Der Schlangenbaum (eBook)
336 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30873-0 (ISBN)
Uwe Timm, geboren 1940 in Hamburg, lebt in München und Berlin. Sein Werk erscheint seit 1984 bei Kiepenheuer & Witsch in Köln, u.?a.: »Heißer Sommer« (1974), »Morenga« (1978), »Der Schlangenbaum« (1986), »Kopfjäger« (1991), »Die Entdeckung der Currywurst« (1993), »Rot« (2001), »Am Beispiel meines Bruders« (2003), »Der Freund und der Fremde« (2005), »Halbschatten« (2008), »Vogelweide« (2013), »Ikarien« (2017), »Der Verrückte in den Dünen« (2020), »Alle meine Geister« (2023).
Uwe Timm, geboren 1940 in Hamburg, lebt in München und Berlin. Sein Werk erscheint seit 1984 bei Kiepenheuer & Witsch in Köln, u. a.: »Heißer Sommer« (1974), »Morenga« (1978), »Der Schlangenbaum« (1986), »Kopfjäger« (1991), »Die Entdeckung der Currywurst« (1993), »Rot« (2001), »Am Beispiel meines Bruders« (2003), »Der Freund und der Fremde« (2005), »Halbschatten« (2008), »Vogelweide« (2013), »Ikarien« (2017), »Der Verrückte in den Dünen« (2020), »Alle meine Geister« (2023).
2
Am späten Nachmittag erreichten sie die Stadt. Wagner hatte fast vier Stunden geschlafen. Als er aufwachte, fuhren sie durch eine rotbraune staubige Ebene, in die der Regen tiefe Rinnen gewaschen hatte. Dann kam ein Zementwerk, daneben standen vierstöckige kastenförmige Häuser, Neubauten, die wie Ruinen aussahen. Hier wohnten offenbar die Arbeiter des nahe gelegenen Zementwerks. Die Häuser standen in einer Senke, in der vom letzten Regen das Wasser stehen geblieben war. Frauen wateten darin herum, ein Mann balancierte auf einer Bohle zu einem Hauseingang. Kinder paddelten auf zusammengebundenen Benzinkanistern von Haus zu Haus. Was für eine idiotische Planung, dachte Wagner, die Häuser in dieser Senke zu bauen. Ein paar Hundert Meter weiter hätten sie auf dem Trockenen gestanden.
Sie fuhren an Hütten und kleinen Behelfshäusern vorbei und kamen in den älteren Teil der Stadt. Die Häuser hier waren meist zweistöckig, hatten schwungvolle Voluten an der Dachbalustrade und waren wahrscheinlich um die Jahrhundertwende gebaut worden. Von den Fassaden war der Putz flächig abgefallen, Gesimse waren abgebrochen, in den hölzernen Fensterläden fehlten Traljen. Aus den Innenhöfen ragten Palmen, grau überpudert vom Staub des nahen Zementwerks und zerzaust wie riesige Klosettbürsten. Vor den Häusern, im Schatten, saßen Frauen, die Wäsche stopften und Gemüse putzten. Eine alte grauhaarige Frau saß an einer Tret-Nähmaschine auf dem Bürgersteig. Eine Horde Kinder kämpfte um einen Fußball.
Sie fuhren über einen Platz, in dessen Mitte ein Reiterdenkmal aus Kupfer stand, ein Mann, der auf einem sich aufbäumenden Pferd seinen Säbel in den Himmel stieß.
San Martin, sagte der Fahrer, da Freiheitshold.
Hinter dem Platz erhoben sich drei, vier neuere Hochhäuser. Vor dem ersten, in dessen honigfarbenem Glas sich die untergehende Sonne spiegelte, hielt der Fahrer, stieg aus und öffnete den Wagenschlag. Im selben Moment kam aus der Tür des Hochhauses ein Mann in einem beigen Anzug, lief die breiten, mit weißem Marmor ausgelegten Treppen hinunter und streckte Wagner schon von Weitem die Hand entgegen.
Willkommen, rief er, hier in der Wildnis, dann drückte er Wagner übertrieben fest die Hand und sagte: Mein Name ist Bredow. Ich dachte, das Beste ist, wenn wir gleich zu Ihnen nach Hause fahren, dann können Sie sich umziehen, schwimmen, und danach kommen Sie zu uns zum Essen, wenn Sie das noch mögen, nach der langen Reise. Im Übrigen sollten wir uns duzen, das ist hier üblich.
Gut, sagte Wagner, der die kumpelhafte Duzerei auf dem Bau hasste, zumal unter den Ingenieuren und Bauleitern. Bredow setzte sich neben Wagner in den Fond und sprach mit dem Fahrer auf Spanisch.
In der Firmenleitung hatte der Direktor der Auslandsabteilung Wagner ausdrücklich auf die Kompetenzaufteilung bei diesem Bau hingewiesen. Wagner sei ausschließlich für die technische Durchführung des Projekts zuständig, darin allerdings absolut selbstständig. Alles andere aber, die kaufmännischen Fragen, insbesondere auch die Verhandlungen mit den Behörden und Dienststellen im Lande, sei ausschließlich Aufgabe von Bredow. Bredow habe schon mehrere Projekte geleitet (er sagte sehr betont geleitet, und später ärgerte sich Wagner, nicht nachgefragt zu haben, wer denn nun Bauleiter sei, er oder Bredow), ein Mann, der schon fünfzehn Jahre im Lande lebe und über ganz ausgezeichnete Beziehungen zu den offiziellen Stellen verfüge. Ohne die laufe dort nichts. Wagners Vorgänger habe sich wie ein Elefant im Porzellanladen aufgeführt, und es sei nicht verwunderlich, dass der Mann dann einen Nervenzusammenbruch bekommen habe. Wagner verstand es so, wie es gemeint war, als Warnung.
Bredow hatte auffallend durchsichtige hellblaue Augen, aber seine Gesichtshaut war so tief gebräunt, wie man es sonst allenfalls an brünetten Menschen sieht. Die langen hellblonden Haare hatte er straff an den Kopf gekämmt, bis in den Nacken hinunter, wo sie, wie erlöst, sich wieder nach oben kräuselten.
Sie fuhren aus der Stadt nach Westen hinaus, der untergehenden Sonne entgegen. In der sonst kahlen rotbraunen Ebene lag, wie eine Insel, ein mit Bäumen und Büschen bestandener Hügel. In dem Grün waren Häuser und Villen zu erkennen. Auf der linken Straßenseite kamen ihnen, in einer nicht abreißenden Reihe, Männer und Frauen entgegen.
Das sind die Dienstboten (was für ein altertümliches Wort) und Gärtner, erklärte Bredow, die haben Feierabend und gehen jetzt nach Hause in die Stadt.
Am Fuß des Hügels war die Straße durch einen Schlagbaum gesperrt. Zwei Soldaten mit Maschinenpistolen standen dort Wache. Der eine Soldat kam auf den Wagen zugeschlendert. Bredow hatte das Fenster heruntergekurbelt und rief etwas auf Spanisch hinaus. Der Soldat lachte, sagte irgendetwas und ging zum Schlagbaum, den er hochdrückte.
So, das ist der grüne Hügel. Du wohnst unten, direkt an der Mauer. Unser Haus ist nicht weit entfernt. Ganz oben wohnen die gut betuchten Einheimischen, die sogenannten ranzigen Familien.
Die Straße war breit und sorgfältig asphaltiert. Die Kantsteine waren mit phosphoreszierender Farbe weiß gestrichen. Überall brannte, obwohl es jetzt erst dämmerte, Licht: Häuser, Gartenmauern, Wege, ja sogar die Rasenflächen und einzelne Bäume in den Gärten wurden angestrahlt.
Wagner fragte, ob man abends zu Fuß zur Stadt hinüberspazieren könne.
Nein, besser nicht. Du hast ja deinen Wagen. Die Firma bewilligt zwar nur einen Ford, aber der tut seine Dienste. Der Chauffeur hielt vor einem großen, hell erleuchteten Bungalow.
Sie stiegen aus. Plötzlich war es still, bis auf das melodische Singen eines Vogels. Wagner stand in der Dämmerung und hatte noch die Fahrgeräusche in den Ohren, Geräusche, die ihn über dreißig Stunden lang begleitet hatten und wie ein Echo nachhallten. Es hatte etwas abgekühlt. Die Luft war erfüllt von einem schweren Blütenduft, den Wagner sonderbarerweise auch zu schmecken glaubte, süßlich. Die Tür des Bungalows wurde geöffnet, und eine Sirene heulte kurz auf. Eine Hand zuckte wieder zurück. Die Sirene wurde ausgeschaltet. Dann erschien eine ältere Frau in einem weißen Kittel. Ihr graues Haar hatte sie zu einem dicken Zopf gebunden. An den ungewöhnlich großen, nackten Füßen trug sie Plastiksandalen.
Das ist Sophie, sagte Bredow, dein guter Hausgeist.
Die Frau gab Wagner die Hand, starrte ihn aus blauen unbeweglichen, fast leblosen Augen an.
Willkommen, murmelte sie und schlurfte ins Haus. Der Chauffeur folgte ihr mit den Koffern.
Sie kommt aus Entre Rios, sagte Bredow, dort leben viele Russlanddeutsche, die in den Zwanzigerjahren, nach der Revolution, aus Russland ins Land gekommen sind. Etwas altertümlich in ihren Ansichten, aber ehrlich und fleißig, was hier ja nicht immer selbstverständlich ist.
Bredow führte Wagner durch das Haus, fünf Zimmer und ein riesiges Wohnzimmer, davor eine Veranda. Die Zimmer waren möbliert, klobige Sessel, polierte Mahagonischränke.
Nicht gerade das italienische Design, sagte Bredow und klopfte an einen Schrank, aber solide Handarbeit und vor allem hier im Lande hergestellt.
Sechs Zimmer. Ich kann die nur abschließen oder aber eine Pension aufmachen.
Dann schon lieber ein Freudenhaus.
Wagner sah in den angeleuchteten Garten hinaus, großlappige Blätter, ein kurz geschorener Rasen, eine Bananenstaude, an der schwer ein Fruchtkolben hing, üppige Büsche, dahinter: Dunkelheit. Er ging durch die Zimmer. Das Schlafzimmer war mit weiß lackierten Einbauschränken vollgestellt, in der Mitte stand ein kolossales Ehebett aus Messing. Im nächsten Zimmer: nur ein Schrank, ein kleiner Schreibtisch und ein Bett. An dem Fenster, das zum Garten führte, klebten zwei bunte Abziehbilder, zwei Schlümpfe. Durch sie verlor der Raum etwas von seiner Fremdheit. Wagner sagte, er wolle in diesem Zimmer schlafen, nicht in dieser Zwingburg von einem Ehebett.
Ist mir egal, murmelte Sophie und schleppte die Reisetasche Wagners in das Zimmer.
Ich fahr jetzt nach Hause, sagte Bredow. Du kommst zum Essen, so in einer Stunde. Du hast unser Haus ja schon gesehen, die Nummer ist leicht zu merken, 333, die Schlacht bei Issos.
Er brachte Bredow zur Tür und verabschiedete sich vom Chauffeur. Er beobachtete Bredow, wie der zum Wagen hinüberging. In all seinen Bewegungen war eine bewusste Ökonomie, etwas Kraftsparendes, und es ging eine freundliche Ruhe von ihm aus. Wagner war überzeugt, dass er mit Bredow gut auskommen würde. Das war nicht der Mann, der um Anerkennung kämpfen musste, mit dem man in einem Grabenkampf um läppische Details focht.
Sophie war dabei, die Sachen in die zahlreichen Einbauschränke des Hauses zu verteilen. Es wäre viel einfacher gewesen, alles in dem Schrank des früheren Kinderzimmers unterzubringen, aber die Frau hatte ihre festen Vorstellungen, und so verloren sich seine Socken, Hosen und Hemden langsam im Haus.
Er fragte nach seiner Badehose, und sie schlurfte, etwas in sich hineinmurmelnd, raus. Er würde von jetzt an nach jedem Kleidungsstück fragen müssen. Er ging hinaus, in den Garten, über das stoppelige Gras, das er unter nackten Sohlen spürte.
Das Schwimmbecken war gute zehn Meter lang und endete in einer aus Natursteinen gebauten Grotte, aus der ein kleiner Katarakt plätscherte. Von unten beleuchtet, warf das Wasser seine Reflexe auf die Steine und die weit überhängenden, großen Blätter mehrerer dickstängeliger Pflanzen, die so dicht wuchsen, als beginne hier, hinter dem Swimmingpool, der Urwald. Wagner schwamm und tauchte. Über ihm glänzte das Laub eines gewaltigen Baums, dessen Stamm die Form einer Flasche hatte. Ein Nachtvogel sang,...
Erscheint lt. Verlag | 5.3.2015 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Aberglaube • Bau-Firma • Belletristik • Fabrik • Ingenieur • Kiepenheuer & Witsch • Korruption • Kultur • Militär • Natur • Papierfabrik • Roman • Schlangenbaum • Süd-Amerika • Uwe Timm |
ISBN-10 | 3-462-30873-4 / 3462308734 |
ISBN-13 | 978-3-462-30873-0 / 9783462308730 |
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