Montaignes Turm (eBook)

Essays

(Autor)

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2015 | 1. Auflage
192 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30912-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Montaignes Turm -  Uwe Timm
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Für die Timm-Leser und alle Literaturliebhaber Alles begann mit »Heißer Sommer«: Uwe Timm, gelernter Kürschner, Absolvent des Braunschweigkollegs, promovierter Philosoph und Alltagsethnologe, Aktivist der Studentenbewegung, veröffentlichte 1974 seinen Debütroman - und legte den Grundstein zu einer äußerst erfolgreichen Karriere als Schriftsteller, die er zu unserem Glück seit 40 Jahren fortschreibt. Große Romane stammen von ihm, Novellen und Erzählungen, dazu Kinderbuchklassiker und Drehbücher - und immer wieder Texte über das Schreiben, über Schriftsteller und ihre Werke, über Schreibanlässe und eigene Motive. Zu seinem 75. Geburtstag erscheint nun eine Zusammenstellung von Texten der letzten Jahre, die den Horizont seines literarischen Schaffens umreißt. Das Spektrum ist dabei vielfältig, der Ausgangspunkt aber immer das eigene Leben und Interesse. So geht es um Montaignes Arbeitszimmer in einem Turm, das Aussicht und Rückzug miteinander verbindet, um Begegnungen mit Wolfgang Koeppen in München, um die Frage nationaler Identität am Beispiel von Kafkas Romanfragment »Amerika«, um das Keetelklopperplatt in einer Lobrede auf die deutsche Sprache, um das Verhältnis von Kunst und Handwerk am Beispiel Bölls, um die Frage, ob das Schreiben lernbar sei, und ganz zentral und immer wieder um Thomas Mann, vor allem um eine erneute Lektüre seines Romans »Der Zauberberg«. Brillante Texte, ganz nah an ihren Gegenständen und dabei sehr persönlich.

Uwe Timm, geboren 1940 in Hamburg, lebt in München und Berlin. Sein Werk erscheint seit 1984 bei Kiepenheuer & Witsch in Köln, u.?a.: »Heißer Sommer« (1974), »Morenga« (1978), »Der Schlangenbaum« (1986), »Kopfjäger« (1991), »Die Entdeckung der Currywurst« (1993), »Rot« (2001), »Am Beispiel meines Bruders« (2003), »Der Freund und der Fremde« (2005), »Halbschatten« (2008), »Vogelweide« (2013), »Ikarien« (2017), »Der Verrückte in den Dünen« (2020).

Uwe Timm, geboren 1940 in Hamburg, lebt in München und Berlin. Sein Werk erscheint seit 1984 bei Kiepenheuer & Witsch in Köln, u. a.: »Heißer Sommer« (1974), »Morenga« (1978), »Der Schlangenbaum« (1986), »Kopfjäger« (1991), »Die Entdeckung der Currywurst« (1993), »Rot« (2001), »Am Beispiel meines Bruders« (2003), »Der Freund und der Fremde« (2005), »Halbschatten« (2008), »Vogelweide« (2013), »Ikarien« (2017), »Der Verrückte in den Dünen« (2020).

Montaignes Turm


Die Vorstellung von der Bibliothek als einem Speicher ist nicht nur mir, dem Hamburger, vertraut, Säcke und Kisten werden ja auch in Regalen verwahrt. Allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied. Tabak, Stoffe und Teppiche ruhen sich im Speicher ein wenig aus von der rastlosen Warenzirkulation. Bücher hingegen bleiben in der Bibliothek und verlieren hier ihren Warencharakter. Sie sollen der Öffentlichkeit und der Forschung zugänglich sein. Lediglich der Bibliotheksgroschen erinnert von fern noch an die Ware Buch. Auch der entfällt in einer privaten Bibliothek, die ein Gedächtnis- und Wissensspeicher individueller Interessen und Neigungen ist. Eine der ersten privaten Bibliotheken gehörte einem Mann, der intensiv und vielfältig über Individualität nachgedacht und geschrieben hat, Michel de Montaigne.

Im dritten Buch der Essais hat er seine Bibliothek recht genau beschrieben: Meine Bücherei liegt im dritten Stockwerk eines Turms. Der erste Stock ist meine Kapelle; eine Treppe hoch ein Schlafgemach mit seinem Nebenraum, wo ich mich niederlege, um allein zu sein. Darüber lag eine große dazugehörige Kleiderkammer. Sie war in vorigen Zeiten der ungenützteste Raum meines Hauses. Hier bringe ich die meisten Tage meines Lebens und die meisten Stunden des Tages zu. (…) Das Zimmer ist rund, außer einem geraden Stück Wand, gerade lang genug für meinen Tisch und meinen Stuhl, und bietet mir, wenn ich mich umdrehe, mit einem Blick alle meine Bücher dar, die rundum in fünf Reihen übereinander aufgestellt sind. Es hat drei Fenster mit schöner und freier Aussicht und misst sechzehn Schritt im Durchmesser. Im Winter halte ich mich nicht so dauernd darin auf: Denn mein Haus liegt, wie sein Name sagt, auf einem Hügel, und es ist darin kein windigerer Raum als dieses Turmzimmer; doch gefällt es mir, dass es ein wenig beschwerlich und abgelegen ist, sowohl der Zuträglichkeit des Erkletterns wegen wie, um mir die Menge der Besucher vom Leibe zu halten. Hier ist meine Stätte.

Als ich diese Bibliothek betrat, in der heute seine Bücher fehlen, war der erste Eindruck: Abgrenzung, Geborgenheit, ja der Raum hatte etwas Höhlenhaftes, was sich erst mit dem Blick aus einem der drei nicht besonders großen Fenster in die Ferne änderte. Der Raum schien das zu verbinden, was die beiden idealtypischen Formen einer entschiedenen Abgrenzung zur Welt sind: Turm und Höhle. Wer welche Form bevorzugt, hängt wohl von fernen kindlichen Erfahrungen und Wünschen ab. Ein guter Freund, Mathematiker, sitzt in seinem wunderbaren Haus unten im Keller in einem kleinen Raum und geht seiner Arbeit nach. Er könnte durchaus in der Dachetage mit Blick über Gärten und andere Wohnhäuser seinen Schreibtisch aufbauen. Unbeirrt verbringt er seine Tage in diesem dunklen Raum mit der Aussicht auf die Grassoden vor dem Kellerfenster. Mein Kinderwunsch waren Baumhütten, waren Türme, und ein schöner Zufall brachte es mit sich, dass ich meinen Arbeitsraum in einem Turmzimmer gefunden habe, fast rechteckig, das sich nach zwei Seiten mit jeweils zwei Fenstern öffnet und nach Westen den Blick über den Englischen Garten erlaubt. Spärlich möbliert, ein Schreibtisch, ein Stuhl, ein Lesesessel und im Rücken eine ausgewählte Bibliothek: Nachschlagewerke, darunter das Wörterbuch der Brüder Grimm, Bücher, die mit der augenblicklichen Arbeit zusammenhängen, und einige Werke, recht unterschiedliche, in die ich immer wieder hineinblättere, Goethe, Kleist, Hölderlin, Ovid, Homer, Gottfried Benn, Plato und die Bibel. Ein Raum, der beides erlaubt, die Abgeschlossenheit und die Konzentration, und dennoch die Möglichkeit bietet, in die Welt hinauszuschauen. Hin und wieder lasse ich mich stören, blicke hinunter, weil Rufe und Stimmen laut werden. Es ist eine ruhige, wenig befahrene Straße. Ich stehe am Fenster und denke, seit ich den Turm von Montaigne gesehen habe, dass er vermutlich ebenfalls aus einem seiner drei Turmfenster hinausblickte, um nach den Schweinen, Pferden oder Gänsen zu sehen, die vorbeigetrieben wurden.

Ich beteure, dass ich mich nicht mit Montaigne vergleichen will, es gibt lediglich eine strukturelle Ähnlichkeit seines Arbeitszimmers mit dem meinen. Die Höhle, das Gehäuse ist ja eher Fluchtort, ein Verbergen, eine defensive Zurückgezogenheit, begleitet von einer fernen atavistischen Furcht, der Feind könnte unbemerkt eindringen. Anders die Höhe, auf Bäume steigen kann zumindest der Säbelzahntiger nicht, wäre sogar von oben zu bekämpfen, wohl auch zu erlegen. Der Turm hat eine kriegerische Herkunft, ist nicht nur Rückzugsort, sondern auch für den Ausfall geeignet. Er wurde an die Stellen in der Wehrmauer gesetzt, die an gefährdeten Knicks oder Kanten der Fortifikation lagen, oder auch dort, wo Ein- und Ausgänge zusätzlich geschützt werden mussten. Und als Bergfried ist er Ausblicks- und letzter Rückzugsort.

Montaigne hat in der Zeit der Religionskriege die Anlage seines Schlosses vorsätzlich nicht verstärken lassen. Er wollte nicht die unterschiedlichen durch das Land streifenden Parteien des Bürgerkriegs zum Angriff reizen. Es hätte dem Feind keinen Ruhm, keine Ehre gebracht, einen derart offenen Besitz – Montaigne beschreibt ihn ironisch als meinen Miststock – anzugreifen und zu erobern.

Seine Bibliothek im Turm ist, das war beim Betreten mein erster Eindruck, eine Verbindung von beidem: von Höhle und wehrhaftem Ausblick. Es ist diese massiv runde Abgrenzung vom Außen, die Ruhe und Sicherheit verspricht. Hier ist eine geschützte Einkehr möglich. Einkehr in sich. Und zu dieser Einkehr, die bei Montaigne ja nicht nur meditativ ist, gehört gleichermaßen der Blick nach außen. Zunächst richtet er sich auf die Hofhaltung, auf dieses feudale, an ein kleines Königtum erinnernde Schloss mit seinen Stallungen, Scheunen, Wiesen und Weinbergen. Der Blick des Türmers geht jedoch noch weiter, richtet sich auf die Gegenwart mit ihren Kriegsgräueln. 1572 beginnt Montaigne, es ist das Jahr der Bartholomäusnacht, mit der Niederschrift des ersten Buches der Essais. Der Türmer blickt in die Vergangenheit, in die für ihn vorbildliche griechisch-römische Klassik und in die imaginäre Welt der Literatur. Hier, im Turm, wird gedacht, gelesen, geschrieben. Die Einsamkeit des Orts lässt mich vielmehr, um die Wahrheit zu sagen, mich zerstreuen und in die Ferne schweifen …

Auch das fiel mir beim Betreten des Turmes auf, die Decke ist nicht hoch, mit der Hand zu berühren, aber die Fläche des Raumes ist recht groß, was für den bewegungshungrigen Montaigne wichtig war: Meine Gedanken schlafen ein, wenn ich sitze. Mein Geist geht nicht voran, wenn ich nicht meine Beine in Bewegung setze.

Gibt es eine Homologie zwischen diesem runden Turmraum und Montaignes Texten? Die Essais sind nicht systematisch auf eine Erkenntnisfindung ausgerichtet, sondern assoziativ, kreisend, fallen sich oft widersprechend ins Wort, ein gedankliches Schweifen durch die Buntheit der Welt, auch durch die der Lektüre, eine suchende registrierende Bewegung, die letztlich immer wieder zurückführt in den Turm, wo all die Überlegungen und Gedanken dann zu sich kommen. Der fragende, sich selbst befragende Türmer Montaigne. Wie beispielsweise in dem Essai Von der Freundschaft, in dem er, wie immer vom Hölzchen aufs Stöckchen kommend, über den freien Willen nachdenkt und ihn mit der Partnerwahl verbindet, mit Güter- und Erbschaftsteilungen unter Brüdern – hier wäre der Blick Montaignes aus einem der drei Fenster denkbar –, wo er die beständige Freundschaft in Gegensatz zur Neigung zu Frauen setzt und das durch ein Zitat Catulls belegt: neque enim est dea nescia nostri/Que dulcem curis miscet amaritiem. (Denn auch uns nicht unbekannt ist die Göttin, die süße Bitterkeit in ihren Kummer mischt.) Wir dürfen uns Montaigne in Catulls Carmina blätternd vorstellen, und er schreibt über Mode, Konvention, Esskultur, Religion, Hass, Eifersucht und Beischlafvorlieben zu Bett lieber die Schönheit als die Güte; zum geselligen Gespräch lieber die Schlagfertigkeit, sogar ohne Biedersinn. Montaigne hat die ihn gedanklich leitenden lateinischen und griechischen Zitate in die Deckenbalken seiner Bibliothek einbrennen lassen. So werden sie sichtbar als Verstrebung seines durch Zweifel bestimmten Denkens. Gegen jeden Grund richtet sich ein gleichwertiger Grund. Ein Satz von Sextus Empiricus, von dem allein zehn der siebenundfünfzig Zitate stammen.

Etwa 1000 Bücher lagen, denn sie waren wie damals üblich aufeinandergestapelt, in fünf um die Wände laufenden Regalen. Die meisten hatte er von seinem früh verstorbenen Freund La Boëtie geerbt. Ein Vermächtnis, das seinen Blick nicht nur auf eine geistige Welt, sondern auch auf den Tod lenkt, jene unüberblickbare Mauer. Um das Sterben und den Tod als Auslöschung der Individualität kreist das Denken von Montaigne. Warum und wie sterben wir? Und was ist der Tod? Das sind die ihn bewegenden Fragen, sie sind der Grund für alle anderen Fragen. In diesem abgründigen Blick liegt etwas heroisch Vergebliches. Der Turm kann den Tod nicht abwehren und nicht einmal die Zeit. Ich fühle den Tod mir beständig an der Kehle oder im Nacken sitzen. Doch ich bin anders geschaffen: Er ist mir überall ein Ding. Wenn ich indessen zu wählen hätte, so glaube ich, ich stürbe lieber zu Pferd als in meinem Bett, außer meinem Haus und fern von den Meinen. Es ist mehr Herzeleid als Trost im Abschiednehmen von seinen Freunden. Es war dieses Herzeleid, das ihn beim Tod seines Freundes La Boëtie...

Erscheint lt. Verlag 5.3.2015
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Anthologie • Begegnungen • Erfahrungen • Essays • Leben • Lektüren • Montaigne • Reflexionen • Texte-Sammlung • Uwe Timm
ISBN-10 3-462-30912-9 / 3462309129
ISBN-13 978-3-462-30912-6 / 9783462309126
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