STRAFE (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
288 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-15400-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

STRAFE -  Håkan Nesser,  Paula Polanski
Systemvoraussetzungen
7,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Wenn wir unser Leben Revue passieren lassen, sind wir dann frei von Schuld?
Der Brief kommt überraschend, und er holt den Schriftsteller Max Schmeling aus seiner Komfortzone: einen Gefallen soll er ihm tun, seinem ehemaligen Schulkameraden Tibor Schittkowski, den er seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hat und den er aus vielen Gründen auch nicht sonderlich gut leiden konnte. Dass er sich auf ein Spiel mit gefährlichem Einsatz einlässt, ist ihm da noch nicht klar...

Håkan Nesser, geboren 1950, ist einer der beliebtesten Schriftsteller Schwedens. Für seine Kriminalromane erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, sie sind in über zwanzig Sprachen übersetzt und mehrmals erfolgreich verfilmt worden. Håkan Nesser lebt abwechselnd in Stockholm und auf Gotland.

2

Ein paar Worte über Max, es geht nicht anders. Damit er nicht mit einem anderen verwechselt wird.

Sein vollständiger Name lautet Max Herrgott Schmeling. Sein Vater hieß Alois Kopper und war von Kriegsende bis Anfang der siebziger Jahre Besitzer eines Schuhgeschäfts am Marktplatz von Gimsen. Nachdem Max’ Mutter gestorben war – an Tuberkulose, der Junge war knapp dreizehn und das einzige Kind –, nahmen Vater und Sohn den Namen Schmeling an. Max hatte dem berühmten Boxer, der den legendären Joe Louis auf die Bretter geschickt hatte und für kürzere Zeit Boxweltmeister im Schwergewicht gewesen war, bereits seinen Vornamen zu verdanken. Alois Kopper hatte in seiner Jugend zwei seiner Kämpfe in Europa gesehen, und als sein einziges Kind zur Welt kam und ein Junge war, stand der Vorname augenblicklich fest. Herrgott wurde er nach Max’ Großvater mütterlicherseits getauft.

Wie man es später schaffte, sich Schmeling unter den Nagel zu reißen, ist ausgesprochen unklar, aber es ging offensichtlich. Alois Schmeling betonte seinem Sohn gegenüber zudem immer wieder, dass ihr Namensgeber im Zweiten Weltkrieg zwar für Deutschland gekämpft habe – als Pilot bei der Luftwaffe, nicht? –, insgeheim jedoch ein Widerstandskämpfer gewesen sei und sich beispielsweise persönlich in Lebensgefahr begeben habe, indem er zwei jüdische Kinder vor dem Holocaust rettete.

Vier Monate nach dem Tod seiner Mutter wurde Max unter seinem neuen Namen in die städtische Realschule aufgenommen. Anfangs wurde er in den Pausen des Öfteren verprügelt, von Idioten, die behaupteten, sie hießen Rocky Marciano oder Sonny Liston, aber mit der Zeit entwickelte er eine gute linke Gerade sowie eine Rechte, die auch nicht zu verachten war, und verschaffte sich auf diese Weise Respekt und gewann neue Freunde.

Dann wuchs er auf, wurde erst Lokomotivführer, danach Aushilfslehrer, später schließlich Schriftsteller, und in den letzten Jahrzehnten hat er sich als solch freischaffender Künstler durchs Leben geschlagen. Er verfasste einen Roman, der zu Hause und international zu einem großen Erfolg wurde, erweiterte ihn auf Anraten seines Verlags zu einer Art Tetralogie, und dank dieses Rats und dieser Bücher hat er seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr in einer Lokomotive oder hinter einem Lehrerpult gesessen. Er hat die sechzig überschritten, und das Risiko, dass er es jemals wieder tun muss, tendiert gen null.

Derzeit ist er alleinstehend. Seine dritte Frau hat ihn vor einem halben Jahr verlassen; das löste eine leichte Depression aus, aber seine Therapeutin behauptet, dass er sie überwunden habe. Er hat zwei Kinder, einen Sohn aus erster Ehe, eine Tochter aus zweiter. Sie sehen ihren Vater nicht sonderlich oft, haben aber auch keine ungelösten Konflikte mit ihm, jedenfalls nicht, soweit er wüsste. Sie wohnen in London beziehungsweise Kopenhagen, in letztgenannter Stadt hat er inzwischen zwei Enkelkinder.

Hier soll es jedoch nicht in erster Linie um Max Schmeling gehen, zumindest ist das nicht beabsichtigt. Was genau beabsichtigt ist, davon hat er einstweilen keine Ahnung, aber er kennt Schriftstellerkollegen, die behaupten, so und nicht anders zu arbeiten: Sie setzen sich mit Stift und Block an den Schreibtisch oder an ihren Computer, ohne einen einzigen Gedanken im Kopf zu haben. Und warten anschließend darauf, dass etwas passiert. Was auch geschieht. Und daraufhin schreiben sie es auf. Max hat diese Methode nie erprobt und behauptet regelmäßig, dass seine Kollegen lügen, aber diesmal gibt er nach. Er hat eine endlose Reihe sorgsam geplanter Romane geschrieben, vielleicht ist die Zeit reif, etwas Neues zu versuchen.

Will sagen, falls er wirklich auf dem Weg in eine Geschichte sein sollte, und es scheint einiges dafür zu sprechen, dass es so ist.

Er beschließt, das Auto zu nehmen. In Gimsen festzusitzen, weil am Abend kein Zug mehr fährt, möchte er nicht riskieren, und so hat er um kurz nach elf am Dienstagvormittag Maardam hinter sich gelassen, ist auf die A 35 gefahren und kann darüber spekulieren, was vor ihm liegt. Seit dem Telefonat in der vergangenen Woche hat er keinen Kontakt mehr zu Schittkowski gehabt. Bei ihrem zweiten Gespräch, als sie den Zeitpunkt für seinen Besuch festlegten, ist dieser keinen Deut mitteilsamer gewesen als bei ihrer ersten Unterhaltung.

Er möchte Max treffen, weil er seine Hilfe benötigt. Er findet, dass Max ihm dies schuldig ist. Er liegt im Sterben.

Das ist alles.

Irgendwo zwischen Aarlach und Oostwerdingen beginnt es zu regnen. Es ist kein gewöhnlicher Landregen, sondern ein Wolkenbruch, der es fast unmöglich macht, auf der Fahrbahn voranzukommen. Max hat das Gefühl, in einem Fluss gegen die Strömung zu fahren, und da er ohnehin tanken muss, biegt er auf eine wie gerufen auftauchende Tankstelle ab. Als er getankt hat, ist nach wie vor keine Wetterbesserung in Sicht; er betritt ein angeschlossenes Café und lässt sich mit einer Tasse Kaffee und einer Boulevardzeitung in einer Sitznische nieder.

Für die Zeitung braucht er fünf Minuten, danach faltet er sie zusammen und denkt über die Krankheit nach, an der Tibor Schittkowski offenbar leidet. ALS. Max hat sich im Internet schlaugemacht, unmittelbar nach ihrem ersten Telefonat.

Amyotrophe Lateralsklerose. Was er gelesen hat, klingt wenig erfreulich. Eine Art Muskelschwäche, die unerbittlich zum Tode führt. Keine bekannten Heilmittel, nur Medikamente, die den Krankheitsverlauf verlangsamen. Die durchschnittliche Zeitspanne zwischen Diagnose und Tod beträgt etwa drei Jahre. Es endet in der Regel damit, dass man nicht mehr atmen kann.

Schittkowski hat nicht erzählt, wie lange er schon betroffen ist, aber Max nimmt an, dass er schon mehr als zwei Jahre krank sein muss, wenn er inzwischen nur noch ein paar Monate zu leben hat. Er versucht, ihn sich vorzustellen, wie er aussieht und wohnt, was natürlich eine unmögliche Aufgabe ist. Als Jugendlicher ähnelte Tibor ziemlich stark Ringo Starr, daran erinnert Max sich noch. Allerdings hatte er wesentlich stärker abstehende Ohren; ganz gleich, wie er seine langen Haare kämmte, es gelang ihm nie, sie zu verbergen, und dies und die Tatsache, dass er in allen möglichen Situationen schnell rot wurde, führte dazu, dass er in manchen Kreisen unter der Bezeichnung Zwei blutrote Segel bekannt war. Obwohl Max das mit dem Erröten eigentlich nur vom Hörensagen weiß, und wenn ihm sein Gedächtnis keinen Streich spielt, hat Tibor seine ärgerlichen Hörorgane operieren lassen, damit sie flacher am Schädel anliegen. Er kann sich allerdings nicht erinnern, das Ergebnis jemals mit eigenen Augen gesehen zu haben.

Der Scheißhaufen und Zwei blutrote Segel. Es lohnt sich natürlich nicht, über diese alten Spitznamen nachzugrübeln, vor allem nicht, wenn man bedenkt, dass ihr Träger bald sterben wird, und Max merkt, dass ihn eine Art Trauer übermannt. Eine Trauer über die Vergänglichkeit und Sinnlosigkeit des Lebens wahrscheinlich. Über die Unbestechlichkeit des Todes. Da hat er nun Tausende Seiten über diese Dinge geschrieben oder zumindest versucht, einiges zu diesem Thema zu Papier zu bringen, aber wenn die Wirklichkeit dann unter dem Make-up der Worte zum Vorschein kommt, erscheint einem das anders. Ja, völlig anders, überlegt Max Schmeling. Er denkt ein, zwei Momente darüber nach, seine Therapeutin anzurufen, aber da sie kaum etwas anderes beizusteuern haben wird als eine weitere Reihe neunmalkluger und unzuverlässiger Wortpflaster, lässt er es bleiben.

Stattdessen leert er seine Kaffeetasse und rennt durch den Regen zu seinem Auto. Obwohl es nicht mehr als zwanzig, dreißig Meter sind, wird er dabei klatschnass und denkt, dass es eine Übersprunghandlung gewesen sein muss, auf Schittkowskis Wunsch einzugehen. Unabhängig davon, worum es eigentlich gehen wird. Als er wieder auf der Straße ist, stellt er außerdem fest – wenig überraschend und ganz folgerichtig –, dass über dieser Landschaft eine gewisse Trostlosigkeit hängt. Vielleicht auch eine bleich schimmernde Melancholie, ja, wie vielleicht über allen Landschaften und Ländern und über dem menschlichen Dasein als solchem?

Ein bleiches Schimmern, können wir im Grunde mehr erwarten als das?

Ab und zu, wenn der Regen für kurze Zeit schwächer wird.

Trotzdem hat seine Fahrt ja ein Ziel und eine Richtung, ist es nicht so? Sind Trostlosigkeit und Melancholie dasselbe? Er begreift nicht wirklich, woher diese Gedanken kommen, und ebenso wenig, ob sie hilfreich sind oder ihn behindern, aber vielleicht braucht man ja trotz allem etwas Pompöses, an das man sich klammern kann, wenn man spürt, dass man nur noch hinter einem Lenkrad sitzt und verkümmert und unterwegs zu einem Tod ist, der zwar nicht der eigene ist, diesen aber immerhin ankündigt.

Oder etwas in der Art.

Obwohl er sich an der Raststätte Zeit gelassen hat, erreicht er Gimsen eine halbe Stunde zu früh. Schittkowski hat ihm gesagt, dass er erst kommen darf, sobald seine Pflegerin ihn in Frieden gelassen hat – also um zwei Uhr –, und so nutzt Max die Gelegenheit, um vorher noch eine Runde durch die Stadt zu fahren.

Als Erwachsener in die Stadt seiner Kindheit zurückzukehren, ist so, als würde man abends frühstücken. Es irritiert, und nichts stimmt. Die alten Baudenkmäler sind verfallen oder abgerissen worden, an ihre Stelle ist Neumodisches getreten. Die Verheißungen sind erloschen, die Visionen geschrumpft, und es fällt einem leicht, sich einzubilden, dass die gesamte Kindheit und Jugend nur eine Schimäre oder ein Bluff waren. An der Straßenecke hinter dem...

Erscheint lt. Verlag 25.5.2015
Übersetzer Paul Berf
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Straff
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte eBooks • Hakan Nesser • Heimatkrimi • Krimi • Kriminalromane • Krimis • München • Schweden • Schweden, Skandinavische Krimis, Hakan Nesser • Skandinavische Krimis • Thriller
ISBN-10 3-641-15400-6 / 3641154006
ISBN-13 978-3-641-15400-4 / 9783641154004
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 2,7 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Psychothriller

von Sebastian Fitzek

eBook Download (2022)
Verlagsgruppe Droemer Knaur
9,99
Krimi

von Jens Waschke

eBook Download (2023)
Lehmanns Media (Verlag)
9,99
Psychothriller | SPIEGEL Bestseller | Der musikalische Psychothriller …

von Sebastian Fitzek

eBook Download (2021)
Verlagsgruppe Droemer Knaur
9,99