Klartext (eBook)
156 Seiten
Passagen Verlag
978-3-7092-5007-5 (ISBN)
Alain Badiou, geboren 1937 in Rabat, Marokko, lebt als Philosoph, Mathematiker und Romancier in Paris.
Alain Badiou, geboren 1937 in Rabat, Marokko, lebt als Philosoph, Mathematiker und Romancier in Paris. Alain Finkielkraut, geboren 1949 in Paris, ist Philosoph und Autor.
Einleitung
„Man sollte niemals diskutieren“, hat Philipp Muray einmal behauptet. „Ein originelles Weltverständnis kann und muss als eine unabänderliche Uneinigkeit, als eine Stimmungsunvereinbarkeit dastehen. Man darf nicht argumentieren, man muss radikale Grenzen ziehen.“1 Der geniale Denker des „Endes der Geschichte“ und des universalen Trugbildes, der Autor von Désaccord parfait hat besser als jeder andere erfasst und formuliert, dass das Ziel der Mehrzahl der heutzutage in den Medien verbreiteten Pseudo-Debatten keineswegs die Überwindung der Meinungsverschiedenheiten ist. Im Gegenteil, die Verdampfung des Sinns ist ihr ungedachter Zweck. Man sieht übrigens täglich, wie sich die große Kommunikationsmaschinerie von karikaturistischen Feindschaften nährt, die übertrieben werden, wenn sie nicht schlicht vorgetäuscht sind, um besser von den wahren Kämpfen abzulenken. Es sei uns erlaubt, zu sagen, wie sehr unser im Jahr 2006 plötzlich verstorbener Freund wieder einmal Recht gehabt hat. Man sollte tatsächlich niemals diskutieren, wenn das darauf hinausläuft, ein solch illusorisches Schlachtfeld zu errichten, das als bequemer Schutzschirm für die Handelsund Denkunfähigkeit fungiert. Man sollte noch weniger diskutieren, wenn das darauf hinausläuft, zwei schwache Ansichten zu verbreiten, die sich gegenseitig eine Räuberleiter machen, um gehört zu werden oder schlimmer noch, Beachtung zu erlangen.
Bei den zwei hier vorgestellten Männern handelt es sich sicherlich nicht um derartiges. Badiou und Finkielkraut, das sind zwei radikal voneinander abweichende Sichtweisen, die am Puls der Zeit liegen. Zwei Eigennamen, die wie Decknamen für zwei intellektuelle Clans klingen, die fest entschlossen sind, sich im heutigen Frankreich zu bekämpfen. Als wir sie zum ersten Mal anlässlich eines Gesprächs, das in der Wochenzeitung Le Nouvel Observateur am 21. Dezember 2009 erschienen ist, einander gegenübertreten ließen, mussten sich beide von den hitzigsten ihrer Parteigänger die schlichte Tatsache vorwerfen lassen, den Gegner überhaupt getroffen zu haben. Jene wurden jedoch beim Erscheinen des Wochenmagazins schnell beruhigt, da das befürchtete Happy End nicht eintrat. Eine gespannte, geladene und manchmal sogar hitzige Atmosphäre machte sich auf jeder Seite bemerkbar. Es war ganz gewiss keine gewöhnliche Debatte, sondern tatsächlich eine gleichsam „tätliche Auseinandersetzung“2, wie man auf Französisch sagt.
Dennoch fand am 16. Februar 2010 ein zweites Gespräch statt. In der Zwischenzeit gab es unzählige, extrem heftige und ausufernde Reaktionen der Leser. Dutzende Internet-Sites und -Blogs hatten die Sache im Netz verbreitet, tausende leidenschaftliche Kommentare hatten sich gekreuzt und der Verlag Lignes teilte uns bald sein Interesse an einer Publikation des wesentlich erweiterten Textes mit. Die zweite Begegnung ähnelte nicht der ersten. Die ein wenig künstlich nervöse Verkrampfung hatte sich gelöst. Die angesprochenen Themen, angefangen bei Israel, über den Mai ’68 bis zum relativen Wiedererstarken der kommunistischen Idee, hatten jedoch nichts Lockeres an sich. Man hätte sich sogar berechtigterweise eine Neuauflage des berühmten Familienabendessens erwarten können, das vom Zeichner Caran d’Ache im Figaro am Höhepunkt der Dreyfusaffäre unter dem Titel „Sie haben darüber gesprochen“ skizziert wurde. In Wirklichkeit fand nichts dergleichen statt. Es herrschte nunmehr eine wirkliche, gegenseitige Neugierde vor und der Humor verlieh den delikatesten Waffengängen einen besonderen Akzent.
Die Debatte hätte am Nachmittag eineinhalb Stunden dauern sollen, sie dehnte sich auf volle vier Stunden aus. Die winterliche Sonne war bereits von der Place de la Bourse verschwunden, nicht so die Streitenden, die Fragen stellten, auf Antworten wieder zurückkamen und noch Streit suchten, als die Nacht schon angebrochen war und ihre Pferde, um Hugos Die Legende der Jahrhunderte zu parodieren, schon lange tot waren. Schläge wurden ausgeteilt, manchmal extrem harte Schläge, es wurden auch Punkte zurückgegeben und sogar Hände gereicht, aber es gab am Ende natürlich kein Friedensprotokoll. Wäre das denn auch nötig? Dieses Mal gelangte man tatsächlich zum Kern der Überzeugungen, mit all dem, was er an unerwarteten Konvergenzpunkten und auch an unüberwindlichen Hindernissen bedingt.
Zurecht ist keine der beiden anwesenden Persönlichkeiten berühmt für ihre Neigung zum Konsens oder zur gemäßigten Mitte, noch weniger zum Kompromiss. Das ist sogar eines der wenigen Dinge, die sie gemeinsam haben. Gleichzeitig hebt es sie heute aus der Masse hervor. Ein und dieselbe Unnachgiebigkeit gegenüber dem, was jeder für die Wahrheit hält, die ohne Verstellung vorgebracht wird. Und auch ein Mut, der bewiesen und durch die Feuerprobe so mancher intellektueller Affären gegangen ist, die seit der Mitte der 2000er-Jahre spektakulär inszeniert worden sind und sie manchmal grausamen Bezichtigungen ausgesetzt hat. Seinen Standpunkt mit Festigkeit vertreten, koste es, was es wolle, würde Alain Badiou sagen. Sich nicht vom Knurren des „Gutmenschentums“ einschüchtern lassen, würde Alain Finkielkraut antworten. Und beide würden sich also darüber streiten, was das Wesen dieser Gegnerschaft ist, der es unablässig zu trotzen galt.
Würde dann aber nicht von Neuem die Frage auftauchen: Wozu dann diskutieren? Man bräuchte auch gar nicht zu diskutieren, wenn das darauf hinausliefe, zwei Selbstgespräche parallel vor sich hinlaufen zu lassen, zwei diametral entgegengesetzte Autismen, die so tun würden, als wüssten sie nicht um ihre trostlose Symmetrie und ihre objektive Komplizenschaft in der Komödie der Medienberufe. Auch das wird hier nicht der Fall sein. Dieses Buch ist sogar deshalb interessant, weil es den Beweis dafür antritt. Genauso wenig wie Alain Finkielkraut ein absolut typischer Neo-Konservativer ist, ist Alain Badiou ein pawlowsch konditionierter Progressist. Es wäre so einfach für die Verfechter der Politik der Katastrophe! So bequem für all jene – und sie sind zahlreich –, die für nichts in der Welt auf einen Antagonismus verzichten würden, der sie ebenso sehr davon befreit, ihre intellektuelle Faulheit aufzugeben, wie auf ein einziges ihrer Vorurteile zu verzichten.
Das Echo, das das Buch Wofür steht der Name Sarkozy?3 seit der Präsidentenwahl von 2007 hervorrief, hat Alain Badiou die Titelrolle des unerbittlichen Radikalen eingebracht, des von Wunden übersäten, aber diabolisch ausdauernden Maoisten, des leidenschaftlich pro-palästinensischen Aktivisten – neben anderen Verkürzungen und Verfälschungen, die immer nützlich sind, wenn man glaubt, sich auf diese Weise einem anspruchsvollen Werk nähern zu können. Eine selbst oberflächliche Lektüre seiner jüngsten Stellung beziehenden Werke, ganz zu schweigen von seiner langjährigen philosophischen Arbeit, die seit dem Erscheinen von Das Sein und das Ereignis4 Ende der 1980er-Jahre weltweit geschätzt und studiert wird, würde jedoch leicht von einer weitaus scharfsinnigeren und komplexeren Position überzeugen. Das Portrait Alain Badious als extremistischer Verderber unschuldiger Schüler, die nach dem Fall der Berliner Mauer geboren wurden, verdunkelt eigentlich nur in Frankreich dasjenige Portrait von Badiou als Philosophen des Einen und des Mannigfaltigen, das ein Thema umfassender Kolloquien von Athen bis Los Angeles ist.
Auch Alain Finkielkraut wird oft stark karikiert. In der französischen Landschaft nimmt er dennoch eine wahrhaft eigenständige Position ein. Wir erkennen das umso bereitwilliger an, als auch wir uns schon zumindest ein Mal in der Vergangenheit ernsthaft mit ihm gestritten haben, nämlich anlässlich seiner Stellungnahmen zu den Unruhen in den französischen Vorstädten im Jahr 2005. Als unablässiger Ankläger eines gleichmachenden und dominanten Demokratismus, als Verteidiger einer republikanischen Schule, die von der als unbezwinglich angesehenen Ausdehnung jenes Demokratismus bedroht sei, war der Autor von La Défaite de la pensée, entgegen der hartnäckigen Legende, geschichtlich niemals Teil des medialen Kartells, das „neue Philosophen“ genannt wird. Obwohl er ganz und gar ihren Antimarxismus teilt und mit einem von ihnen, mit Bernard-Henri Lévy, das Institut d’études lévinassiennes gründete, hat Alain Finkielkraut seit damals seine Abneigung gegen die aggressive Marketing-Dimension jener Operation deutlich gemacht. Es lässt sich in seinem Werdegang auch keine Spur von einer Zustimmung zu den amerikanischen Kriegen an der Wende des 21. Jahrhunderts erkennen. Es wäre nicht einmal übertrieben, zu behaupten, dass seine an Péguy gemahnende Verteidigung des ewigen Frankreichs, das in Auflösung begriffen ist, ganz zu schweigen von seiner untypischen Unterstützung eines schlimm an den Pranger gestellten Schriftstellers wie Renaud Camus – mit der er vor allem alleine dasteht – aus ihm eine Figur macht, die bis in die französische neokonservative...
Erscheint lt. Verlag | 1.2.2015 |
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Reihe/Serie | Passagen forum |
Übersetzer | Richard Steurer-Boulard |
Verlagsort | Wien |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie |
Schlagworte | 68er • Badiou • Finkielkraut • Israel • Judentum • Kommunismus • Nationale Identität |
ISBN-10 | 3-7092-5007-2 / 3709250072 |
ISBN-13 | 978-3-7092-5007-5 / 9783709250075 |
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