Die Middlesteins (eBook)
264 Seiten
Schöffling & Co. (Verlag)
978-3-7317-6067-2 (ISBN)
Jami Attenberg, geboren 1971 in Illinois, lebt in New Orleans. Sie hat Erzählungen und Romane u?ber eigenwillige Charaktere veröffentlicht. Die Middlesteins und Nicht mein Ding standen auf der New York Times-Bestsellerliste und wurden vielfach ausgezeichnet. An ihrem jährlichen Schreibworkshop A Thousand Words Of Summer nehmen Schreibende aus aller Welt teil. www.jamiattenberg.com
Jami Attenberg, geboren 1971 in Illinois, studierte an der Johns Hopkins University in Baltimore und lebt in New Orleans. Sie hat Erzählungen und Romane veröffentlicht, die sich um das Glück und Unglück von Familien drehen. Die Middlesteins und Nicht mein Ding standen auf der New York Times-Bestsellerliste und wurden vielfach ausgezeichnet.Barbara Christ studierte Literatur- und Theaterwissenschaften und arbeitete als Dramaturgin und Verlagslektorin. Seit 1997 übersetzt sie aus dem Englischen Theaterstücke und Prosa, u. a. Russell Banks, David Greig, Noah Haidle, Doris Lessing, Anthony Neilson und Simon Stephens. Seit 2012 leitet sie Seminare im Rahmen verschiedener Übersetzerwerkstätten.
Das denkbar Gemeinste
Robins Mutter Edie stand in der kommenden Woche eine weitere Operation bevor. Gleicher Eingriff, anderes Bein. Alle sagten ständig: Immerhin weiß man, was einen erwartet. Robin stieß gerade mit Daniel, ihrem Nachbarn von unten, auf das Bein an, in der Bar gegenüber ihrem Mietshaus. Draußen war es kalt. Januar in Chicago. Robin hatte fünf Kleidungsschichten angelegt, nur um über die Straße zu gehen. Daniel war schon betrunken gewesen, als sie kam. Ihre Mutter wurde zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres aufgeschnitten. Prost.
Die Bar war nullachtfünfzehn, null gemütlich und überhaupt eher eine Nullnummer. Robin fiel es schwer, den Weg dorthin zu erklären. Im einzigen Fenster hing zwar eine Leuchtreklame für »Old Style«-Bier, aber an der Eingangstür stand keine Hausnummer. Zwischen 242 und 246, sagte sie meist, auch wenn die Leute das irgendwie verwirrend fanden. Daniel allerdings nicht. Er kannte den Weg.
»Auf die zweite«, sagte Daniel. Er hob sein Glas. Diesmal trank er das braune Zeug. Sonst trank er eher das hell- oder dunkelgelbe Zeug, aber schließlich war Winter. »Geht’s um das rechte oder das linke Bein?«
»Das kann ich mir nicht mal merken, stell dir vor. Ich glaube, ich hab’s verdrängt. Ist das nicht schrecklich? Bin ich ein schrecklicher Mensch?« Das Ganze hatte sie überrascht, obwohl es eigentlich kein Wunder war. Ihre Mutter weigerte sich, vernünftig zu essen oder Sport zu treiben, und war im Laufe der letzten zehn Jahre völlig verfettet. Zwei Jahre zuvor hatte man bei ihr Diabetes diagnostiziert. Im fortgeschrittenen Stadium. Der Diabetes hatte in Kombination mit der katastrophalen genetischen Veranlagung zu einer Gefäßerkrankung in den Beinen geführt. Aus dem anfänglichen Kribbeln war ein dauerhafter Schmerz geworden. Robin hatte die Beine ihrer Mutter im Krankenhaus nach der ersten Operation gesehen und beim Anblick der blauen Verfärbungen gewürgt. Das hätte ihrer Mutter doch auffallen müssen! Oder ihrem Vater! Das konnte ihnen doch nicht entgangen sein! Der Arzt hatte ein kleines Metallröhrchen, einen Stent, in das Bein eingeführt, damit das Blut richtig fließen konnte. (Robin fragte sich, was mit dem Blut passierte, wenn es nicht floss.) Ursprünglich hatte er einen Bypass legen wollen, eine Vorstellung, die alle bedrohlich fanden. Doch der Arzt blieb bei seiner Meinung, wie Benny sagte, Robins Bruder. »Daraus könnte schnell was Ernstes werden«, hatte er ihr erklärt. »Das sollte uns eine Warnung sein.« Aber Edie hatte selbst mit dem Arzt verhandelt. Sie versprach ihm, sich zu bessern. Sie versprach, an sich zu arbeiten. Nach fünfunddreißig Jahren als Anwältin wusste sie sich zu wehren. Ein halbes Jahr später hatte Edie nichts in ihrem Leben verändert, keinen Schritt unternommen, um sich selbst zu helfen, und das hatten sie nun alle davon.
»Es ist mir ja nicht gleichgültig«, sagte Robin. »Ich will es nur einfach nicht wissen.« Sie wusste ohnehin schon zu viel. Hier sprang ihr das wahre Leben ins Gesicht, und damit wollte sie nichts zu tun haben.
In der Woche zuvor war sie nach Hause gefahren, um nachzusehen, was der Wahnsinn so machte, zurück in die Vorstadt, in der sie aufgewachsen war, die sie dreizehn Jahre zuvor in der Hoffnung verlassen hatte, niemals zurückzukehren, und in der sie sich nun viel zu häufig wiederfand. Ihre Mutter hatte sie vor dem Bahnhof abgeholt, war dann um die Ecke gefahren und hatte vor einem Kino geparkt. Es war später Nachmittag; an der Schule, wo Robin unterrichtete, hatte es einen halben Tag frei gegeben. (Sie hatte sich ausgemalt, was sie mit diesem freien Nachmittag anfangen würde: ausgiebig am See laufen gehen während der wärmsten Stunden des Tages, oder ein frühes Besäufnis mit Daniel. Aber es hatte nicht sollen sein.) Rentner kamen im Zeitlupentempo aus der Matineevorstellung. Ein paar Hausfrauen zerrten ihre Kleinkinder zum Parkplatz auf der anderen Straßenseite. Fast hätte sich Robin aus dem Auto geworfen, ihnen nach. Nehmt mich mit!
»Ich muss dir was erzählen, bevor wir nach Hause fahren«, hatte ihre kurzatmige Mutter gesagt, von deren massigem Fleisch nur das fahle Gesicht, das Doppelkinn und der wulstige Hals aus dem Pelzmantel ragten. »Dein Vater hat mich verlassen. Er hatte genug.«
»Das soll wohl ein Witz sein«, sagte Robin.
»Es ist Tatsache«, sagte ihre Mutter. »Er hat die Flatter gemacht, und er kommt nicht zurück.«
Später fiel Robin auf, was für ein seltsamer Ausdruck das war. Als hätte ihr Vater zuvor wie ein Vogel in einem mit vollgekacktem Zeitungspapier ausgelegten Käfig gesessen. Ihre Gefühle für den Vater schwankten heftig in diesem Moment. Ihre Mutter war schwierig. Die Situation war schwierig. Er hatte sich wie ein Feigling davongemacht – Feigheit allerdings hatte Robin noch nie jemandem verübelt, das war einfach eine Entscheidung, die man eben traf. Doch sie hasste sich selbst für diesen Gedanken. Schließlich ging es um ihre Mutter, sie war krank, sie brauchte Hilfe. Wenn Robin sich ihre eigenen zugegebenermaßen fragilen Moralvorstellungen vor Augen führte, wusste sie, dass es nur ein naheliegendes Urteil gab. Seine Entscheidung war verabscheuungswürdig. Den ganzen Gedankengang sollte sie niemals laut aussprechen, wohl aber das Fazit: Ihr Vater verdiente keine Vergebung. Sie hatte ihn schon vor dieser Geschichte zwar geliebt, aber nicht besonders gemocht, und nun brauchte es nicht viel, um ihre Gefühle in so etwas wie Hass umschlagen oder zumindest die Liebe vergehen zu lassen.
Die Mutter schluchzte. Robin berührte die Hand ihrer Mutter. Sie legte die Hand auf die Schulter der Mutter. Edie zitterte, und ihre Lippen waren blau. Nur ein Schritt bis zum Tod, dachte Robin. Aber sie war keine Ärztin.
»Ich hätte ihn besser behandeln sollen«, sagte die Mutter.
Dagegen konnte Robin nichts sagen, aber sie konnte auch nicht umhin, ihrem Vater die Schuld zu geben. Richard Middlestein hatte sich zu einem Leben mit Edie Herzen verpflichtet. Und Edie lebte noch.
So kam es, dass die Operation zur Nebensache wurde. Robin hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, Edie nach ihrer Gesundheit zu fragen. Um diese Dinge kümmerte sich ohnehin meist ihr Bruder. Bei der ersten Operation war Robin hingefahren, hatte ein paar Stunden im Wartezimmer gesessen wie alle anderen – langweilig; sie wussten doch alle, dass es gutgehen würde, es war ein simpler Eingriff und sie würde am selben Abend aus dem Krankenhaus kommen – und bei der nächsten behauptet, sie sei zu beschäftigt. Sie hatte geglaubt, ungeschoren davongekommen zu sein, auch wenn das hieß, dass sie menschlich einfach das Letzte war. Ihr zuverlässiger, solider, familienfixierter Bruder Benny, der zwei Vororte von den Eltern entfernt wohnte, würde ja hingehen. Er, seine Frau mit der korrigierten Nase, Nichte Emily und Neffe Josh, sie alle würden geduldig mit Robins Vater abwarten, bis ihre Mutter wieder zu sich kam. Wie viele besorgte Kinder brauchte man eigentlich, um so eine Glühbirne einzuschrauben?
Doch dieses jüngste Trauma war etwas Neues und Außergewöhnliches. Hier ging es um ein gebrochenes Herz. Ums Verlassenwerden. Und für diese Dinge war Benny alles andere als gerüstet. Robins Gedanken wanderten zu anderen Menschen im Leben ihrer Mutter, die vielleicht in der Lage wären, ihr zu helfen, etwa ihre langjährigen Freunde aus der Synagoge, die Cohns und die Grodsteins und die Weinmans und die Frankens. Vierzig Jahre kannten sie einander. Doch diese Freunde waren alle noch verheiratet und hatten keine Ahnung von solchen Sachen. Nein, das war Robins Gebiet. Die war schließlich Dauersingle, und das wahrscheinlich aus gutem Grund. Nun war sie endlich auch mal dran.
»Du bist überhaupt kein schrecklicher Mensch«, sagte Daniel. Er kratzte sich den blonden Bart, der so weich aussah. Robin stellte sich schon seit Monaten vor, wie weich er war. Alles an Daniel wirkte weich und tröstlich, wenn auch ein bisschen schwach. Der Kinn- und Schnauzbart, die Kopfhaare und die Haare auf Brust und Bauch – im Sommer zuvor hatte sie öfter gesehen, wie er hinten auf der Terrasse in einer ausgeblichenen Hängematte lümmelte und sich sonnte –, all das war ganz golden und flaumig. Einmal hatte sie ihm sogar den Kopf tätscheln wollen, nur um herauszufinden, wie sich die Haare anfühlten, doch als ihre Hand hochflog, hatte er das als Abklatschversuch verstanden und selbst die Hand gehoben, um einzuschlagen, und da hatte sie wohl oder übel reagieren müssen.
Aber es waren schließlich nur Haare. Sie musste sie nicht berühren. Sie hatte selbst Haare, die auch ziemlich weich waren, schwarz, lockig, lang, elastisch, drahtig, aber trotzdem weich.
Außerdem gab es da auch noch anderes: seinen vom hell- oder dunkelgelben oder braunen Zeug aufgeblähten, tief und breit über den Hosengürtel hängenden Bauch, sein ganz eigener Airbag; ausgebeulte, ausgeblichene Flanellhemden mit löchrigen Manschetten und Taschen, weißlich-blaue Jeans oder Cordhosen mit durchgescheuerten Knien; Converse-Hightops, deren Sohlen von Klebeband gehalten wurden. Blutunterlaufene Augen. Eingerissene Nagelhaut. Die viele Zeit, die er im Internet verbrachte. (Klar, das war sein Job, aber sie machte sich trotzdem Sorgen.) Das Haus verließ er nur, um in diese Bar zu gehen, oder wenn Robin ihn bei wärmerem Wetter mit auf Spaziergänge schleppte.
»Dein Freund Daniel«, so nannte ihn Felicia, ihre Mitbewohnerin.
»Er ist nicht mein Freund«, sagte sie daraufhin.
»Ihr verhaltet euch aber so«, sagte Felicia dann. »Worüber redet ihr denn auf euren Spaziergängen?«
Sie...
Erscheint lt. Verlag | 21.1.2015 |
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Mitarbeit |
Cover Design: Pierre Mornet |
Übersetzer | Barbara Christ |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Adipositas • Adopositas • Bar-Mizwa • Chicago • Chinesisches Essen • Ehe • Essen • Esswahn • Familienroman • Fastfood • Fettleibigkeit • Fitness • Gesundheitswahn • Judentum • Liebe • Scheidung • Trennung • Übergewicht |
ISBN-10 | 3-7317-6067-3 / 3731760673 |
ISBN-13 | 978-3-7317-6067-2 / 9783731760672 |
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