Small g  - eine Sommeridylle -  Patricia Highsmith

Small g - eine Sommeridylle (eBook)

Paul Ingendaay (Herausgeber)

(Autor)

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2014 | 2. Auflage
464 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60631-7 (ISBN)
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Im Small g, einer Zürcher Vorstadtkneipe mit zum Teil schwuler Klientel, kreuzen sich die Wege einsamer Habitués. Eines Tages taucht die junge, aufregend hübsche Luisa auf und bringt die Gefühle völlig unterschiedlicher Männer und Frauen durcheinander: eine Bewährungsprobe und tödliche Bedrohung für die zahlreichen, miteinander verflochtenen Liebesbeziehungen. Patricia Highsmiths letzter Roman.

Patricia Highsmith, geboren 1921 in Fort Worth/Texas, wuchs in Texas und New York auf und studierte Literatur und Zoologie. Erste Kurzgeschichten schrieb sie an der Highschool, den ersten Lebensunterhalt verdiente sie als Comictexterin, und den ersten Welterfolg erlangte sie 1950 mit ihrem Romanerstling ?Zwei Fremde im Zug?, dessen Verfilmung von Alfred Hitchcock sie über Nacht weltberühmt machte. Patricia Highsmith starb 1995 in Locarno.

Patricia Highsmith, geboren 1921 in Fort Worth/Texas, wuchs in Texas und New York auf und studierte Literatur und Zoologie. Erste Kurzgeschichten schrieb sie an der Highschool, den ersten Lebensunterhalt verdiente sie als Comictexterin, und den ersten Welterfolg erlangte sie 1950 mit ihrem Romanerstling ›Zwei Fremde im Zug‹, dessen Verfilmung von Alfred Hitchcock sie über Nacht weltberühmt machte. Patricia Highsmith starb 1995 in Locarno.

[13] 2

Rickie Markwalder trottete auf der Straße, in der er wohnte, hinter seiner angeleinten Lulu her. Er war unterwegs zu Jakobs Bierstube und Restaurant. An Wochenenden war die Gaststätte auch als Small g bekannt, doch unter der Woche gegen halb zehn Uhr morgens verbot sich dieser Name fast. Ein Reiseführer listete sie unter den lohnenden Zielen Zürichs genau so auf: mit einem »kleinen g« – was bedeutete, daß einige Gäste, aber eben nicht alle, »gay« waren.

»Komm schon, Lulu! Na gut, meinetwegen«, brummte Rickie nachsichtig, als die schlanke weiße Hündin entschlossen einmal im Kreis herumlief und sich dann hinhockte. Sanft zog er sie an der Leine zum Rinnstein und schob die Hände in die ausgebeulten Taschen seiner nicht ganz sauberen weißen Strickjacke. Wunderschöner Tag, dachte er, der Sommer noch nicht ganz in voller Pracht, die hellgrünen Blätter der Bäume von Tag zu Tag größer und grüner. Und kein Petey mehr. Rickie mußte blinzeln, wieder spürte er das Entsetzen, die ihn jäh überfallende Leere. Lulu sprang die Stufe zum Bürgersteig hinauf, kratzte sich mit den Hinterpfoten und zog mit frischem Elan in Richtung Bierstube.

Zwanzig war Petey nur geworden, dachte Rickie [14] verbittert, holte ohne besonderen Grund aus und trat einen leeren Milchkarton vom Gehweg in den Rinnstein. Da war er nun, sechsundvierzig (sechsundvierzig!) Jahre alt, immer noch gut in Form, von der häßlichen Narbe einer Stichwunde im Unterleib einmal abgesehen, über dem sich ein kleiner Bauch wölbte – während Petey, dieser Inbegriff männlicher Schönheit 

»He, Sie da! Ab mit dem Müll auf die Straße, was? Warum heben Sie das nicht auf, wie jeder anständige Schweizer?« Eine dickliche Frau in den Fünfzigern funkelte ihn wütend an.

Rickie drehte sich zu dem Milchkarton um (nur eine kleine Halbliterpackung) und wollte ihn schon aufheben, aber die Frau kam ihm zuvor. »Dann bin ich halt kein anständiger Schweizer!« rief er.

Die Frau setzte eine verächtliche Miene auf und marschierte mit dem Karton in die entgegengesetzte Richtung davon. Rickie verzog den breiten Mund zu einem schiefen Grinsen: Na, den Tag würde er sich davon nicht verderben lassen. War andererseits aber auch höchst ungewöhnlich, Müll auf einer Schweizer Straße zu sehen, das mußte er zugeben. Vielleicht hatte es ihn deshalb überkommen, das Ding wegzukicken.

Lulu bog scharf nach rechts ab und zog Rickie durch das Tor vor Jakobs Gaststube zur Tür des Lokals, vorbei an den Tischen und Stühlen auf der Terrasse, wo noch kaum jemand saß, weil es für ein Frühstück im Freien noch ein bißchen zu kühl war.

»Hallo, Rickie. Und Lulu!« Das kam von Ursi, die in der Tür stand und sich die Hände an der Schürze [15] abtrocknete. Sie beugte sich zu Lulu hinab, streichelte sie, und die Hündin stellte sich auf die Hinterbeine, wollte Ursi die Hand ablecken.

»Guten Morgen, Ursi. Und, wie geht's an diesem schönen Morgen?« fragte Rickie auf schweizerdeutsch.

»Gut, wie immer, danke. Das Übliche?«

»Ja, genau.« Rickie schlenderte zu seinem Tisch links in der Ecke. »Hallo, Stefan. Wie geht's?« Die Worte galten einem auf einem Auge blinden Mann, einem pensionierten Briefträger, der gerade ein Milchbrötchen in seinen Cappuccino tauchte.

»Ich bin der größte Optimist auf der Welt. Alles wird gut«, erwiderte Stefan, so wie jedes zweite Mal auf diese Frage. »Hallo, Lulu!«

Rickie nahm einen Tages-Anzeiger aus dem runden Zeitungsständer und setzte sich: langweilige Nachrichten, kaum anders als letzte Woche oder die Wochen davor – kleine ehemalige Sowjetstaaten, deren Namen er kaum kannte, alle irgendwo unweit der Türkei, fielen übereinander her, töteten die Bürger des anderen Landes, die Menschen verhungerten, ihre Häuser wurden gesprengt. Selbstverständlich war das Leben mancher Menschen (etwa dieser) trauriger als das seine. Das hatte Rickie immer gewußt und auch immer gesagt. Nur: Wenn das Schicksal zuschlug, warum sich nicht auch eingestehen, daß es weh tat? Wieso nicht sagen, daß das Unglück alles überschattete, wenigstens für einen selber?

»Danke, Andreas.« Rickie sah kurz zu dem dunkelhaarigen jungen Mann auf, der ihm den Cappuccino und ein Croissant hinstellte.

[16] »Morgen, Rickie. Morgen, Lulu.« Andreas, oft auch nur Andy genannt, beugte sich zu Lulu hinab und tat so, als wolle er sie küssen. Die Hündin hatte auf einem Stuhl gegenüber von Rickie Platz genommen. »Hätte Madame Lulu gern etwas zu essen?«

»Wuff!« gab Lulu zurück. Mit jeder Faser ihres Körpers sagte sie: »Ja!«

Andreas lachte, richtete sich auf und ließ das leere Tablett auf seinen Fingerspitzen kreisen.

»Sie kann ein Stück von meinem Croissant abhaben«, sagte Rickie.

Er wandte sich wieder seiner Zeitung zu. Mit einem Bissen Croissant im Mund blätterte er beidhändig weiter zu »Aus aller Welt«, einer kurzen Kolumne mit gewöhnlich vier, fünf aktuellen Meldungen: »Handtasche einer Frau entwendet« etwa oder »Rauschgifttoter unter Zürcher Parkbank gefunden«. In einer heutigen Kurzmeldung ging es um einen Rentner, zweiundsiebzig, der in einem Dorf bei Einsiedeln, von dem Rickie noch nie gehört hatte, niedergeschlagen und ausgeraubt worden war.

Na ja, dachte Rickie, zweiundsiebzig, das war nun wirklich nicht mehr jung; von einem Mann in diesem Alter konnte man keine große Gegenwehr erwarten. Doch offenbar war er mit dem Leben davongekommen. Laut der Meldung lag er mit einem Schock im Krankenhaus. Peter dagegen, hier in Zürich, der hatte sich gewehrt, dafür gab es einen Zeugen – er hatte gekämpft, wie es jeder junge Mann getan hätte. Und Peter war bestens in Form gewesen. Rickie zwang sich, die Zeitung nicht mehr so krampfhaft festzuhalten.

[17] »Hier, mein Engel.« Er langte über den Tisch, in der Hand ein knuspriges Stückchen Croissant.

Lulu nahm den Brocken mit ihrer rosa Zunge auf, ohne einen einzigen Krümel zu verlieren, und winselte leise vor Vergnügen.

In diesem Augenblick kam eine kleine, graugekleidete Frau herein, sah sich rasch um und ging zu einem Tisch an der Wand schräg links gegenüber. »Gegenüber« bedeutete bei Jakob »ziemlich weit weg«, denn die Gaststube war groß.

Biergarten und Restaurant nahmen das Erdgeschoß eines mehrstöckigen Hauses ein; auch oben konnte man essen, doch das wollte keiner. Unten waren Boden, Wände und Decke aus altem dunklem Holz, genau wie Tische und Bänke sowie ein später eingezogener Raumteiler, der aber schon alt genug war, um mit der übrigen Einrichtung farblich zu verschmelzen. Kein Chrom, kein Resopal. Der Spiegel hinter der Theke könnte eine Reinigung vertragen, doch bei den vielen Karten und Souvenirs, die im Rahmen steckten, wäre es eine echte Herausforderung, die Sache anzugehen. Die niedrige Decke wurde von dicken Balken gestützt, die noch dunkler wirkten als Tische und Bänke – so als wären Jahrhunderte von Staub und Rauch in das Holz gedrungen. Wenn Rickie einsam war, kam er auf ein Bier hierher, und wenn er keine Lust hatte zu kochen, hielt Ursi bis Mitternacht Bratwurst, Kartoffelsalat und Sauerkraut bereit.

Die Frau in Grau war Renate Soundso; Rickie konnte sie nicht ausstehen. Sie war mindestens fünfzig, stets adrett gekleidet, wenn auch auf eine absonderliche, altmodische Art. Zwar war sie höflich und gab manchmal auch [18] Trinkgeld, das hatte er schon gesehen, aber nur wenige konnten sie leiden. Renate war wie eine feindliche Agentin, die alle im Gasthaus ausspionierte und sie ausnahmslos verachtete – trotz ihres Lächelns. Und doch kam sie oft hierher, fast immer um diese Zeit, und trank ihren zweiten Kaffee am Morgen. Bestimmt stand sie früh auf, bestimmt mußten ihre Mädchen noch vor acht bei der Arbeit sein. Von seinem Stuhl aus konnte Rickie gerade noch die kleinen grauen Troddeln an den Langetten der kurzen Puffärmel ihres geblümten Kleides ausmachen. Troddeln natürlich auch an der Taille und am Saum des Kleides – fast schon wie Alice im Wunderland! Das Kleid war lang, wohl um möglichst viel von Renates Klumpfuß zu verbergen (oder wie immer man das heutzutage nannte). Sie trug knöchelhohe Schuhe; eine Sohle war höher als die andere. Sicher war sie deshalb auf diesen Aufzug im Stil der Jahrhundertwende verfallen. Ein tyrannischer Drachen im Umgang mit ihren jungen weiblichen Angestellten, so sah Rickie sie. Gerade steckte sie eine Zigarette in eine lange schwarze Spitze und zündete sie an. Während sie bestellte, schenkte sie Andy ein dünnes, mechanisches Lächeln.

Rickie sah auf seine Uhr: neun Minuten vor zehn. Mathilde, seine Assistentin, war nie vor zehn nach im Atelier, und das, obwohl er sie bei der Einstellung gebeten hatte, pünktlich bis zehn Uhr zu kommen. Daß er sich nicht gut durchsetzen konnte, wußte er. Seltsamerweise war er härter, wenn es ums Geschäft ging – das fand er jedenfalls selbst. Und das tröstete ihn.

»Einen Alpenbitter, Herr Markwalder? Oder noch einen Cappuccino?« fragte Andreas.

[19] »Ja, einen Appenzeller. Danke, Andy.«

Rickie sah von der Zeitung auf, als jemand anderes sagte: »Rickie – guten Morgen!«

Klaus Bruder. Er mußte auf der anderen Seite des Raumteilers hinter ihm gesessen haben.

»Na, Klaus, stierst du immer noch deine Kundinnen an?« Rickie lächelte. Klaus arbeitete in einer Bank.

Sein Gegenüber wand sich: »Nee – na ja, schon. Hallo, Lulu, guten Morgen! Was ich mich gerade fragte: Kann...

Erscheint lt. Verlag 17.12.2014
Übersetzer Matthias Jendis
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bisexualität • Happy End • Homosexualität • Homosexuell • Hund • Kreis 4 • LGBT • LGBTQ • Patricia Highsmiths letzter Roman • Psychothriller • Schneiderin • Stadtviertel Aussersihl • Zürich • Zürich, Kreis 4
ISBN-10 3-257-60631-1 / 3257606311
ISBN-13 978-3-257-60631-7 / 9783257606317
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