Der Schneckenforscher (eBook)
288 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60633-1 (ISBN)
Patricia Highsmith, geboren 1921 in Fort Worth/Texas, wuchs in Texas und New York auf und studierte Literatur und Zoologie. Erste Kurzgeschichten schrieb sie an der Highschool, den ersten Lebensunterhalt verdiente sie als Comictexterin, und den ersten Welterfolg erlangte sie 1950 mit ihrem Romanerstling ?Zwei Fremde im Zug?, dessen Verfilmung von Alfred Hitchcock sie über Nacht weltberühmt machte. Patricia Highsmith starb 1995 in Locarno.
[13] Der Schneckenforscher
Als Peter Knoppert begann, die Beobachtung von Schnecken zu seinem Hobby zu machen, ahnte er nicht, daß aus seiner ersten Handvoll von Exemplaren in kürzester Zeit Hunderte werden würden. Nur zwei Monate nachdem die ersten Schnecken in Knopperts Arbeitszimmer gebracht worden waren, standen etwa dreißig von Schnecken wimmelnde Glasgefäße entlang der Wände, auf dem Schreibtisch und den Fensterbänken, ja sie nahmen sogar einen Teil des Bodens ein. Mrs. Knoppert mißbilligte das sehr und weigerte sich, den Raum zu betreten. Sie sagte, es stinke dort, und außerdem war sie einmal auf eine Schnecke getreten – ein gräßliches Gefühl, das sie nie vergessen würde. Doch je mehr seine Frau und seine Freunde diesen ungewöhnlichen und irgendwie unappetitlichen Zeitvertreib kritisierten, desto mehr Vergnügen schien Mr. Knoppert daran zu finden.
»Ich hab mich mein Leben lang nicht für die Natur interessiert«, bemerkte er oft – er war Teilhaber in einer Brokerfirma und hatte sich immer nur den Vorgängen in der Finanzwelt gewidmet –, »aber diese Schnecken haben mir die Augen für die Schönheit der Tierwelt geöffnet.«
Wenn seine Freunde dann sagten, Schnecken seien eigentlich gar keine Tiere und ihre schleimige Lebensweise [14] sei wohl kaum ein geeignetes Beispiel für die Schönheit der Natur, erwiderte Mr. Knoppert mit überlegenem Lächeln, sie wüßten eben nicht, was er über Schnecken wisse.
Und das stimmte. Mr. Knoppert war Zeuge eines Vorgangs geworden, der in keiner Enzyklopädie, in keinem ihm bekannten zoologischen Werk beschrieben worden war, jedenfalls nicht annähernd adäquat. Eines Abends war Mr. Knoppert in die Küche geschlendert, um vor dem Abendessen noch eine Kleinigkeit zu essen, und hatte bemerkt, daß sich zwei der Weinbergschnecken in der Porzellanschüssel, die auf der Spüle stand, sehr eigenartig verhielten. Sie standen einander gegenüber, aufgerichtet und mehr oder weniger auf ihren Schwänzen, sie wiegten sich hin und her und sahen aus wie Schlangen, die von einem Flötenspieler hypnotisiert wurden. Im nächsten Augenblick legten sie ihre Gesichter zu einem Kuß von wollüstiger Intensität aneinander. Mr. Knoppert beugte sich hinunter und betrachtete sie von allen Seiten. Noch etwas geschah: An der rechten Seite der Köpfe erschienen Auswüchse, die wie Ohren wirkten. Sein Instinkt sagte ihm, daß es sich hier um eine Art sexueller Aktivität handelte.
Die Köchin kam herein und sagte irgend etwas zu ihm, doch Mr. Knoppert gebot ihr mit einer ungeduldigen Handbewegung zu schweigen. Er konnte den Blick nicht von den faszinierenden kleinen Wesen in der Schüssel abwenden.
Als die Ränder der ohrenartigen Auswüchse sich berührten, reckte sich ein weißlicher Stengel, der wie ein zusätzlicher Fühler aussah, vom Ohr der einen Schnecke im Bogen zu dem der anderen. Mr. Knopperts erste [15] Vermutung wurde widerlegt, als auch aus dem Ohr der zweiten Schnecke ein solcher Fühler wuchs. Sehr eigenartig, dachte er. Die beiden Fühler wurden zurückgezogen und wieder ausgefahren und saugten sich schließlich an der jeweils anderen Schnecke fest, als hätten sie ein unsichtbares Ziel gefunden. Mr. Knoppert betrachtete das Schauspiel aufmerksam. Die Köchin tat dasselbe.
»Haben Sie so was schon mal gesehen?« fragte Mr. Knoppert.
»Nein. Wahrscheinlich kämpfen sie miteinander«, sagte die Köchin gleichgültig und wandte sich ab. Das war ein Beispiel für jene Ignoranz in Hinblick auf Schnecken, der er später überall begegnen würde.
Über eine Stunde lang beobachtete Mr. Knoppert immer wieder die beiden Schnecken, bis sie zuerst die Ohren und dann die Fühler zurückzogen, sich schließlich entspannten und einander nicht mehr beachteten. Inzwischen zeigten jedoch zwei andere Tiere Interesse füreinander und richteten sich langsam in die Kußposition auf. Mr. Knoppert sagte der Köchin, er wünsche keine Schnecken zum Essen, und brachte die Schüssel hinauf in sein Arbeitszimmer. Im Haus der Knopperts wurden nie wieder Schnecken serviert.
Später am Abend schlug er in Enzyklopädien und ein paar allgemeinen Büchern über Biologie nach, die er besaß, fand jedoch absolut nichts über das Paarungsverhalten von Schnecken, wogegen der langweilige Fortpflanzungszyklus der Austern in allen Einzelheiten beschrieben war. Nach ein, zwei Tagen kam Mr. Knoppert zu dem Schluß, daß das, was er gesehen hatte, möglicherweise gar keine [16] Paarung gewesen war. Edna, seine Frau, sagte ihm, er solle die Schnecken entweder essen oder loswerden – das war, nachdem sie auf eine Schnecke getreten war, die aus der Schüssel heraus- und auf dem Boden herumgekrochen war –, und Mr. Knoppert hätte das vielleicht auch getan, wenn er nicht in einem Abschnitt über Gastropoden in Darwins Ursprung der Arten auf einen bestimmten Satz gestoßen wäre. Der Satz war auf französisch, eine Sprache, die Mr. Knoppert nicht beherrschte, doch bei dem Wort sensualité durchfuhr es ihn wie einen Bluthund, der plötzlich Witterung aufgenommen hat. Er befand sich gerade in der öffentlichen Bibliothek und machte sich sogleich daran, den Abschnitt mit Hilfe eines französisch-englischen Wörterbuches mühsam zu übersetzen. Er umfaßte weniger als hundert Wörter und sagte aus, daß die Paarung von Schnecken mit einer Sinnlichkeit vonstatten gehe, wie sie anderswo im Tierreich nicht zu finden sei. Das war alles. Die Bemerkung stammte aus dem Notizbuch von Henri Fabre. Offenbar hatte Darwin beschlossen, ihn für den Durchschnittsleser nicht zu übersetzen, sondern für die wenigen gelehrten Geister, die sich für dieses Thema wirklich interessierten, in der Originalsprache zu belassen. Mr. Knoppert rechnete sich mittlerweile zu diesen wenigen gelehrten Geistern, und sein rundes, rosiges Gesicht strahlte vor Stolz.
Er hatte herausgefunden, daß seine Schnecken Süßwasser bevorzugten und ihre Eier in Sand oder Erde ablegten, und so stellte er Schalen mit Wasser und feuchter Erde in eine große Waschschüssel und setzte die Tiere hinein. Dann wartete er darauf, daß etwas geschehen würde. Es kam aber zu keiner weiteren Paarung. Er hob die Schnecken [17] eine nach der anderen auf und untersuchte sie, ohne irgendwelche Anzeichen einer Trächtigkeit erkennen zu können. Eine der Schnecken konnte er jedoch nicht hochheben – es war, als wäre das Gehäuse an der Erde festgeklebt. Mr. Knoppert nahm an, daß das Tier den Kopf in der Erde vergraben hatte, um zu sterben. Es vergingen zwei Tage, und am Morgen des dritten fand Mr. Knoppert an der Stelle, wo die Schnecke gewesen war, ein Häufchen lockerer Erde. Neugierig stocherte er mit einem Streichholz darin und entdeckte zu seiner großen Freude eine flache Grube voller schimmernder, frisch gelegter Eier. Schneckeneier! Er hatte sich also nicht geirrt. Mr. Knoppert rief seine Frau und die Köchin, um ihnen die Eier zu zeigen, die stark an große Kaviarkörner erinnerten, nur daß sie nicht schwarz oder rot, sondern weiß waren.
»Tja, irgendwie müssen sie sich ja fortpflanzen« war alles, was seine Frau dazu zu sagen hatte. Mr. Knoppert konnte ihr mangelndes Interesse nicht begreifen. Wenn er zu Hause war, mußte er die Eier immer wieder betrachten. Er untersuchte sie jeden Morgen, um zu sehen, ob es irgendeine Veränderung gab, und abends, bevor er zu Bett ging, galt sein letzter Gedanke ihnen. Außerdem war eine zweite Schnecke dabei, eine Grube zu graben. Und zwei weitere Schnecken paarten sich! Das erste Gelege verfärbte sich gräulich, und an der Seite eines jeden Eis war die winzige Spirale eines Schneckenhauses zu erkennen. Mr. Knopperts freudige Erwartung wuchs. Endlich kam ein Morgen – nach Mr. Knopperts sorgfältiger Berechnung war es der achtzehnte nach der Eiablage –, an dem er in die Grube sah und den ersten winzigen Kopf erblickte, die [18] ersten stumpfen kleinen Fühler, die unsicher das Nest erkundeten. Mr. Knoppert war so glücklich wie der Vater eines neugeborenen Kindes. Jedes der mehr als siebzig Eier in dem Nest erwachte wie durch ein Wunder zum Leben. Er war Zeuge, wie der ganze Fortpflanzungszyklus zu einem erfolgreichen Abschluß kam. Und die Tatsache, daß niemand – zumindest niemand, den er kannte – auch nur einen Bruchteil von dem wußte, was er gesehen hatte, verlieh seinem Wissen den besonderen Reiz einer Entdeckung, die Faszination des Exotischen. Mr. Knoppert machte sich Notizen über die weiteren Paarungen und Eiablagen. Seinen interessierten, häufiger jedoch schockierten Freunden und Gästen schilderte er die Biologie der Schnecken, bis seine Frau sich vor Peinlichkeit wand.
»Aber wo soll das alles enden, Peter? Wenn sie sich weiter in diesem Tempo vermehren, übernehmen sie bald das ganze Haus!« sagte sie, nachdem fünfzehn bis zwanzig Gelege geschlüpft waren.
»Die Natur kennt kein Ende«, antwortete er gut gelaunt. »Und sie haben nur das Arbeitszimmer übernommen. Da oben ist jede Menge Platz.«
Es wurden also immer mehr Glasbehälter angeschafft. Mr. Knoppert ging auf den Markt und suchte einige der lebhafter...
Erscheint lt. Verlag | 17.12.2014 |
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Übersetzer | Dirk van Gunsteren |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Snail Watcher |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Aberration • Alltag • Belletristik • Erzählungen • Gegenwartsliteratur • Naher Osten • Schrecken • Vereinsamung |
ISBN-10 | 3-257-60633-8 / 3257606338 |
ISBN-13 | 978-3-257-60633-1 / 9783257606331 |
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