Liebespaarungen (eBook)
592 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-96981-9 (ISBN)
Lionel Shriver, geboren 1957 in Gastonia, North Carolina, lebt mit ihrem Mann, dem Jazzmusiker Jeff Williams, in Portugal und London. Ihr in 25 Sprachen übersetzter Roman »Wir müssen über Kevin reden« wurde mit dem Orange Prize for Fiction ausgezeichnet. Auch ihr um ein Gedankenspiel kreisender Roman »Liebespaarungen« erhielt international höchstes Kritikerlob und stand über Wochen auf den Bestsellerlisten. Zuletzt erschien »Die Letzten werden die Ersten sein«.
BEIM RASSELN DES Schlüssels im Schloss schlug Irina das Herz bis in den Hals.
»Irina Galina!« Ein Spitzname war es nicht gerade. Mit einer kleinen Huldigung an die reimfreundlichen Assonanzen der russischen Sprache hatte sich Irinas Mutter für den Zweitnamen Galina entschieden, und Lawrence liebte den protzig-komischen Klang dieser Dopplung. Doch heute Abend schallte sein Kosename für sie in einem kratzigen Singsang aus der Diele und schien eher einem niedlichen Muppet aus der Sesamstraße zu gelten als einer erwachsenen Frau.
Lawrence ließ sein Gepäck fallen und warf einen Blick ins Wohnzimmer. Sofort verlor sie den Mut. Sie dachte: Noch nie zuvor habe ich in dieses Gesicht gesehen und überhaupt nichts empfunden.
Bei ihrer ersten Begegnung – nachdem Lawrence den Aushang für ihre Russischstunden am schwarzen Brett an der Columbia entdeckt hatte, vereinbarte er gleich einen Termin – hatte Irina ihre Wohnungstür in der West 104th Street aufgemacht und erst einmal gestutzt. Dass es Liebe auf den ersten Blick war, hätte sie nicht gerade behauptet, aber er kam ihr bekannt vor, als wenn sie sich schon irgendwo begegnet wären. Obwohl sein durchtrainierter Körper unter Flanell und schlabbrigen Jeans versteckt war, hatte das Gesicht etwas Bemerkenswertes mit seinen markanten Zügen, den von zu viel Arbeit ausgehöhlten Wangen, der gerunzelten Stirn und den tief liegenden Augen, die so groß, braun und flehend waren wie die eines Bluthunds.
Schon damals nahm Lawrence sich als autonome Einheit wahr. Irina hatte bald zu schätzen gelernt, dass Lawrence ein Mann mit Unternehmungsgeist war, der sich am eigenen Schopf aus der begüterten Entsprechung eines Trailerparks in die Welt der Eliteuniversitäten gezogen hatte. Was aber schon an jenem ersten Nachmittag ihr Mitgefühl erregt hatte, war die augenblickliche Erkenntnis, dass er völlig ausgehungert war – von seinem Gefühlsleben her glich er einem kleinen Jungen, der in der Wildnis von Schimpansen aufgezogen wurde und sich ausschließlich von Wurzeln und Beeren ernährt hatte. Dieser erste Eindruck hatte sie nie verlassen, der Eindruck des Flehens und der nackten Bedürftigkeit, einer unterschwelligen Verzweiflung, deren sich Lawrence nicht bewusst war. Selbst die Art und Weise, wie er mit frechem Grinsen gegen ihren Türrahmen lehnte, war einfach nur herzzerreißend. Und über die Jahre war ihr Mitleid sogar noch gewachsen.
Jetzt auf einmal – eine bittere Erkenntnis – war das Mitleid dahin. Sein Gesicht war ihr vertraut, und zwar über Gebühr – als wenn sie Lawrence neun Jahre lang kennengelernt hätte, um ihn dann, wumms, zu kennen. Sie hatte ihr Diplom in der Tasche. Es gab keine Überraschungen mehr – oder nur diese eine letzte Überraschung, dass es vorbei war mit den Überraschungen. Selbstquälerisch sah Irina weiter hin, sie sah Lawrence ins Gesicht, ähnlich wie man immer wieder den Schlüssel im Zündschloss dreht, bis man einsieht, dass die Batterie leer ist. Die kräftige, unnachgiebige Nase: nichts. Das jungenhaft zerzauste Haar: nichts. Der bittende, braunäugige Blick –
Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen.
»Na, wie sieht’s aus?«, fragte Lawrence und gab ihr ein pflichtschuldiges Küsschen. »Du sitzt doch nicht etwa einfach so da, ohne was zu lesen?«
Aber so war es. Nachdem sich ihr Kopf über Nacht in ein Heimkino verwandelt hatte, hatte sie keinerlei Bedürfnis nach einem Buch verspürt. Schon die Vorstellung, etwas so Anspruchsvolles wie eine Cornflakesschachtel zu lesen, war lächerlich.
»Hab nur ein bisschen nachgedacht«, sagte sie matt. »Und auf dich gewartet.«
»Wir haben kurz vor elf, stimmt’s?«, fragte er und drehte sich wieder zur Diele, um sein Gepäck ins Schlafzimmer zu tragen. »Gleich kommt die Late Review!«
Lawrences Stimme verklang sofort und hinterließ unbewegte Luft, als wenn die Akustik ihrer Wohnung außer Kraft gesetzt wäre. Irina bemühte sich, aufrecht zu sitzen, sackte aber immer wieder zurück in die Polster ihres Sessels. Sie hörte ihn im Schlafzimmer wuseln. Kaum angekommen, musste er natürlich sofort auspacken. Er mit seiner tyrannischen Ordnungswut.
Als er ins Wohnzimmer zurückgeschlurft kam, fiel Irina nichts ein, und sie war es nicht gewohnt, sich bei Lawrence etwas einfallen lassen zu müssen.
»Okay«, krächzte sie. Als wenn Ramsey sie mit seiner syknopischen Syntax angesteckt hätte, war Irina aus dem Takt, und ihre Antwort auf Lawrences Vorschlag hinkte mehrere Minuten hinterher.
»Was, okay?«
»Okay, lass uns die Late Review gucken.«
Ihre Worte hingen in der Luft. Irina sah diesen abgehackten Dialog als Aneinanderreihung von verschiedenen Schriftarten und Schriftgrößen vor sich, wie in einem kunterbunt aus Schlagzeilen ausgeschnittenen Erpresserbrief eines Entführers. Dass sie und Lawrence jemals ein vernünftiges Gespräch geführt hatten, schien ihr auf einmal unbegreiflich. Sie fragte sich, worüber sie sich früher unterhalten hatten.
»Wir haben noch zwanzig Minuten«, sagte er und fläzte sich aufs Sofa gegenüber. »Wie geht’s denn so? Gibt’s was Neues?«
»Och«, sagte sie, »eigentlich nichts, seit wir uns das letzte Mal gesprochen haben.« Siehe da, ihre erste Lüge. Irina hatte das mulmige Gefühl, dass es nicht ihre letzte sein würde.
»Warst du nicht mit Ramsey essen? Jetzt sag nicht, du hast dich gedrückt.«
»Ach ja, stimmt«, sagte sie dumpf. Dieses Spiel war nichts für sie. Schon hatte sie den ersten Fehler gemacht. Natürlich würde sie vom vergangenen Abend erzählen müssen. Doch schon bei Ramseys Namen begann sie am ganzen Körper zu beben.
»Und, wie war’s? Du hattest doch Angst, dass ihr euch nichts zu sagen haben würdet.«
»Es ging aber«, sagte sie. »Irgendwie.«
Lawrence wirkte bereits verärgert. »Ja und, worüber habt ihr euch unterhalten?«
»Ach, du weißt schon – Jude. Snooker.«
»Spielt er dieses Jahr beim Grand Prix? Ich hatte nämlich bereits überlegt, ob ich nicht hinfahre.«
»Keine Ahnung.«
»Ich frag mich, ob er in der Weltrangliste nicht schon zu weit unten ist und bei den Qualifikationsspielen überhaupt dabei war.«
»Ich weiß es wirklich nicht.«
»So viel könnt ihr ja dann nicht über Snooker geredet haben.«
»Nein«, sagte sie. »So viel nicht.« Es war, als wenn sie sich jedes Wort mit dem Gabelstapler aus dem Mund hieven müsste.
»Gab’s denn wenigstens ein paar gute Klatschgeschichten?«
Irina neigte den Kopf zur Seite. »Seit wann interessierst du dich für ›Klatschgeschichten‹?«
»Ich meinte Klatschgeschichten im Sinne von: Stimmt es, dass Ronnie O’Sullivan gerade freiwillig auf Entzug ist? Was ist denn mit dir los?«
»Tut mir leid«, sagte sie ernsthaft. Sie hatte sich ja nicht über Nacht in ein Monster verwandelt, und sie blickte ihren Partner traurig an. Unfassbar, dass er den Unterschied nicht schon in der Tür bemerkt hatte, wobei sie eine Spur nervös war, ob er nicht doch etwas ahnte. Da Lawrence die Hauptsache zu meiden pflegte wie der Teufel das Weihwasser, war der Umstand, dass er sich zu ihrer flauen Reaktion auf seine Rückkehr noch nicht geäußert hatte, allenfalls ein Warnsignal. Bislang erinnerte dieses Gespräch an einen Knastbesuch. Es war, als wenn sie durch eine dicke Glaswand getrennt wären und mit Telefonhörern in der Hand eine stockende Unterhaltung führten. Na ja, immerhin hatte Irina ja auch eine Art Straftat begangen und soeben eine womöglich sehr lange Haft angetreten. Kläglich fügte sie hinzu: »Ich habe dir eine Torte gebacken.«
»Ich hab im Flugzeug schon was gegessen … aber klar, warum nicht. Ein kleines Stück.«
»Willst du ein Bier dazu?«
»Ich hatte schon ein Heineken … Ach was soll’s, lass uns feiern.«
»Was denn?«
»Dass ich wieder da bin.« Er sah gekränkt aus. »Oder ist es dir noch nicht aufgefallen?«
»Tut mir leid«, sagte sie erneut. »Doch, natürlich. Deswegen ja die Torte. Zur Begrüßung.«
In der Küche stützte sie sich mit den Handflächen auf die Theke, ließ den Kopf hängen und holte tief Luft. Lawrence zu entrinnen tat gut, und sei es auch nur für wenige Augenblicke, doch vor der Erleichterung selbst gab es kein Entrinnen, und diese Erkenntnis schwächte sie.
Mit bleiernen Händen nahm Irina die Torte aus dem Kühlschrank. Sie war weniger als zwei Stunden in der Kühlung gewesen und noch nicht ganz erstarrt. Mit etwas Glück war das Ei in der Füllung gerade genug durchgebacken, um nach einem ganzen Tag auf der Küchentheke keine tödliche Gefahr zu bergen. Selbst hatte sie keinen Appetit. (Seit dem letzten Löffel Grüntee-Eis hatte sie nichts essen können. Nur ein Gläschen Cognac hatte sie gegen Mittag noch getrunken …) Ihr eigenes Tortenstück fiel so schmal aus, dass es umfiel. Lawrence – der ständig auf sein Gewicht achtete – bekam ein viel größeres Stück, als ihm lieb gewesen wäre. Fett und dümmlich saß der Tortenkeil auf dem Teller, die Füllung sabberte heraus. Ramsey brauchte kein Lob für sein Spiel, und Lawrence brauchte keine Torte.
Sie nahm ein helles Bier aus dem Kühlschrank und dachte bei offener Kühlschranktür nach. Normalerweise hätte sie sich ein Glas Wein eingeschenkt, aber der eisgekühlte Stolichnaya war allzu verlockend. Da sie sich die Zähne geputzt hatte,...
Erscheint lt. Verlag | 26.9.2014 |
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Übersetzer | Monika Schmalz |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Post-Birthday World |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Anna Gavalda • Anne Enright • Beziehung • Ehe • Ehekrise • Elizabeth Strout • Familie • Shriver |
ISBN-10 | 3-492-96981-X / 349296981X |
ISBN-13 | 978-3-492-96981-9 / 9783492969819 |
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