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Der kleine Bruder (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2015 | 1. Aufl. 2015
288 Seiten
Eichborn (Verlag)
978-3-7325-0464-0 (ISBN)
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9,99 inkl. MwSt
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Berlin-Kreuzberg, November 1980: Im Schatten der Mauer gedeiht ein Paralleluniversum voller Künstler, Hausbesetzer, Kneipenbesitzer, Kneipenbesucher, Hunde und Punks. Bier, Standpunkte, Reden, Verräterschweine - alles ist da. Nur eins fehlt: jemand, der alles mal richtig durchdenkt - Frank Lehmann aus Bremen. Nachdem seine WG dort vom Gesundheitsamt geschlossen wurde, das Zimmer bei seinen Eltern zum Fernseherreparieren benötigt wird und er nach kühnem Ausbruch aus dem Wehrdienst noch keinen Plan hat, fährt er erst mal nach Berlin - zu seinem großen Bruder Manni, der dort als Künstler lebt und eine große Nummer ist. Dachte er. Doch Manni ist weg. Weder sein Vermieter Erwin Kächele noch dessen Nichte Chrissie oder sein Mitbewohner Karl haben eine Ahnung, wo Manni steckt. Außerdem nennen sie ihn nicht Manni, sondern Freddie. Und haben sofort eine konkrete Idee davon, was Frank zu tun hat: Anstelle seines Bruders an einem kurzfristig anberaumten Krisenplenum teilnehmen.

Damit beginnt eine lange Nacht, in der Frank Lehmann lernt, dass in einer Welt, in der alle Künstler sein wollen, nichts notwendigerweise das ist, als das es erscheint, und in der er mehr über seinen Bruder erfährt, als er wissen will, aber nie das, wonach er fragt.

Und mit einer Nacht ist es nicht getan, denn wie sagt Karl, der Typ, den Frank auf Anhieb nicht mag und der sein bester Freund werden wird: 'Das ist wie in der Geisterbahn. Jetzt sind alle eingestiegen, und der Bügel geht runter, und dann müssen das auch alle bis zu Ende mitmachen ...'

2. TUBASPIELEN


»Mann, bin ich froh, dass wir endlich da sind«, sagte Wolli, als sie heil und unverhaftet aus dem Grenzkontrollpunkt Dreilinden in den Westen rollten.

»Wieso da?«, sagte Frank. Die Autobahn war zwar neuerdings beleuchtet, aber sie fuhren durch dunkle Wälder. »Das sieht hier nicht gerade nach da sein aus, ich meine, das kann ja wohl nicht Berlin sein!«

»Das geht jetzt ganz schnell«, sagte Wolli, »das ist gleich vorbei mit dem Wald.«

»Bist du sicher?«

»Ja, logo«, sagte Wolli. »Ich kenn das hier ganz genau. Ich war schon oft hier.«

»Wie oft?«

»Oft, keine Ahnung, sogar früher mal mit dem KBW.«

»Warum das denn?«

»Wegen den Soldaten- und Reservistentagen. Da sind wir Kolonne gefahren. Das hat vielleicht gedauert …«

»Soldaten- und Reservistentage? Beim KBW?«

»Nee, eigentlich waren es die Musiktage der Soldaten- und Reservistenkomitees, die gehörten zum KBW, das war so mit Spielmannszug, ich war da im Spielmannszug.«

»Im Spielmannszug? Was hast du da denn gespielt?«

»Tuba!«

»Ach so …«

Sie schwiegen wieder eine Weile. Die Autobahnausfahrten waren nach Straßen benannt, Spanische Allee, Hüttenweg, das ließ immerhin vermuten, dass sie tatsächlich in der Stadt waren. Seltsame Stadt, dachte Frank, Hütten, Wege, Wälder, er hatte sich das irgendwie anders vorgestellt, irgendwie urbaner und so weiter. Aber da kam auch schon ein großer, beleuchteter Turm in Sicht, und Wolli sagte:

»Da! Der Funkturm!«

»Wir haben überhaupt keinen Stadtplan«, sagte Frank. »Und da kommt gleich ein Autobahndreieck, wo müssen wir denn da fahren?«

»Weiß ich jetzt auch nicht mehr, was steht denn da, da steht ja noch gar nichts, oder was?«

»Doch, da steht was.«

»Aber nichts von Kreuzberg oder so, das ist immer so, das steht da nicht.«

»Nein …« Frank starrte geduckt, mit eingezogenem Nacken auf die Schilder über der Autobahn. »Entweder Wedding und ICC, oder Kurfürstendamm und Wilmersdorf.«

»Scheiße, wie war das noch mal?!«, sagte Wolli.

»Was weiß ich«, rief Frank, »das teilt sich gleich, da muss man sich jetzt mal entscheiden.«

»Wedding auf keinen Fall, glaube ich nicht«, sagte Wolli, »nicht Wedding.«

»Also Kurfürstendamm oder was? Wilmersdorf? Das ist ja die einzige andere Möglichkeit. Ist ja ein Autobahndreieck, keine Autobahnkreuzung, dann gäbe es noch zwei andere Möglichkeiten. So gesehen …« – Frank verstummte, weil ihm peinlich war, was er da redete, so was kann man denken, ermahnte er sich, aber nicht sagen, man darf sich vor Wolli nicht so gehen lassen, dachte er, einer wie Wolli nutzt so was nur aus.

Vor ihnen erschien ein großes und, wie Frank fand, unglaublich hässliches Gebäude, das hell angestrahlt wurde, und es war eindeutig, dass es hier mit der Stadt langsam mal losging. Und ebenso eindeutig wurde von ihnen eine Entscheidung erwartet.

»Da vorne teilt sich das, Wolli, echt mal, was jetzt, Kurfürstendamm oder was?«

»Scheiße Kudamm, ist doch Scheiße, Kudamm.«

»Also Wedding?«

»Nee, Kudamm oder so, geht das dann rechts- oder linksrum?«

»Wie jetzt, rechts- oder linksrum? Kudamm geht links raus, ich meine, die ganz linke Spur, das siehst du doch.«

»Das hat nichts zu sagen, dann kann das immer noch hintenrum rechtsrum gehen.«

»Worum überhaupt rechtsrum?«

»Um die Stadt rechtsherum.«

»Stadt? Ha! Da seh ich aber noch nicht viel von, Stadt! Was denn für eine Stadt?! Guck dir die Scheiße doch mal an, und was denn nun, ich fahr jetzt Kudamm oder was?«

»Ja, fahr Kudamm, Scheiße!« Wolli raufte sich die Punkerhaare. »Kudamm ist doch Scheiße!«

»Kann ja sein«, sagte Frank. Er war jetzt auf der ganz linken Spur, und rechts von ihnen war der Strich durchgezogen, damit war die Sache entschieden, wenigstens das, dachte er. »Aber vielleicht sollte man doch lieber mal einen Stadtplan besorgen, hier geht’s raus, da ist ein Rasthof!«

Aber in dem Moment waren sie auch schon wieder an dem Rasthof vorbei. Was Wolli nicht daran hinderte, noch schnell »Scheißrasthof« zu sagen. Frank sagte dazu nichts. Wir dürfen uns jetzt nicht verzanken, dachte er, wir müssen wenigstens noch bis Kreuzberg durchhalten.

»Ist eh Quatsch mit Stadtplan«, machte er ein wenig gut Wetter. »Hauptsache, du kennst dich aus, Wolli. Und was nun?«

Sie waren auf einer anderen Autobahn gelandet und plötzlich waren sie auch mitten in der Stadt, hier fängt sie also an, dachte Frank, sie war vor allem links von ihnen, türmte sich als steinerne Masse neben der Autobahn auf, hier gibt es keine sanften Übergänge, dachte Frank, wenn die Stadt anfängt, dann fängt sie gleich richtig an, da wird nicht lange rumgedödelt, dachte er, und er fand das ganz in Ordnung so, es bringt ja nichts, wenn in solchen Sachen rumgedödelt wird, dachte er, so ist es genau richtig, positiv denken, dachte er, das ist das Einzige, was jetzt noch hilft.

»Scheiße«, sagte Wolli.

»Jetzt nicht immer nur Scheiße sagen«, sagte Frank. »Auch mal was Positives sagen! Immerhin sind wir praktisch schon da, ist doch scheißegal jetzt mal.«

»Wilmersdorf«, sagte Wolli sinnend, »Wilmersdorf … – Scheiße, fahr mal hier Kudamm raus, ist jetzt auch scheißegal, fahren wir eben über den Kudamm, immer noch besser als Wilmersdorf, da kenn ich mich überhaupt nicht aus!«

»Kudamm ist doch gut«, sagte Frank und fuhr von der Autobahn ab. »Was hast du denn überhaupt immer gegen den Kudamm? Den kennt man doch wenigstens, so vom Namen her.«

»Du vielleicht«, sagte Wolli in einem leicht gehässigen Tonfall. »Du warst ja auch noch nie hier! Kann ich mir vorstellen, dass du vom Namen her in Berlin bloß den Kudamm kennst.«

»Hm …«, ließ Frank sich nicht provozieren. »Soll ich lieber woanders fahren?«

»Nee, wir fahren jetzt einfach den Kudamm runter und dann immer geradeaus, das weiß ich noch, du musst den immer nur geradeaus fahren, dann kommt man direkt nach Kreuzberg. Das dauert aber.«

»Ja, dann sieht man gleich mal was von der Stadt«, sagte Frank, immer schön um das Positive bemüht. Und irgendwie gefiel ihm der Kudamm auch, denn das war ja wohl der Kudamm, den sie hier hinunterfuhren, alles war hell erleuchtet, das gefiel ihm schon mal gut, es muss nicht immer duster sein, dachte er, es reicht, wenn die Transitstrecke duster ist, dachte er, und je weiter sie kamen, desto seltsamer und glitzernder wurde die ganze Sache, die Laternen warfen sowieso ein komisches Licht, weich und wolkig war das, und es war ordentlich was los auf der Straße, das war mal klar.

»Das ist doch alles totale Touristenscheiße, der Kudamm«, sagte Wolli. »Das ist doch bloß was für Touristen!«

»Na ja«, wandte Frank ein, »wir gehören aber auch noch nicht so lange zu den Einheimischen!« Er lachte. Der war gut, fand er. Die Kulisse um sie herum – denn als Kulisse empfand er die ganze Sause hier, es sah alles so unwirklich aus, das muss am Licht liegen, dachte er –, diese Kulisse jedenfalls versetzte ihn in gute Laune, da gab es blinkende Leuchtreklamen, tanzende Buchstaben und sich drehende Schilder und dergleichen mehr, das ist ja alles totaler Emil-und-die-Detektive-Quatsch, dachte er erheitert, das gefiel ihm, es war wie in einem Film, und er hätte gerne etwas Musik dazu gehört, das hätte die Sache perfekt gemacht, aber leider hatte Wolli den Autokassettenrekorder schon kurz hinter dem Autobahndreieck Walsrode mit einer Bandsalat produzierenden Punkkassette für wahrscheinlich immer verstopft.

»Ich finde das stark hier«, sagte Frank, »echt mal, Wolli, das ist doch mal was anderes, guck dir mal den Mercedes-Stern da oben an, der dreht sich, ich glaub’s nicht, der dreht sich! Dass es so was noch gibt …!«

»Das ist das Scheißeuropacenter, ich glaub, ich muss kotzen, aber wenigstens sind wir gleich durch«, sagte Wolli, »Scheiß-Kudamm. Und da, guck dir das an, das KaDeWe auch noch, Scheiß-KaDeWe, so eine Scheiße. Gleich sind wir durch, ich glaube, das ist hier schon gar nicht mehr der Kudamm!«

»Was denn dann?«

»Was weiß ich denn, wie die Scheiße hier heißt, ich kenn mich hier nicht aus. Wittenbergplatz«, las Wolli irgendwo ab. »Wittenbergplatz. Scheiß-KaDeWe und so, das kennt man doch.«

»Ich kenn das nicht, ich war ja noch nie in Berlin«, sagte Frank. Und dann waren sie in einer anderen Gegend, die Straße war zwar noch immer groß und breit, aber dunkler jetzt, der ganze Glitzertand des Kudamms war mit einem Mal verschwunden, der Kudamm ist genauso ein Tunnel wie die Transitstrecke, dachte Frank, bloß umgekehrt.

»Wie geht’s denn jetzt weiter?«, fragte er.

»Einfach immer der Straße folgen, auch wenn’s um die Kurve geht.«

»Und du hast da mal Tuba gespielt? Im Spielmannszug?«

»Hm …« sagte Wolli nur und blickte dabei nach rechts aus dem Fenster.

»Und wann war das?«

»Früher, als ich im KJB war natürlich.«

»Nein, ich meine, wie du da mit denen in Berlin warst?«

»Anfang 79 oder so, in Kreuzberg, im Winter. Auf dem Mariannenplatz. Das war vielleicht arschkalt! Da hab ich dann in einer Kneipe um die Ecke die Leute kennengelernt, wo ich jetzt hingehe. Da fing das mit dem Punk an, da hab ich zum ersten Mal kapiert, was das für eine blöde Scheiße war mit den K-Gruppen, und eine Woche später bin ich raus aus dem KJB. Da hätte ich gleich nach Berlin gehen sollen. Oder sowieso gleich dableiben!«

»Und warum hast du das nicht gemacht?«

»Die Lehre, die wollte ich noch zu Ende machen, ich hatte gedacht, das sollte nicht alles umsonst gewesen...

Erscheint lt. Verlag 26.2.2015
Reihe/Serie Die Lehmann-Trilogie
Die Lehmann-Trilogie
Die Lehmann-Trilogie
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Comic / Humor / Manga
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1980 • 1980er • 1990er • 80er • 89 • Achtziger • Alfred Döblin • Angst • Ängste • Barrieren • Benjamin von Stuckrad Barre • Benjamin von Stuckrad-Barre • Berlin • Berlin Alexanderplatz • Besonders • Beziehungsroman • block • Boxen • Boxer • Bremen • Bridget Jones • Bücher • Bude • Chick Lit • chick lit deutsch • Comedy • Culture Clash • Dekadenz • Erzählung • Existenz • Frauenroman • Freche Frauen • Freiheit • Gesellschaft • Grenzen • Großstadt • Großstadtroman • Hauptstadt • Hausbesetzer • Heimat • Herkunft • Herrendorf • Herrndorf • Humor • Humor Bestseller • Humor Geschenkbuch • humorvolle Romane • Imigration • Inklusion • Integration • interessant • Ironie • Kalter Krieg • Kampf • Kerstin Gier • Kiez • Kneipe • Kneipentour • Komik • Komödie • Kreuzberg • Kultur • Kulturkomödie • Künstler • Lachen • Leben • Lebensart • Lebensweisen • Liebe • Liebeskummer • Litcom • Literatur • lustig • lustige Romane • lustiges Buch • Mauer • Mauerfall • Mitte • Mr. Right • multikulturell • Multikulur • Musik • Neunzehnhunderachtziger • Neunziger • Ostberlin • Osten • Panikherz • Party • Patchwork • Pop • Punks • Ring • Roman • Romane • Roman Stadt • Romantic Comedy • Russendisko • Sarkasmus • Sitten • skurril • Sonnenallee • Sonstige Belletristik • Späti • Städteroman • Stadtroman • Stuckrad Barre • Stuckrad-Barre • Szene • Traummann • Treue • tschick • Unterhaltung • Unterschicht • Verdener Heide • Viertel • Wedding • Wehrdienst • Westberlin • Westen • Wettkampf • WG • Witz • witzig • witzige Bücher • Wladimir Kaminer • Wohngemeinschaft • Wolfgang Herrendorf • Wolfgang Herrndorf • Wolli
ISBN-10 3-7325-0464-6 / 3732504646
ISBN-13 978-3-7325-0464-0 / 9783732504640
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