wer hat die beiden Arme so gefügt, dass sie Heldenhaftes vollbringen können? Welcher Gott hat dann die beiden Schultern auf den Rumpf gesetzt? Wer hat die sieben Öffnungen des Kopfes gemacht, Ohren, Nasenlöcher, Augen, Mund, die den zwei- und vierbeinigen Lebewesen erlauben, sich überall zurechtzufinden? Zwischen beide Kiefer hat er die vielseitige Zunge gelegt, auf die er nachher das mächtige Wort legte. Er wälzt sich zwischen den Welten, in Wasser gehüllt. Wer versteht das wirklich? Wer war der Gott, der als erster sein Hirn und seine Stirne, seinen Nacken und seinen Schädel schuf? Er stieg in den Himmel, nachdem er die Kieferknochen des Menschen zusammengefügt hatte. Wer ist dieser Gott? Es gibt viele geliebte und viele ungeliebte Dinge, den Schlaf, die Beklemmung und die Niedergeschlagenheit, die Wonnen und die Freuden – wer erlaubt dem Menschen, dem gefürchteten, das alles zu ertragen? Wer gab ihm die vielen verschiedenen und verschieden verlaufenden Launen, die wie mächtige Fluten strömen, rot, kupferrot, rauchfarben im Leibe hochsteigen und ihn durchdringen? Wer hat ihm die Gestalt gegeben, wer die Masse, wer den Namen? Wer hat ihm seine Gangart, sein besonderes Kennzeichen, sein Verhalten gegeben? Wer wob diesen Rhythmus des Ein- und Ausatmens in ihn, wer gab ihm diesen langen Atem? Welcher Gott hauchte so viel in diesen Menschen?
(Aus dem Atharvaveda, 2200–1800 v. Chr.)
Dieser uralte Text aus einer der heiligen Textsammlungen des Hinduismus stellt die ewig aktuellen Grundfragen des Menschseins: »Wie bin ich entstanden? Wer bin ich? Wie funktioniere ich?«
Seit Menschen die Erde bewohnen, singen sie etwas Ähnliches wie das Lied aus der Sesamstraße: »Der, die, das! Wer, wie, was! Wieso, weshalb, warum! Wer nicht fragt, bleibt dumm!« Sie suchen nach Erklärungen, wie das Leben in ihnen und um sie herum und auch ganz nebenbei lebt.
»Wer war das?« ist die Überraschungsfrage schlechthin, wenn man für einen Tatbestand einen Täter braucht oder nach einem Schuldigen sucht. Das Leben hat immer etwas parat, das man nicht erklären, einordnen oder gerade gebrauchen kann! Es kommt zu früh, zu spät oder gar nicht, geplant oder ungeplant, wie es eben will. Im Fluss des Lebens gibt es keine letzte Antwort. Die Suche geht weiter, weil Leben lebt.
Der alte Text fragt: »Wer hat die sieben Öffnungen des Kopfes gemacht, die den zwei- und vierbeinigen Lebewesen erlauben, sich überall zurechtzufinden?« Für zwei mögliche Antworten wurden 2014 die Nobelpreise für Medizin und Chemie vergeben. Der eine für die Entdeckung der Hirnzellen, die ein Navigationssystem im Kopf bilden, der andere für die Entwicklung eines Supermikroskops, mit dem man beobachten kann, wie Zellen miteinander kommunizieren und wie die Wechselwirkung zwischen Viren und Zellen aussieht, was immer dies für die Entstehung und Behandlung einer Krankheit dann bedeuten mag. Jahrtausende hat es gedauert, um wissenschaftlich eines der innersten Geheimnisse des Lebens abbilden oder dem Navigator des Gehirns zuschauen zu können.
Das umfassende Geheimnis des Lebens liegt immer wieder vor uns und in den Lebewesen selbst und zwingt uns, wie Albert Schweitzer es formulierte, zu einer »Ehrfurcht vor dem Leben«. Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben bedeutet im allgemeinen Sinne eine stetige rationale Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und dem Leben um einen selbst herum. »Um Lebendes zu erforschen, muss man sich am Leben beteiligen«, heißt es bei dem Arzt und Psychosomatiker Viktor von Weizsäcker. »Leben finden wir als Lebende vor; es entsteht nicht, sondern es ist schon da, es fängt nicht an, denn es hat schon angefangen … Die Wissenschaft hat mit dem Erwachen des Fragens mitten im Leben angefangen.«1
Die Zellen, das Gehirn und der Organismus fragen nicht, ob wir ihre Ordnung, Arbeitsweise und Absichten durchschaut haben, sondern tun ihre Arbeit, kommunizieren miteinander, kommen zu Ergebnissen, manchmal – wie bei der Entstehung einer Krankheit – auch gegen unseren Willen. Wenn die Organe schweigen oder die Stille mit starken Schmerzen durchbrechen, wissen wir zunächst nicht, was los ist, und müssen herausfinden, worum es geht.
Der Mensch muss sein Leben im aufrechten Gang mit allem, was er seit Geburt im Gepäck hat, gestalten, ausprobieren, Bedürfnisse und Lebensfreude entdecken und zielgerichtet mit Lust auf Zukunft seine Entwicklung vorantreiben. Kinder zeigen uns, wie das geht. Vom Moment der Geburt an sind sie existenziell vom Leben berührt und von Kopf bis Fuß auf Liebe und Leben eingestellt. Ohne Berührung könnten sie nicht überleben, und nur dadurch zieht das Leben mit all seinen Bedeutungen leibhaftig in sie ein, tränkt ihre Seele und bringt ihr Gehirn in unendliche Bewegungen und Vernetzungen. Sie »wissen« als Lebewesen intuitiv, dass sie essen, laufen oder sprechen lernen wollen, bevor sie es auch tun und nachahmend üben! »Alles, was von dieser Welt ist, sehnt sich nach weiteren Berührungen, um stärker und inniger bezogen und damit tiefer gehend selbst zu sein.«2
Der Drang kleiner Kinder, die Welt zu erleben und anzufassen, ist unbändig! Als »soziale Frühgeburt« braucht der Mensch vom ersten bis zum letzten Atemzug neben vielfältigem Wissen soziale, emotionale und die Persönlichkeit stärkende Kompetenzen, vor allem aber Lebensbedingungen und Erfahrungen, die kreativen Austausch, Beziehungen, Gemeinschaft und Entwicklung möglich machen.
Dass wir so wenig über das Wunder, die Natur und die Entwicklung unserer leiblichen Existenz, ihre Funktionszusammenhänge, über die Arbeitsweise unseres Denkens und Fühlens oder über unsere Organe, die Wunderwerke der Schöpfung, fühlen und wissen, führt zu einem Wirklichkeitsverlust. Dieser hindert uns daran, die schöpferische Liebe und Berührungskraft des Lebens zwischen Ordnung und Chaos, Kontrolliertem und Spontanem sinnlich zu erfahren, zu greifen und als unsere eigene Lebendigkeit zu begreifen.
Menschen brauchen lebenslang – unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrem sozialen Hintergrund, ihrer Kultur, Religion oder ihrem Alter – vor allem eine liebende, lebendige, sich selbst übende Praxis der Verbindung zu ihrem und dem Leben der anderen Lebewesen, ob Mensch, Tier oder Pflanze. Nur indem wir leben, uns beteiligen, in Beziehung treten und uns berühren lassen, verstehen wir uns, das Leben und seine Qualität. Die Sehnsucht nach Zukunft ist die Triebkraft, die bis ins Sterben auf Selbst- und Mitgestaltung drängt und alles für möglich hält. Dasein ist Mitsein. Wir wachsen in die Erfüllung hinein, denn Leben lebt über Austausch, Aushandlung, Geben und Nehmen vom Teilen. Die Bestätigung, dass wir als Menschen einander und jeden Einzelnen brauchen, ist die Grundlage jener Hoffnung, dass die Würde des Menschen unantastbar sei. In Bezug darauf aber müssen wir Mensch für Mensch, Kultur für Kultur, Gesellschaft für Gesellschaft im Gespräch bleiben. Wir müssen Bezüge schaffen und Beziehungen gerade dann aufbauen, wenn wir über Gesundheit, Krankheit, Lebenssinn und Lebensqualität sprechen. »Jede Beziehung im Lebensnetz bringt Sinn hervor, weil es für die beteiligten Wesen immer um ihr ganzes Leben geht.«3 Die Notwendigkeit dieser Lebensvernetzung sitzt uns bereits in jungen Jahren im Nacken. Wir wollen dabei sein, brauchen Freundschaften, sind von der Hoffnung auf Leben angespornt, alles scheint möglich. Die Lebensflamme braucht Zündstoff, Ausbrennen ist eine Gefahr für Leib und Leben. »Das große Geheimnis ist, als unverbrauchter Mensch durchs Leben zu gehen. Wenn die Menschen das würden, was sie mit vierzehn Jahren sind, wie ganz anders wäre die Welt … Was wir gewöhnlich als Reife an einem Menschen zu sehen bekommen, ist eine resignierte Vernünftigkeit«, formulierte Albert Schweitzer in einer seiner vielen Ansprachen.4
Die Kunst, vom Augenblick der Geburt an bis zum letzten Atemzug im konkreten Leben und über alle Zumutungen hinweg relativ wohlbehalten und gesund älter zu werden, ist uns nicht in die Wiege gelegt. Gesundheit und Krankheit sind nicht »angeboren« und einfach da, sondern kontinuierliche Herausforderung, Aufgabe, Übungsfeld und auf der Suche nach Klarheit und Lebenssinn eine Art Meditation. Insbesondere dann, wenn das Leben mit Wendepunkten, dem Streik von Körper und Seele und anderen unerbetenen Vorschlägen für Überraschungen, Unruhe, Chaos und Krisen sorgt, bedarf es der besonderen Kompetenz, dies zu ertragen, sich selbst an die Hand zu nehmen, die unvorhersehbaren Konstellationen und Bedingungen zu integrieren und das Leben im Kontext eigener Fähigkeiten und Schwächen, Wünsche, Bedürfnisse und Enttäuschungen zärtlich, diszipliniert und so gut es geht authentisch weiter zu gestalten. Bei guter Gesundheit...
Erscheint lt. Verlag | 2.3.2015 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | Befund • Behandlung • Diagnose • Erkrankung • Heilung • Hilfe • Krankheit |
ISBN-10 | 3-943416-83-6 / 3943416836 |
ISBN-13 | 978-3-943416-83-1 / 9783943416831 |
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