Wiedererinnerter Idealismus (eBook)

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2015 | 1., Originalausgabe
377 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73682-1 (ISBN)

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Wiedererinnerter Idealismus - Robert B. Brandom
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Was unterscheidet uns Menschen von anderen Lebewesen? Laut dem großen amerikanischen Philosophen Robert Brandom vor allem die Tatsache, dass wir in unserem Handeln und Urteilen Verpflichtungen eingehen und Verantwortung für das übernehmen, was wir tun und sagen. Wir leben in einem »Raum von Gründen«, insofern wir unser Tun stets rechtfertigen müssen und solche Rechtfertigungen auch von anderen verlangen. Menschliches Leben ist somit durch und durch normativ. In »Wiedererinnerter Idealismus« zeigt Brandom, dass der Ursprung dieser Einsichten bereits in der Philosophie Kants und Hegels zu finden ist. Seine fesselnden Studien beweisen die Aktualität und Bedeutung ihres Denkens für das Verständnis unserer Lebensform.

<p>Robert B. Brandom ist Distinguished Professor of Philosophy an der University of Pittsburgh und Fellow sowohl der American Academy of Arts and Sciences als auch der British Academy.</p>

2
Autonomie, Gemeinschaft, Freiheit


2.1 Einleitung


Das Thema meines ersten Kapitels war die bahnbrechende normative Konzeption von Intentionalität, die zum Kern der kantischen Überlegungen zum menschlichen Geist gehört. Kant fasst Urteilen und Wollen als etwas auf, durch das wir spezifische Formen von Verantwortung übernehmen. Zugleich versteht er das, was man in ihnen bejaht – mögliche Urteilsinhalte und praktische Maximen –, auf der Grundlage dessen, wozu man sich dadurch verpflichtet, das heißt derjenigen Form praktischer Verantwortung, welche man auf diese Weise übernimmt. Die praktische Tätigkeit, zu deren Vollzug wir uns im Urteilen und Handeln verpflichten, besteht darin, die neuen Verpflichtungen in ein vereinigtes Ganzes zu integrieren, das all die anderen, von einem selbst anerkannten Verpflichtungen umfasst. Ein vereinigtes Ganzes ist es kraft der rationalen Beziehungen zwischen seinen Teilen. Wir haben die Pflicht, materiale Unvereinbarkeiten, die wir zwischen unseren je eigenen Verpflichtungen entdecken, aufzulösen, indem wir einige der widerstreitenden Elemente verwerfen oder abändern – dies ist unser aller Pflicht zur Kritik. Zugleich haben wir die Pflicht, die inferentiellen Folgerungen aus unseren eigenen Verpflichtungen als Verpflichtungen anzuerkennen – dies ist unser aller Pflicht zur Erweiterung.

Solche integrativen Tätigkeiten zu vollziehen bedeutet, etwas zu einem Selbst oder Subjekt zu synthetisieren, das sich als verantwortlich erweist für die einzelnen Verpflichtungen, durch die es gegliedert ist. Kants Pragmatismus verpflichtet ihn grundlegend auf folgende Methode: Dasjenige, wofür man in diesem Sinne verantwortlich bzw. worauf man verpflichtet ist – die Inhalte der eigenen Urteils- und Willensakte –, muss von dem her verstanden werden, wozu diese Akte samt ihren Inhalten einen verantwortlich machen; und dies besteht darin, die so eingegangenen Verpflichtungen kritisch zu prüfen und zu erweitern. Die Voraussetzung einer solchen Strategie ist somit, dass diese Inhalte die Beziehungen materialer Unvereinbarkeit und inferentieller Folgerung bestimmen, in denen sie zueinander stehen. (Denn dies ist nötig, damit man überhaupt Konflikte auflösen und Folgerungen ziehen kann.) Diejenigen Regeln, die diese rationalen Beziehungen festlegen, sind die Begriffe, die man im Urteilen und Wollen anwendet, wobei wir diese Tätigkeiten als Akte des Bejahens spezifisch diskursiver (das heißt begrifflicher) Inhalte auffassen können.

Wer zwei Verpflichtungen als material miteinander unvereinbar bzw. in einer Beziehung inferentieller Folgerung zueinander stehend betrachtet, betrachtet sie, wie gesehen, letztlich als etwas, das auf einen einzelnen Gegenstand referentiell Bezug nimmt bzw. ihn repräsentiert. In diesen Verpflichtungen werden dem Gegenstand Eigenschaften zugesprochen, die einander aus- oder einschließen, selbst also miteinander unvereinbar sind bzw. in einer Folgerungsbeziehung zueinander stehen. Daher liefert der synthetisch-integrative Prozess mit seinen Aspekten der kritischen und erweiternden Tätigkeit (von denen Hegel mit der für ihn charakteristischen Bildlichkeit als einem »Ausatmen und Einatmen« spricht, welches die rational-organische Ganzheit des diskursiven Subjekts erhält) die Grundlage für das Verständnis beider Pole des intentionalen Nexus – des Subjekts und des Gegenstands. Ein Subjekt ist das, was miteinander unvereinbare Verpflichtungen zurückweist, insofern es diese nicht bejahen soll; und ein Gegenstand ist das, was unvereinbare Eigenschaften abweist, insofern er diese nicht aufweisen kann. (Subjekte haben die Pflicht, die Folgerungen aus ihren Verpflichtungen zu bejahen, Gegenstände hingegen weisen notwendig jene Eigenschaften auf, die aus ihren Eigenschaften folgen.)

Nach dieser Erklärung sind die (vertikalen) semantisch-intentionalen Beziehungen zwischen repräsentierenden Subjekten und repräsentierten Gegenständen eng mit den (horizontalen) deontisch-normativen Beziehungen der subjektiven Verpflichtungen untereinander bzw. mit den alethisch-modalen Beziehungen der objektiven Eigenschaften untereinander verbunden. Und diese Verbindung ist selbst wiederum in dem grundlegenden Prozess bzw. der Tätigkeit der rationalen Synthesis bzw. Integration fundiert. Wie ich diese Gedanken hier dargelegt habe, verdankt sich vielleicht mehr dem, was Hegel aus Kants Denken gemacht hat, als dem Selbstverständnis Kants. Aber wie kein anderer Denker vor ihm verknüpfte Kant deontische und alethische Modalitäten in Form reiner Begriffe miteinander. Diese Begriffe bringen verwandte Arten von Notwendigkeit zum Ausdruck – praktische und natürliche Notwendigkeit.

2.2 Kategorische Begriffe


Kant hat Humes praktische und theoretische Philosophie so verstanden, dass sie sich jeweils mit Varianten derselben Frage beschäftigen. Auf der Seite des praktischen Denkens fragt Hume, mit welcher Berechtigung wir von Beschreibungen, wie die Dinge beschaffen sind, zu Vorschriften übergehen, wie sie beschaffen sein sollen. Wie können wir den Übergang von ›Sein‹ zu ›Sollen‹ rational rechtfertigen? Auf der Seite des theoretischen Denkens fragt Hume, mit welcher Berechtigung wir von Beschreibungen, was wirklich geschieht, zu Darstellungen dessen übergehen, was notwendig geschieht bzw. was nicht geschehen kann. Wie also können wir den Übergang von der Beschreibung tatsächlicher Regelmäßigkeiten zur Formulierung notwendiger Gesetze rational rechtfertigen? In Kants Terminologie handelt es sich hierbei um zwei Arten von »Notwendigkeit« – praktische und theoretische. Denn für Kant bedeutet ›notwendig‹ nichts anderes als »einer Regel gemäß«. Humes Problem ist, dass selbst das im Rahmen seiner Theorie bestmögliche Verständnis der Tatsachen uns nicht dabei hilft, diese Arten von Regeln zu verstehen, die diese Tatsachen regieren und aufeinander beziehen – Regeln also, die hinter unseren Aussagen darüber stehen, was von dem tatsächlich Geschehenden (das wir seiner Ansicht nach direkt erfahren können) auch geschehen soll (normativ notwendig ist) bzw. geschehen muss (natürlich notwendig ist). (Ich habe oben folgende fundamentale idealistische Idee erläutert: Wenn wir den Gedanken, warum es diese zwei Typen von Regeln – deontische und alethische – geben muss und wie sich diese als solche zueinander verhalten, von unserer normativen rational-synthetischen Tätigkeit her verstehen, dann erfassen wir damit nichts anderes als das grundlegende Wesen und die Struktur der Intentionalität, das heißt die expressiven und repräsentationalen Beziehungen zwischen Subjekten und Gegenständen.)

Kants Antwort auf das vorgelegte Problem besteht darin, dass wir in der Lage, die sich Hume denkt, gar nicht sein können. Es kann nicht sein, dass wir empirische Behauptungen und Urteile über Tatsachen voll und ganz verstehen, aber keine Ahnung haben, was normative oder modale Urteile bedeuten. Um etwa urteilen, behaupten oder glauben zu können, dass eine Katze auf der Matratze sitzt, muss man zumindest die minimale praktische Fähigkeit haben, die materialen Inferenzen, die diesen Inhalt (als Prämisse oder Konklusion) enthalten, in gute und schlechte einzuteilen sowie zu unterscheiden, was mit dem Inhalt unvereinbar ist und was nicht. Dazu gehört, solchen Inferenzen Bereiche kontrafaktischer Robustheit zuzuordnen. Das bedeutet, man muss zusätzliche Überzeugungen, die, wenn sie als Hilfsannahmen fungieren, die Inferenz blockieren, von solchen unterscheiden können, bei denen das nicht der Fall ist. Man benötigt Dispositionen wie zum Beispiel, das Sitzen der Katze auf der Matratze als damit vereinbar zu behandeln, dass ein nahe stehender Baum noch etwas näher steht oder die Temperatur ein paar Grad höher ist, während das Sitzen der Katze auf der Matratze damit unvereinbar ist, dass die Sonne so nah wie der Baum oder die Temperatur mehrere tausend Grad höher ist. Man muss beispielsweise wissen, dass die Katze eine Maus jagen oder vor einem Hund fliehen könnte, die Matratze dagegen nichts von beidem tun kann, und ebenfalls, dass die Matratze im Wesentlichen dieselbe bliebe, wenn man auf ihr herumspringt oder sie mit einem Stock schlägt, die Katze dagegen nicht. Keine der hier angeführten kontrafaktischen Inferenzen ist notwendig, um zu verstehen, was es heißt, dass die Katze auf der Matratze sitzt. Trifft jemand jedoch keine Unterscheidungen dieser Art – geht er etwa mit der Möglichkeit, dass die Katze von der Matratze springt oder gähnt, genauso um wie mit der Möglichkeit, dass ihr Flügel wachsen und sie zu fliegen beginnt oder plötzlich mikroskopisch klein wird, das heißt, unterscheidet er nicht, was mit der Katze bzw. der Matratze passieren kann und was nicht –, dann gilt er nicht als jemand, der die Behauptung gut genug versteht, um sie zu bejahen. Ausgenommen ist hierbei jener abgeleitete, parasitäre Sinn, in dem jemand zum Beispiel von einem türkischen Satz glauben kann, dass er wahr ist, ohne ihn auch nur irgendwie zu verstehen. Sellars drückt diese kantische Einsicht treffend im Titel eines seiner Aufsätze aus: »Concepts as Involving Laws, and Inconceivable without Them« – Begriffe enthalten Gesetze und sind ohne sie undenkbar.[1]

Wenn das richtig ist, dann kann derjenige, der Begriffe wie KATZE oder MATRATZE in empirisch-deskriptiven Behauptungen zu verwenden vermag, bereits...

Erscheint lt. Verlag 8.2.2015
Übersetzer Falk Hamann, Aaron Shoichet
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Georg W. Fr. • Hegel • Hegel, Georg W. Fr. • Idealismus • Immanuel • Kant • Kant, Immanuel • STW 2104 • STW2104 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2104
ISBN-10 3-518-73682-5 / 3518736825
ISBN-13 978-3-518-73682-1 / 9783518736821
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