Theophilus North oder Ein Heiliger wider Willen (eBook)
400 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-403457-7 (ISBN)
Thornton Wilder wurde am 17. April 1897 in Madison, Wisconsin, als Sohn eines Zeitungsverlegers geboren, der als Generalkonsul nach Hongkong und Schanghai ging. Thornton Wilder erhielt für sein umfangreiches literarisches Werk zahlreiche Auszeichnungen, u. a. dreimal den Pulitzer-Preis und 1957 in Frankfurt am Main den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Er starb am 7. Dezember 1975 in Hamden, Connecticut.
Thornton Wilder wurde am 17. April 1897 in Madison, Wisconsin, als Sohn eines Zeitungsverlegers geboren, der als Generalkonsul nach Hongkong und Schanghai ging. Thornton Wilder erhielt für sein umfangreiches literarisches Werk zahlreiche Auszeichnungen, u. a. dreimal den Pulitzer-Preis und 1957 in Frankfurt am Main den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Er starb am 7. Dezember 1975 in Hamden, Connecticut.
Zweites Kapitel Die neun Städte von Newport
Am frühen Nachmittag stellte ich mich also bei Eddie Linley ein, um »Hannah« und meine Sachen abzuholen. Ich bat Eddie, während der Fahrt durch die Stadt neben mir zu sitzen und mich noch einmal über die Idiosynkrasien des alten Autos zu unterrichten.
Plötzlich fiel mein Blick auf ein Schild: Newport, 30 Meilen
Newport! Ich wollte Newport wiedersehen, wo ich vor sieben oder acht Jahren gedient hatte, allerdings bescheiden, erst als Gemeiner, dann als Korporal der Küsten-Artillerie, die die Bucht von Narragansett verteidigen mußte. In meiner Freizeit hatte ich oft auf langen Spaziergängen die Gegend durchstreift, und ich hatte die Stadt liebengelernt, die Bäume, das Meer, das Wetter, den nächtlichen Himmel. Ich kannte dort nur eine einzige Familie, gastfreundliche Menschen, die dem Gebot »Jeden Sonntag ein Soldat zum Abendessen« nachgekommen waren, und die Einwohner der Stadt hatten auf mich einen recht guten Eindruck gemacht. Von dem berühmten »Kurort der Schwerreichen« war wenig zu sehen, ihre Luxusvillen blieben den Blicken Neugieriger entzogen, und da das Benzin rationiert war, drehten sich nicht viele Räder auf der Bellevue Avenue. Als ich das Schild entdeckte, fiel mir ein, ich könnte mir durch eine Teilzeitbeschäftigung meinen Lebensunterhalt verdienen und brauchte meine Ersparnisse gar nicht anzugreifen. Ich setzte Eddie vor seiner Tür ab, schüttelte den verschiedenen Familienmitgliedern die Hände, bezahlte ihm die fünfundzwanzig Dollar, und los ging’s nach Newport auf der Insel Aquidneck.
Was für ein Tag! Was für ein Vorgeschmack des noch immer sich verzögernden Frühlings! Wie viele Anzeichen, daß ich mich dem Meer näherte!
»Hannah« benahm sich recht gut bis zur Stadtgrenze, dort begann sie zu husten und zu stolpern. Wir schafften aber noch Washington Square, wo ich anhielt und mich nach der Adresse des »Christlichen Vereins Junger Männer« erkundigte, nicht des CVJM für Soldaten und Matrosen gleich vor meiner Nase, sondern des CVJM für Zivilisten. Ich ging in einen Laden, in dem Zeitungen, Postkarten usw. verkauft wurden – die Besitzer treffen wir in dem Kapitel »Nino« –, und fragte telefonisch beim CVJM an, ob noch ein Zimmer frei wäre. Ich fügte munter hinzu, ich sei unter dreißig, als Angehöriger der Ersten Kongregationalen Kirche in Madison, Wisconsin, getauft und im übrigen ein ziemlich umgänglicher Mensch. Eine müde Stimme antwortete: »Wozu die Aufregung, mein Lieber? Geht in Ordnung. Fünfzig Cents pro Nacht.« »Hannah« verweigerte die Weiterfahrt, ließ sich dann aber überreden, in die Thames Street einzubiegen. Ich hielt vor »Josiah Dexter. Garage. Reparaturen«. Ein Mechaniker untersuchte »Hannah« lange und nachdenklich und murmelte einige mir unverständliche Worte.
»Wieviel kostet das alles ungefähr?«
»Sieht mir nach fünfzehn Dollar aus.«
»Kaufen Sie alte Autos?«
»Mein Bruder. Josiah! Josiah!«
Das war im Jahre 1926, als alle Mechaniker, Elektriker und Klempner nicht nur zuverlässig waren, sondern auch in hohem Ansehen standen als Eckpfeiler eines jeden Haushalts, der etwas auf sich hielt. Josiah Dexter war viel älter als sein Bruder. Er hatte eins von jenen Gesichtern, wie man sie jetzt nur noch auf Daguerreotypien von Richtern und Vikaren findet. Auch er untersuchte das Auto. Sie berieten miteinander.
Ich sagte: »Ich verkaufe Ihnen den Wagen für zwanzig Dollar, wenn Sie mich und mein Gepäck zum CVJM fahren.«
Josiah Dexter sagte: »Abgemacht.«
Wir luden mein Gepäck in seinen Wagen um, und ich wollte schon einsteigen, als ich sagte: »Einen Augenblick!« Die Luft war mir zu Kopf gestiegen, war ich doch etwa eine Meile von dem Ort entfernt, an dem ich mit zwanzig und einundzwanzig Jahren einen Teil meines Lebens verbracht hatte. Ich drehte mich zu »Hannah« um und streichelte ihre Haube. »Lebwohl, Hannah, nichts für ungut, beiderseits. Verstehst du?« Dann flüsterte ich in den einen Scheinwerfer, der mir am nächsten war: »Alter und Tod kommen zu jedem von uns. Sogar der müdeste Fluß windet sich dem Meer entgegen. Oder wie Goethe sagt: ›Balde ruhest du auch‹.«
Dann setzte ich mich neben Mr. Dexter. Nachdem er langsam einen Block entlang gefahren war, sagte er: »Haben Sie den Wagen lange gehabt?«
»Genau eine Stunde und zwanzig Minuten bin ich der Eigentümer dieses Wagens gewesen.«
Nach dem nächsten Block: »Regt Sie alles so auf, das Ihnen gehört?«
»Mr. Dexter, ich war im Krieg auf Fort Adams stationiert. Jetzt bin ich wieder hier, seit einer Viertelstunde wieder in Newport. Es ist ein wunderbarer Tag. Es ist ein wunderbarer Ort. Ich bin überdreht. Traurigkeit ist die Kehrseite des Glücks.«
»Darf ich Sie fragen, was Sie zu dem Auto gesagt haben?«
Ich wiederholte meine Abschiedsworte, wobei ich ihm das Zitat ins Englische übersetzte. »Es sind Gemeinplätze, Mr. Dexter, aber in letzter Zeit habe ich eingesehen, wenn wir vor Gemeinplätzen zurückschrecken, schrecken die Gemeinplätze vor uns zurück. Ich mache mich nie über die Gedichte von Henry Wadsworth Longfellow lustig, der so viele glückliche Wochen in und um Newport verbracht hat.«
»Ich weiß.«
»Können Sie mir sagen, wo ich hier ein Fahrrad mieten kann?«
»Bei mir.«
»Dann werde ich in einer Stunde bei Ihnen in der Garage vorsprechen. Mr. Dexter, hoffentlich nehmen Sie mir meine Verdrehtheit nicht übel!«
»Wir Neu-Engländer haben dafür nicht viel übrig, aber ich habe nichts Kränkendes gehört. Was hatte dieser Deutsche doch gleich gesagt?«
»Er sprach zu sich selbst in einem Gedicht, spät in der Nacht, in einer Holzhütte im tiefen Wald. Er schrieb die Verse auf die Bretterwand. Sie hörten die letzten Worte des berühmtesten Gedichtes in deutscher Sprache. Er war Anfang dreißig. Mit dreiundachtzig fand er seine Ruhe.«
Wir hatten den Eingang des CVJM erreicht. Er hielt und saß einen Augenblick still da, die Hand auf dem Steuerrad, dann sagte er: »Morgen sind es fünf Wochen, daß ich meine Frau verloren habe … Sie hat viel von Longfellows Gedichten gehalten.«
Er trug mit mir das Gepäck in die Halle, drückte mir einen-Zwanzig-Dollar-Schein in die Hand, nickte kurz und sagte: »Guten Tag auch«, und verließ das Gebäude.
Eine Stunde später war Josiah Dexter nicht in seiner Garage, aber sein Bruder half mir, ein Velo – wie man damals sagte – auszusuchen. Ich fuhr die Thames Street entlang und dann den »Zehn-Meilen-Fahrweg«, vorbei an dem Eingang zu Fort Adams (»Korporal North, T!« – »Hier!«), vorbei an Agassiz-Haus (»Selten ist ein großer Reichtum an Wissen so leicht getragen worden«) bis zur Seemauer vor dem Budlong-Haus. Den Wind im Gesicht, schaute ich über das glitzernde Meer in Richtung Portugal.
Noch vor sechs Monaten – ich fühlte mich innerlich ja so erschöpft – hatte ich einen Kollegen abgekanzelt: »Schlag dir diese Ideen aus dem Kopf. Das Meer ist weder grausam noch freundlich. Es ist so wesenlos wie der Himmel. Nur eine große Ansammlung von H2O. Und selbst Worte wie ›groß‹ oder ›klein‹, ›schön‹ oder ›gräßlich‹ entsprechen lediglich den Vorstellungen und Wertbegriffen, die ein menschliches Wesen von durchschnittlicher Körpergröße darauf projiziert. Ebenso dichtet man Farben und Formen gerne Eigenschaften an, die dem entsprechen, was wir als angenehm oder unangenehm, eßbar oder ungenießbar, sexuell anziehend, unsern Sinnen schmeichelnd und dergleichen empfinden. Die ganze physische Welt ist eine leere Seite, auf der wir unsere ständig wechselnden Bemühungen, uns unserer Existenz bewußt zu werden, aufschreiben oder ausradieren. Beschränke dein Staunen auf ein Glas Wasser oder einen Tautropfen – beginne dort, du wirst nicht weiterkommen.« Aber an diesem Nachmittag spät im April brachte ich nur mühsam die Worte hervor: »O Meer! O mächtiger Ozean!«
Ich fuhr die zehn Meilen der berühmten Straße nicht ganz ab, sondern kehrte auf einer Abkürzung in die Stadt zurück. Ich wollte durch ein paar Straßen gehen, die ich so oft während meines ersten Aufenthaltes in dieser Stadt durchwandert hatte. Vor allem wollte ich die Bauten meiner Lieblingsepoche – des achtzehnten Jahrhunderts – wiedersehen, Kirche, Rathaus, Villen, und dann die herrlichen Bäume von Newport: mächtig, schattenspendend und mannigfaltig. Im östlichen Teil von Rhode Island begünstigt das Klima, nicht der Boden, das Wachstum großer exotischer Bäume. Eine ganze Generation von Gelehrten hatte sich offenbar ein Vergnügen daraus gemacht, ausländische Bäume auf der Insel Aquidneck anzupflanzen, und danach hatte eine ganze Generation von Hochseeseglern miteinander gewetteifert, Exemplare aus fernen Ländern hierher zu bringen. Viel Mühe war damit verbunden gewesen. Karawanen von Eisenbahnwaggons hatten Erde aus dem Inneren herbeigeschleppt. Später stellte sich heraus, daß viele Bewohner nicht einmal die Namen der schönen Bäume auf ihrem Anwesen kannten. »Wir glauben, dies hier ist ein indischer Feigenbaum oder ein … Arekanusbaum.« »Ich glaube, Großvater hat gesagt, der hier stammt aus Patagonien … Ceylon … Japan …«
Zu meinen später wieder aufgegebenen Ambitionen hatte auch der Archäologe gehört. Ich hatte in Rom sogar fast ein Jahr dem Studium der Archäologie, ihren Methoden und Fortschritten gewidmet. Aber schon viel früher war ich – wie viele andere Jungen – von Schliemanns...
Erscheint lt. Verlag | 22.12.2014 |
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Übersetzer | Hans Sahl |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Boston • Frieden • Friedensstifter • Gutmensch • Lösung • Märchhen • Menschenfreund • Newport • New York • Problem • Reise • Roman • Theophilus North • Traum |
ISBN-10 | 3-10-403457-5 / 3104034575 |
ISBN-13 | 978-3-10-403457-7 / 9783104034577 |
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