Um unsere Webseiten für Sie optimal zu gestalten und fortlaufend zu verbessern, verwenden wir Cookies. Durch Bestätigen des Buttons »Akzeptieren« stimmen Sie der Verwendung zu. Über den Button »Einstellungen« können Sie auswählen, welche Cookies Sie zulassen wollen.

AkzeptierenEinstellungen

Irma (eBook)

eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
240 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-04831-7 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Eine Freundschaftsanfrage per Facebook. Sie kommt von Irma. Die hat der Erzähler zuletzt vor 30 Jahren gesehen, als er mit ihr in Wien Wohnung und Bett teilte. Und alles begann und endete mit einem Zettel auf dem Küchentisch. Derart angestoßen, beginnt er sich zu erinnern: an die reichlich dysfunktionale Beziehung zweier junger Menschen, die nicht wissen, ob sie in Gefühlsdingen besonders aufrichtig oder einfach nur bindungsunfähig sind. An frühere Stationen seines Lebens, erotische Suchbewegungen, Niederlagen anderer Art, Missbrauchserfahrungen, Reisen in die Welt hinaus bis nach China. Der Autor hat zu seinem Text Bilder gesammelt, alte Plattencover, Fotos, Werbepostkarten. Das kennt man seit W. G. Sebald von vielen «recherchierend» vorgehenden literarischen Werken. Rubinowitz stellt aber diese Form der Beglaubigung gleich wieder in Frage, indem er die Bilder von dem befreundeten Künstler Max Müller nachzeichnen lässt. Dies ist ein ganz und gar eigensinniger, sprunghafter, komischer, sehr unterhaltsamer und zugleich verstörender Versuch über Vergänglichkeit und Erinnerung, über das, was zurückschaut, wenn man autobiographisch hinter sich blickt, und über das, was dabei herauskommt, wenn man sich anschickt, aus der eigenen Biographie Literatur zu machen.

Tex Rubinowitz, geboren 1961 in Hannover, lebt seit 1984 als Witzezeichner, Maler, Musiker und Schriftsteller in Wien. 2014 erhielt er den Bachmann-Preis.

Tex Rubinowitz, geboren 1961 in Hannover, lebt seit 1984 als Witzezeichner, Maler, Musiker und Schriftsteller in Wien. 2014 erhielt er den Bachmann-Preis.

2.


Ich bin weggegangen. Wenn ich in 50 Minuten nicht zurück bin, komme ich gar nicht mehr. Brauchst nicht zu warten.

 

50 Minuten? Wieso 50 Minuten? Ich habe mal ein Foto gesehen, von einem Mann, der sich selbst angezündet hat, 95 Prozent seiner Haut waren verbrannt, er hatte noch endlose 50 Minuten zu leben, ein langsamer Tod. Er saß auf einem weißen Plastikstuhl, einem sogenannten Monobloc, die gibt’s heute gar nicht mehr. Sie hatten ihn da raufgesetzt, keine Ahnung, warum, dass er es 50 Minuten irgendwie bequem hat, oder sie wollten ihn demütigen oder etwas dazwischen.

 

Du bist erst mal 50 Minuten frei – und danach vielleicht noch freier. Ich war niemals hier. Freu dich.

 

Ich fand den Zettel auf dem Küchentisch. Sie hatte ihn geschrieben, wir schrieben uns oft solche kleinen Botschaften, banale («Keine Butter») oder mysteriöse («Die Zeit der Unschuld ist vorbei, wenn das Klopapier durch Hasendraht ersetzt wird»). Sie saß im Wohnzimmer (das auch unser Schlafzimmer ist) und sah fern, eine Dokumentation über Eulen, sie rauchte. Was sah ich zuerst, sie oder den Rauch?

«Alles klar?»

Sie sagt nichts.

«Du rauchst?»

«Nein, ich schaue einen Eulenfilm.»

«Aber du rauchst dabei.»

«Scheint so.»

Ich mag es nicht, wenn sie im Wohn-/Schlafzimmer raucht, wir rauchen eigentlich nur in der Küche, also ich selten, eher nie, sie andauernd. Einmal meinte sie zu mir: «Du rauchst, wie ein Nichtraucher denkt, dass ein Raucher raucht.» Ich weiß auch nicht, warum wir in der Küche rauchen, vielleicht weil in der Küche weniger Stoff ist, in dem der Rauch hängenbleiben kann. Komisch, dass Rauch nicht in Essen hängenbleibt, gar nicht so komisch eigentlich, Essen wird ja immer gleich aufgegessen, Teppiche werden es eben nicht, und nicht ohne Grund hängen vor Küchenfenstern eher selten Gardinen. Ein Zimmer, in dem nicht geraucht wird, ist wie ein Zimmer ohne Vorhänge – ihre Worte.

Sie hat, als ich sie wieder mal dafür kritisierte, dass sie im Wohnzimmer raucht, sinngemäß gesagt, Raucher seien freigeistige und genussfreudige Menschen, denen ihr freier Genuss vermiest werden und als «Sucht» stigmatisiert werden solle. Bezeichnenderweise seien ja auch Hitler und Stalin Nichtraucher gewesen. Wenn mehr Menschen rauchen würden, gäbe es wohl nicht einmal mehr Kriege, denn die Raucher seien so entspannt, dass sie genussvoll leben und leben lassen könnten.

Auf meinen Einwand, dass Stalin doch Kettenraucher gewesen sei, seufzte sie Edie-Sedgwick-haft: «Aber er hat sich verhalten wie ein Nichtraucher.»

Ich wollte diese Diskussion nicht. Mich störte der Rauch auch weniger als ihre Unberechenbarkeit.

«Ich hab den Zettel in der Küche gelesen.»

«Nicht jetzt.»

«Wenn du den Film zu Ende gesehen hast, gehst du?»

«Ja.»

«Und kommst wieder?»

«Nicht jetzt»

«50 Minuten?»

Keine Antwort. Ich habe nichts gegen Pragmatismus, Eulen, Rauchen an den richtigen Orten, einfach mal so eben Verschwinden, aber manchmal würde ich mir bei ihr vielleicht etwas mehr Leidenschaft wünschen, Pathos. Einen durch und durch pragmatischen Menschen kann man nicht anfassen, man kann ihn ja eigentlich auch nicht umbringen, du kriegst ihn nicht.

«Geht’s dir nicht gut? Ist was?»

Sie zündete sich eine neue Zigarette an und bedachte mich mit einem Blick wie ein verhungerter Blitz: «Pass mal auf, lass mich bitte diesen Film zu Ende ansehen, dann kümmern wir uns um dich. O.k.?»

Wieso um mich kümmern? Ich kann mich um mich selbst kümmern, zumindest für die Länge eines Eulenfilms. Ich ging in die Küche, nicht um zu rauchen, ich hätte ja für sie dort rauchen können, ich machte mir ein Bier auf, das ist meins, sie trank kein Bier. Sie meinte, die Bitterkeit des Bieres sei ihr zu arrogant.

Irma trank auch keinen Wein oder sonst was, sie leckte an Batterien. Immer hatte sie eine Batterie bei sich, an der sie lutschte. Abwechselnd rauchen und an der Batterie lecken, Zigaretten und Batterien, das hielt offenbar ihre Maschine am Laufen. Immerhin weniger irritierend, als an Steckdosen zu lecken und Pfeife zu rauchen.

Ich habe Irma in Wien kennengelernt, im U4, damals eine angesagte Disco, als Discos noch nicht Clubs hießen, und zum U4 sagte man noch nicht einmal Disco, sondern nur U4. Hier soll auch immer Falco rumgehangen haben, wir waren später noch öfter dort, Falco habe ich allerdings nie gesehen. Ich kann mich nur an ein Lied erinnern, Madam Butterfly, von Malcolm McLaren, das war damals ein kleiner Hit. Das Lied ging endlos, es schien mir zumindest endlos (in Wirklichkeit dauert es sieben Minuten, aber in den uns eingebrannten Songparametern sind sieben Minuten eben lang), wir standen an der Bar, sie trank nichts, ich irgendein charakter- und kohlensäurearmes Bier. Sie schüttete mir Zucker in die Jackentasche, das fand sie wohl lustig, aber es war der vielleicht intimste Akt zwischen uns, vielleicht eine Ouvertüre, auf dieser Frequenz würde sie also senden. «Back in Nagasaki I got married to Cho Cho San. That was her name. Back in those days. And I was her man.» Das Stück basiert ja auf einer Oper Puccinis, und Opern waren und sind mir eigentlich immer noch relativ egal, aber solche Koinzidenzen, Oper in der Disco, Zucker in der Tasche, adeln bekanntlich jeden Unsinn, vielleicht gilt das sogar für Opern in der Oper.

Irma kam mit dem Zug. Sie war mit einem Interrailpass unterwegs, das war im September 1984, und ist gewissermaßen in Wien steckengeblieben. Sie wollte nach Ungarn, bekam aber kein Visum, oder das Visum war ihr zu teuer, irgendwas mit dem Visum war es. Wir blieben bis zur Sperrstunde, als man die ganzen Gestalten ungeschützt in einen hämischen Morgen kehrte, die ganzen Übrigbleiber und Nachzehrer. Es will ja niemand der Letzte in einer Disco sein, wenn das Licht angeht, der Erste auch nicht, wenn das Licht noch an ist. Aber uns war das egal, wir hatten das billige Lied im Ohr, das jetzt unser Lied war, es ließ sich schlecht tothören, es summte in uns nach, in einem besseren Kontext, wie wir fanden, wir hatten es da rausgeholt.

Was jetzt? Ratlos gingen wir durch Nagasaki, ich kannte die Stadt auch noch nicht, war erst seit einem Monat hier, wir küssten uns unter einer eisernen Otto-Wagner-Brücke die Lippen wund, und ich habe das so interpretiert, dass wir jetzt zusammen wären, dass dieser Kuss das jetzt sozusagen besiegeln würde. Am Abend fuhr sie mit dem Zug nach Belgien, aber drei Wochen später kam sie nach Wien zurück, unangekündigt, und zog wie selbstverständlich bei mir ein, und wie selbstverständlich ließ ich sie einziehen, ich wollte mir nicht die Blöße der Überrumpelung und Überforderung geben. Da stand sie vor der Tür, mit einem kleinen Wanderrucksack: ein bisschen Kleidung, unter anderem ein schwarzes Hemd, auf dessen Knopfleiste sie mit weißer Wäschefarbe Ameisen, und eine grüne Seifendose, auf die sie einen Hecht gemalt hatte, der von einer Axt in zwei Teile gespalten war. Mich rührte das, nicht die Tiere, sondern, dass sie Seife mitgebracht hatte, ein kleines runzliges Stückchen, dessen Aroma schon längst ausgehaucht war.

Wir imitierten Leben, in meiner 26-Quadratmeter-Wohnung in Ottakring, Schellhammergasse 16, Garçonnière nannte man das schönfärberisch. Klo am Gang, als einzigen Luxus: ein Fernseher und ein Videorecorder, den hatte mir mein Vorgänger überlassen, nein, eingetauscht gegen einen dunkelblauen Marinemantel mit silbernen Knöpfen und einen hellblauen Sony-Walkman.

Irma war irgendwie Litauerin, sie kam aus Litauen, finsterste Sowjetunion damals. Ich fragte sie, wie denn das gegangen sei, dass sie so einfach ausreisen konnte, sie sprach ein leicht patiniertes Deutsch, mit nasalen Vokalen und wunderlichen Vokabeln (verbumfeit, baglamisiert, klabastrig), sie meinte, sie und ihre Eltern würden schon länger («ewig und drei Tage») in Hannover leben, als Kontingentflüchtlinge, eigentlich Baltendeutsche, auch wenn dieses Deutsche an ihnen inzwischen einem Kompromiss gewichen sei. Sie schwärmte für die Stadt, weil sie so uncharismatisch sei. Charismaradiergummi nannte sie mich mal in einem anderen Zusammenhang, ich weiß nicht, ob das als Spott oder Kompliment gedacht war, sie wusste zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal, dass ich selbst aus Hannover komme. Als ich ihr das erzählte, nannte sie mich nie wieder so, leider.

Ich war ihr erster Freund, und sie war meine erste (echte) Freundin, nach kleinen blinden Gehversuchen ohne Bedeutung, na gut, sie hat mal etwas von einem Franzosen erzählt.

Unsere Freundschaft, oder besser: unser Zusammensein, war genauso pragmatisch, also unangreifbar, wie alles an und mit ihr. Wenn wir uns küssten, ließ sie die Augen offen. Ich assoziierte automatisch immer die Righteous Brothers: «You never close your eyes anymore when I kiss your lips», das heißt den falschen Brüdern zufolge ja, wenn man die Augen auflässt, ist es vorbei («You’ve lost that lovin’ feeling»). Aber was hat man denn vorher gesehen, wenn man die Augen geschlossen hat? Den Vorgänger vielleicht? Einen Idealpartner? Einen Franzosen? Ist das nicht Betrug? Sie verschließen die Augen vor der Wirklichkeit wie kleine Kinder, wenn die die Augen zumachen, existiert die Welt auch nicht mehr oder nur eine, in der eine Katze mit einer Krone auf dem Kopf Präsident werden kann.

Man klappt Leichen die Lider runter, damit die Lebenden nicht von den vorwurfsvollen Blicken der Toten belästigt werden,...

Erscheint lt. Verlag 6.3.2015
Illustrationen Max Müller
Zusatzinfo Mit 18 s/w Zeichn.
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Hamburg • Ingeborg Bachmann Preis • Lüneburg • Wien
ISBN-10 3-644-04831-2 / 3644048312
ISBN-13 978-3-644-04831-7 / 9783644048317
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 5,1 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von Wolf Haas

eBook Download (2025)
Carl Hanser Verlag München
18,99
Roman

von Chimamanda Ngozi Adichie

eBook Download (2025)
S. Fischer Verlag GmbH
19,99