Kellerkind (eBook)

Roman
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2015 | 1. Auflage
416 Seiten
Blanvalet (Verlag)
978-3-641-14922-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kellerkind -  Nicole Neubauer
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Er sagt, er kann sich an nichts erinnern. Doch an seinen Händen klebt Blut ...
Die erfolgreiche Anwältin Rose Benninghoff liegt mit durchschnittener Kehle in ihrer Designerwohnung. Im Keller des Hauses kauert der vierzehnjährige Oliver Baptiste, sein Körper mit Blutergüssen übersät, seine Hände blutverschmiert. Er kann sich an nichts erinnern. In einem klirrend kalten Jahrhundertwinter nimmt der Münchner Hauptkommissar Waechter mit seinem Team die Jagd nach dem Mörder auf. Doch bald verschwimmen die Grenzen zwischen Tätern und Opfern immer mehr, und die Ermittler stoßen auf ein altes Verbrechen, das nie gesühnt wurde, und das seine Schatten bis in die Gegenwart wirft ...

Nicole Neubauer ist 1972 in Ingolstadt geboren und studierte englische Literaturwissenschaft und Jura in München und London. Nach zehn Jahren in einer Wirtschaftskanzlei arbeitet sie freiberuflich als Autorin, Rechtsanwältin und Lektorin. Sie ist Mitglied der »Mörderischen Schwestern e.V.« und der »Autorinnenvereinigung e.V.«.

Nicole Neubauer lebt mit ihrer Familie in München im Herzen Schwabings.

Tag 1. Neuschnee

Er fror. Die Kälte hatte ihn aufgeweckt, sie war in seinen Körper gekrochen und hatte die Schmerzen betäubt. Sie verarschte ihn. Sobald er sich bewegte, würden die Schmerzen wieder über ihn herfallen. Wie lange hatte er geschlafen?

Du hättest erfrieren können.

Die Kartons hatten nicht gereicht, um die Kälte abzuhalten, sein Körper war steif wie eine Leiche. Er richtete sich auf und stützte sich an der Wand ab, Putz bröckelte unter seinen Fingern und rieselte auf den Boden. Sein Kopf pulsierte, und die Schmerzen schossen zurück in seinen Körper, oder sie waren die ganze Zeit da gewesen, keine Ahnung, sie waren etwas, das nicht zu ihm gehörte. In Zeitlupentempo setzte er sich auf. Durch das Fenster unter der Decke drang fast kein Licht mehr, das Kellergitter teilte die Welt in Streifen. Blitzlichter schossen durch seinen Kopf, Bilder von splitternden Fingerknöcheln, Treppenstufen, Stimmen. Das Reptil in seinem Hirn stopfte die Erinnerungen weg. Das Reptil saß ganz hinten, im Nacken, die Stelle wurde warm, wenn es erwachte. Es wusste, dass er sich nicht erinnern durfte. Steh auf!, sagte das Reptil. Sein Körper gehorchte. Das Kellerabteil drehte sich, Magensäure schoss ihm in die Kehle. Er konnte sein linkes Bein bewegen, sein rechtes, seine linke Hand … Nur nicht die rechte Hand anschauen, scheiß auf die rechte Hand. Er musste hier raus, so schnell wie möglich, das war wichtiger. Geh!, sagte das Reptil. Er stieß die Tür des Kellergitters auf, tastete sich zur Treppe und schleppte sich Stufe für Stufe hinauf, ein verwundetes Tier ohne Geschichte. Das Reptil hatte das Kommando übernommen, es wusste, was zu tun war. Und dass er nicht nach hinten schauen durfte, nicht jetzt.

Finn ignorierte den Löffel voll Pastinakenbrei, der auf seinen Mund zuschwebte. Er legte den Kopf in den Nacken und krähte: »Bäh bäh omen.«

»Komm, Finn, das schmeckt dir doch sonst immer. Mund aaaaauf!«

Er lehnte sich mit einem Juchzer zurück. Der Pastinakenbrei flog in hohem Bogen durchs Esszimmer. »Bäh bäh. Doosse bäh bäh. Omen.«

Finns Mutter seufzte. Wenn sie nur ein Wort dessen verstehen würde, was er den ganzen Tag vor sich hin brabbelte. Er warf sich in seinem Hochstuhl vor und zurück, den Blick starr zur Zimmerdecke gerichtet. Seine Ärmchen ruderten. »Mama omen! Mama omen! Bäh bäh!«

Ein Tropfen dunkelroter Flüssigkeit platschte zwischen Finns Augen und rann die Wange hinunter. Sein Mund verzog sich zu einem zahnlosen Grinsen. Er quiekte.

Finns Mutter sah nach oben. Und dann quiekte auch sie, aber nicht vor Entzücken.

Hannes nahm zwei Stufen auf einmal. Die Treppe war mit einem fleckigen grünen Teppichläufer überzogen. Ein Spureninferno, an dem die Spurensicherung ihre Freude haben würde. Scheinwerfer warfen Schlaglichter ins Treppenhaus und ließen den Stuck lebendig werden. Im dritten Stock stand die Wohnungstür offen, drinnen war es taghell erleuchtet, weiß gekleidete Gestalten bewegten sich träge umher wie bei einer Mondlandung.

Auf dem Treppenabsatz kauerte Tumblinger von der Spurensicherung und puschelte am Türrahmen herum.

»Auch schon da?« Er drehte sich nach Hannes um, den Rußpulverpinsel in der Hand. »Waechter wollte schon eine Vermisstenanzeige aufgeben.«

»Ich war fast …« Gerade noch rechtzeitig, bevor er sich rechtfertigte, unterbrach sich Hannes. Er musste aufhören, sich für alles zu entschuldigen. Als wäre er immer am falschen Ort. Verdammt, er war Hauptkommissar.

Tumblinger musterte ihn. »Jedes Haar am Tatort kostet ein Tragl Bier.«

»Schon gut.« Hannes stopfte eine widerspenstige Strähne unter die Haube des Schutzanzugs. Seine Augen flimmerten immer noch von zwei Stunden Fahrt durch wirbelnden Neuschnee. Eine Wolke abgestandenen Zigarillorauchs verriet ihm, dass Waechter hier entlanggegangen sein musste. Der Geruch war Hannes vertraut, ein heimischer Hauch von Büro und die beruhigende Gewissheit, dass der Erste Hauptkommissar den Tatort schon im Griff hatte. Waechters Anruf hatte Hannes am Ende der Landstraße erreicht, kurz bevor er daheim angekommen war. Die Kinder hatten sich auf den Julmond gefreut, sie hatten mit den Fackeln in den Wald gehen wollen, Rasmus in seinen nagelneuen Moonboots, die kleine Lotta in der Kraxe auf dem Rücken, Punsch und Kakao im Gepäck. Jetzt waren sie ohne ihn unterwegs. Das Bild von Fackeln in der Abenddämmerung zerfloss vor Hannes’ innerem Auge und gab den Blick frei auf Waechter, der in seinem weißen Schutzanzug vor ihm stand wie ein großer, schlecht gelaunter Schneeball.

»Servus, Hannes.«

Hannes holte Luft, um sich zu entschuldigen. »Sorry, ich …«

Waechter hob die Hand. »Passt schon. Hauptsache, du bist da, der Rest ist mir wurscht.« Er drehte sich um und nickte in Richtung des Zimmers, aus dem der helle Lichtschein drang.

In der Tür blieb Hannes stehen und schlug sich die Hand vor den Mund. Der Blutgeruch war so durchdringend, dass es Tage dauern würde, um ihn wieder aus der Nase zu kriegen. Er ging neben Waechter in die Hocke, dessen Zigarillodunst war ein willkommener Segen. Sie knieten an einem Ufer. Am Ufer eines Sees.

Eines Sees aus Blut.

Von den Scheinwerfern ausgeleuchtet wie eine Theaterkulisse, lag der Körper vor ihnen auf dem Bauch. Nur eine Hälfte des Gesichts war zu erkennen. Ein Spurensicherer kauerte auf einem Stück Plane davor und klebte Zentimeter für Zentimeter Klebestreifen auf die beige Stoffhose der Toten. Auf seiner Stirn stand eine steile Falte. Rose Benninghoff oder das, was sie einmal gewesen war, trug Lidschatten und Lippenstift. Ihr Gesicht war von einem Netz feiner Fältchen überzogen, die im Licht scharf hervortraten. Ihr Haar glich auch im Tod noch einem perfekt geföhnten Helm. Unter ihrem Kinn klafften Kopf und Rumpf auseinander, nur noch vom Nacken zusammengehalten, dazwischen eine weit aufgerissene Wunde.

»Selbstmord können wir wohl ausschließen«, sagte Hannes.

»So weit sind wir schon seit einer halben Stunde, aber merci«, sagte Waechter, ohne den Blick von der Leiche zu heben.

Zwei Kollegen trugen Pappen herein, noch mehr Plane. Der Spurensicherer schaute zu ihnen auf. »Wir müssen sie jetzt umdrehen. Hilft ja eh nichts.«

Die Plane raschelte, und Hannes drehte sich weg. Sein Magen protestierte, er hatte kein Abendessen gekriegt. War auch besser so. Das würde sich auch nicht so schnell ändern. »Ist Die Chefin noch nicht da?« Hannes’ Blick scannte das Zimmer, aber von ihrem grauen Zopf keine Spur.

»Grippe.«

»Und wer vertritt sie?«

»Na, wer wohl. Der einzige Depp, der rechtzeitig zur Grippeimpfung gegangen ist.« Waechter klopfte sich auf die Brust. »Was kann ich dafür, wenn das halbe Kommissariat flachliegt? Blutskälte, verreckte.«

»Und Elli?«

»Geht nicht ans Telefon. Zum Tanzen wollte sie gehen.«

»Sauber.«

Als Hannes wieder hinschaute, lag die Leiche auf dem Rücken, den Kopf von ihnen weggedreht. Die Wunde leuchtete ihm entgegen. Er glaubte, die Ansätze der Schlagadern zu erkennen, den Kehlkopf, oder war das schon die Wirbelsäule? Welche Waffe verursachte eine derartige Wunde? Er blinzelte und versuchte, sich die Leiche als Menschen vorzustellen. Wenn die Toten fast unversehrt waren, wie schlafende Kinder, schaffte er es. Wenn aber ein Körper so zerstört war wie dieser hier, merkte er erst, wie weit weg der Mensch war. Fort. Da war keiner mehr.

Hoffentlich.

»Haben wir eine Tatwaffe?«, fragte er, um seine Gedanken vom Unsichtbaren auf das Handfeste zu lenken.

»Siehst du eine?«

Es war eine rhetorische Frage gewesen, trotzdem stand er auf und schaute sich in dem Zimmer um. Eine offene Wohnküche, die das Single-Apartment größer aussehen ließ, als es war. An der Decke kräuselte sich Stuck unter hundert Jahren Wandfarbe, das Scheinwerferlicht warf Schatten und Fratzen in die Vertiefungen. Zwischen den Dielen des Eichenparketts klafften Risse. Ein Altbau in der Münchner Prinzregentenstraße, unbezahlbar. Ein Spekulant würde töten für diese Wohnung, dachte Hannes und erschrak vor seinem eigenen Gedanken. Wenn die Bewohnerin keinen älteren Mietvertrag gehabt hatte, war Geld im Spiel. Sie würden der Spur des Geldes folgen müssen.

Er schritt über den von den Spurensicherern freigegebenen Pfad, der Holzboden gab bei jedem Schritt knarzend nach und ließ die Gläser in der Vitrine klirren. Auf der Theke zwischen Küche und Wohnbereich lag eine halb gelesene Süddeutsche, eine Lesebrille zusammengeklappt daneben. Rose Benninghoff hatte die Zeitung von vorn nach hinten gelesen, erst den Politikteil, dann das Feuilleton. Als Nächstes wäre der Wirtschaftsteil an die Reihe gekommen. Ein einzelnes Rotweinglas stand daneben, halb gefüllt, am Rand eingetrocknet. »Sie hat keinen Gast erwartet.«

»Trotzdem muss noch jemand hier gewesen sein«, sagte Waechter hinter ihm. »Wir wissen nur noch nicht, wer. Und warum.«

Ein Spurensicherer drehte sich um. »Hier drin gibt es Spuren wie am Hauptbahnhof.«

»Wie ist er reingekommen?« Hannes hatte sofort an einen Mann gedacht. Sich zu früh festgelegt, wie so oft. Sein innerer Zensor korrigierte: »Ich meine, er oder sie«, obwohl er das Schlachtfeld auf dem Boden nur schwer mit einer Täterin in Verbindung bringen konnte.

»Sie muss die zweite Person selber reingelassen haben. Es gibt keine Einbruchsspuren«, sagte Waechter.

»Wer hat sie...

Erscheint lt. Verlag 19.1.2015
Reihe/Serie Kommissar Waechter
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Schlagworte Amnesie • eBooks • Ermittler • Ermittlung • Gedächtnisverlust • Heimatkrimi • Kommissar • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Mörder • München • Psychothriller • Roman • spiegel bestseller • SPIEGEL-Bestseller • Spiegel-Online-Bestseller • Thriller • Verbrechen
ISBN-10 3-641-14922-3 / 3641149223
ISBN-13 978-3-641-14922-2 / 9783641149222
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