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Der Gefesselte (eBook)

Erzählungen 1 (1948-1952)
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
120 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-403445-4 (ISBN)
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»Alle Möglichkeiten lagen in dem Spielraum der Fesselung« In ihren zwischen 1948 und 1952 entstandenen frühen Erzählungen - unter ihnen die berühmte ?Spiegelgeschichte?, die den Preis der Gruppe 47 erhielt - richtet sich Ilse Aichinger radikal gegen das Verdrängen von Tod und Krieg in der »Wiederaufbau«-Zeit. Sie stellt die Erfolgsideologie dieser Zeit auf den Kopf mit der Behauptung, einzig durch das Bewusstmachen von Bedrohung, Vernichtung und von Abschied werde ein intensives Erleben der Gegenwart möglich. »Gleichsam vom Rücken der Dinge und der Schicksale her ist Ilse Aichinger an ihr Erzählen gegangen, mit einem Mut, der träumerischer Protest, der Revolte war gegenüber dem dingfesten Leben« (Karl Krolow).

Ilse Aichinger wurde am 1. November 1921 in Wien geboren. 1948 veröffentlichte sie ihren Roman über die Kriegszeit in Wien, »Die größere Hoffnung«, und ihre ersten berühmten Geschichten. Für ihren Roman, ihre Gedichte, Hörspiele und Prosastücke, die in viele Sprachen übersetzt wurden, erhielt sie zahlreiche literarische Auszeichnungen, u. a. 1952 den Preis der Gruppe 47, 1982 den Petrarca-Preis, 1983 den Franz-Kafka-Preis, 1995 den Österreichischen Staatspreis für Literatur und 2015 den Großen Kunstpreis des Landes Salzburg. Ilse Aichinger starb am 11. November 2016 im Alter von 95 Jahren.

Ilse Aichinger wurde am 1. November 1921 in Wien geboren. 1948 veröffentlichte sie ihren Roman über die Kriegszeit in Wien, »Die größere Hoffnung«, und ihre ersten berühmten Geschichten. Für ihren Roman, ihre Gedichte, Hörspiele und Prosastücke, die in viele Sprachen übersetzt wurden, erhielt sie zahlreiche literarische Auszeichnungen, u. a. 1952 den Preis der Gruppe 47, 1982 den Petrarca-Preis, 1983 den Franz-Kafka-Preis, 1995 den Österreichischen Staatspreis für Literatur und 2015 den Großen Kunstpreis des Landes Salzburg. Ilse Aichinger starb am 11. November 2016 im Alter von 95 Jahren.

Der Gefesselte


Er erwachte in der Sonne. Ihr Licht fiel auf sein Gesicht, so daß er die Augen wieder schließen mußte; es strömte ungehindert die Böschung hinab, sammelte sich zu Bächen und riß Schwärme von Mücken mit, die tief über seine Stirne hinwegflogen, kreisten, zu landen suchten und von neuen Schwärmen überholt wurden. Als er sie verscheuchen wollte, bemerkte er, daß er gefesselt war. Eine dünne gedrehte Schnur schnitt in seine Arme. Er ließ sie zurückfallen, öffnete wieder die Augen und sah an sich hinab. Seine Beine waren bis zu den Schenkeln hinauf gebunden, die gleiche Schnur schlang sich um seine Knöchel, lief mehrfach überkreuzt aufwärts, umwand seine Hüften, seine Brust und seine Arme. Wo ihre Enden verknotet waren, sah er nicht, und er glaubte so lange, daß die Fesselung fehlerlos war, ohne das geringste Zeichen von Angst oder Hast, bis er entdeckte, daß sie zwischen seinen Beinen Raum frei ließ und fast lose um seinen Körper lief. Auch seinen Armen, die man ihm nicht an den Leib, sondern nur aneinander gebunden hatte, war Spielraum gegeben. Das ließ ihn lächeln und brachte ihn auf den Gedanken, daß Kinder ihren Scherz mit ihm getrieben hätten.

Er griff nach seinem Messer, aber wieder schnitt die Schnur sanft in sein Fleisch. Er bemühte sich mit größerer Vorsicht noch einmal, in seine Tasche zu greifen, sie war leer. Es fehlte außer dem Messer auch noch das wenige Geld, das er bei sich gehabt hatte, und sein Rock. Die Schuhe hatte man ihm von den Füßen gezogen. Er befeuchtete seine Lippen und schmeckte Blut, das von den Schläfen abwärts über Wangen, Kinn und Hals bis unter sein Hemd geronnen war. Seine Augen schmerzten; wenn er sie längere Zeit offen ließ, spiegelte der Himmel rötliche Streifen wider.

Er beschloß aufzustehen. Er zog die Knie an, soweit es möglich war, berührte mit den Händen das frische Gras und schnellte sich hoch. Ein blühender Holunderzweig streifte seine Wangen, die Sonne blendete ihn, und die Fessel preßte sich in sein Fleisch. Halb besinnungslos vor Schmerz ließ er sich zurückfallen und versuchte es noch einmal. Das trieb er so lange, bis ihm das Blut aus den verdeckten Striemen trat. Dann lag er wieder lange Zeit still und ließ Sonne und Mücken gewähren.

Als er zum zweitenmal erwachte, warf der Holunderstrauch seinen Schatten schon über ihn und ließ die gespeicherte Kühle zwischen den Zweigen hervorströmen. Er mußte einen Schlag auf den Kopf bekommen haben. Dann hatten sie ihn hierher gelegt, wie Mütter ihre Säuglinge sorglich unter die Büsche legen, wenn sie aufs Feld gehen. Ihr Hohn sollte nicht verschwendet sein.

Alle Möglichkeiten lagen in dem Spielraum der Fesselung. Er stützte die Ellbogen auf die Erde und beobachtete das Spielen der Schnur. Sobald sie spannte, gab er nach und versuchte es mit größerer Vorsicht wieder. Wenn er die Zweige über seinem Kopf erreicht hätte, würde er sich an ihnen hochgezogen haben, aber er erreichte sie nicht. Er legte den Kopf auf den Rasen zurück, rollte sich herum und kam auf die Knie. Er tastete mit den Fußspitzen den Boden ab und stand plötzlich fast ohne Mühe auf.

Wenige Schritte vor ihm lief der Weg die Hochfläche dahin, Steinnelken und blühende Disteln wuchsen zwischen den Gräsern. Er hob den Fuß, um sie nicht niederzutreten, wurde aber durch die Schnur gehindert, die seine Knöchel hielt. Er sah an sich hinab.

Die Schnur war an den Gelenken festgeknotet, lief aber in einer Art von spielerischem Muster von einem zum anderen. Er bückte sich behutsam und griff danach, aber sie ließ sich, so locker sie auch schien, doch nicht weiter lockern. Um nicht mit bloßen Füßen in die Disteln zu treten, stieß er sich leicht vom Boden ab und hüpfte wie ein Vogel über sie hinweg.

Beim Krachen eines Zweiges hielt er inne. Irgend jemand in diesem Umkreis hielt nur mit Mühe sein Gelächter zurück. Der Gedanke, daß er nicht in der Lage wäre, sich — wie immer — zu verteidigen, erschreckte ihn. Er hüpfte weiter, bis er auf dem Weg stand. Tief unten zogen helle Felder hin. Von dem nächsten Ort sah er nichts, und es würde Nacht werden, ehe er ihn erreichte, wenn es ihm nicht gelang, sich schneller zu bewegen.

Er versuchte zu gehen und bemerkte, daß die Schnur ihm erlaubte, einen Fuß vor den anderen zu setzen, wenn er jeden Fuß immer nur um ein bestimmtes Maß vom Boden hob und ihn, bevor die ganze Spannweite ausgemessen war, wieder senkte. In demselben Maß ließ sie auch seine Arme schwingen.

Schon nach den ersten Schritten fiel er. Er lag quer über dem Weg und sah den Staub hochfliegen. Er erwartete, das lange unterdrückte Gelächter jetzt hervorbrechen zu hören, aber alles blieb still. Er war allein. Als der Staub sich senkte, kam er hoch und ging. Er sah zu Boden und beobachtete das Pendeln der Schnur, wie sie nachschleifte, sich leicht über die Erde spannte und wieder sank.

Als die ersten Leuchtkäfer aufflogen, gelang es ihm, den Blick vom Boden loszureißen. Er fühlte sich wieder in seiner Macht, und seine Ungeduld, den nächsten Ort zu erreichen, ließ nach.

Der Hunger machte ihn leicht, und es schien ihm auch, als hätte er eine Geschwindigkeit erreicht, die kein Motorrad überholen konnte. Oder er stand auf dem Fleck, und das Land kam ihm schnell entgegen wie der reißende Strom einem, der stromaufwärts schwimmt. Der Strom trug Sträucher, die der Nordwind nach Süden gebogen hatte, junge verkrüppelte Bäume und Rasenstücke mit hellen langstengeligen Blumen. Zuletzt überflutete er auch Sträucher und junge Bäume und ließ nur den Himmel über sich und dem Mann. Der Mond war aufgegangen und beleuchtete die gewölbte freie Mitte der Hochfläche, den von niedrigem Gras überwachsenen Weg, den Gefesselten, der mit schnellen, gemessenen Schritten auf ihm dahinging, und zwei Feldhasen, die knapp vor ihm den Hügel überquerten und sich über den Abhang verloren. Obwohl die Nächte um diese Zeit noch kalt waren, legte sich der Gefesselte vor Mitternacht wieder an den Rand der Böschung und schlief.

 

Im Morgenlicht beobachtete der Tierbändiger, der mit seinem Zirkus auf der Wiese vor dem Dorf lagerte, den Gefesselten, wie er, nachdenklich den Blick zu Boden gekehrt, den Weg daherkam. Er sah, wie er stehenblieb und nach etwas griff. Er bog die Knie ab, hielt einen Arm ausgestreckt, um sich im Gleichgewicht zu erhalten, hob mit dem anderen eine leere Weinflasche vom Boden, richtete sich auf und schwang sie hoch. Er bewegte sich langsam, um nicht wieder von der Schnur geschnitten zu werden, aber dem Zirkusbesitzer schien es wie die freiwillige Beschränkung einer großen Geschwindigkeit. Die unbegreifliche Anmut der Bewegung entzückte ihn, und während der Gefesselte noch nach einem Stein Ausschau hielt, an dem er die Flasche zerschellen wollte, um mit dem abgesplitterten Hals die Schnur zu durchtrennen, kam der Tierbändiger über die Wiese auf ihn zu. Auch nicht die Sprünge der jüngsten Panther hatten ihn je in ein solches Entzücken versetzt.

»Sie sehen den Gefesselten!« Schon seine ersten Bewegungen lösten einen Jubel aus, der dem Tierbändiger am Rand der Arena vor Erregung das Blut in die Wangen trieb. Der Gefesselte richtete sich auf. Seine eigene Überraschung war immer wieder die eines Vierfüßigen, der sich erhebt. Er kniete, stand, sprang und schlug Räder. Das Staunen der Zuschauer galt einem Vogel, der freiwillig auf der Erde bleibt und sich im Ansatz beschränkt. Wer kam, kam wegen des Gefesselten — seine Schuljungenübungen, seine lächerlichen Schritte und Sprünge machten die Seiltänzer unnötig. Sein Ruhm wuchs von Ort zu Ort, aber seine Bewegungen blieben immer die gleichen, wenige und im Grunde gewöhnliche Bewegungen, die er untertags in dem halbdunklen Zelt immer wieder und wieder üben mußte, um die Leichtigkeit in der Fessel zu behalten. Indem er ganz in ihr blieb, wurde er ihrer auch ledig, und weil sie ihn nicht einschloß, beflügelte sie ihn und gab seinen Sprüngen Richtung. Wie sie auch die Flügelschläge der Zugvögel haben, wenn sie in der Sommerwärme aufbrechen und noch zögernd kleine Kreise am Himmel beschreiben.

Die Kinder in der Gegend spielten nur mehr ›Der Gefesselte‹ Sie banden sich gegenseitig, und einmal fanden die Zirkusleute in einem Graben ein kleines Mädchen, das bis zum Halse abgeschnürt war und keine Luft bekam. Sie befreiten es, und an diesem Abend sprach der Gefesselte nach der Vorstellung zu den Zuschauern. Er erklärte kurz, daß eine Fessel, die keine Sprünge erlaube, sinnlos sei. Von da an gab er auch den Spaßmacher.

Gras und Sonne, Zeltpflöcke, die in den Boden geschlagen und wieder herausgezogen wurden, nahe Dörfer. »Sie sehen den Gefesselten!« Der Sommer wuchs sich entgegen. Er neigte sein Gesicht tiefer über die Fischteiche in den Mulden und entzückte sich in dem dunklen Spiegel, er flog dicht über die Flußläufe hinweg und machte die Ebene zu dem, was sie war. Wer laufen konnte, lief dem Gefesselten nach.

Viele wollten die Fessel aus der Nähe sehen. Der Zirkusbesitzer erklärte deshalb jeden Abend nach der Vorstellung, wer sich jetzt überzeugen wolle, daß die Knoten nicht Schlingen und die Schnur kein Gummiband sei, könne es ruhig tun. Der Gefesselte erwartete die Leute gewöhnlich auf dem Platz vor dem Zelt, er lachte oder blieb ernst und streckte ihnen die Arme hin. Manche benützten die Gelegenheit, um ihm ins Gesicht zu schauen, andere griffen ernsthaft die Schnur ab, prüften die Knoten an den Gelenken und wollten genau wissen, wie die Längen sich zu den Längen der Glieder verhielten. Sie fragten den Gefesselten, wie alles gekommen sei, und er antwortete ihnen geduldig immer das gleiche: Ja, er wäre gefesselt geworden, und als er erwachte, hätte er sich auch bestohlen gefunden....

Erscheint lt. Verlag 30.1.2015
Reihe/Serie Ilse Aichinger, Werke in acht Bänden (Taschenbuchausgabe)
Ilse Aichinger, Werke in acht Bänden (Taschenbuchausgabe)
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Erzählung • Krieg • Kurzgeschichten • Nachkriegsjahre • spiegelgeschichte • Tod • Verdrängung • Wiederaufbau
ISBN-10 3-10-403445-1 / 3104034451
ISBN-13 978-3-10-403445-4 / 9783104034454
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