Wenn wir vom Fußball träumen (eBook)
256 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30844-0 (ISBN)
Christoph Biermann, geboren 1960 in Krefeld, lebt in Berlin und arbeitete für die taz, Stern, Die Zeit und war Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung und beim SPIEGEL. Seit 2010 beim Fußballmagazin 11Freunde, inzwischen als Reporter. Biermann gehört seit Jahren zu den profiliertesten Fußballjournalisten Deutschlands und hat zahlreiche Bücher zum Thema Fußball veröffentlicht. »Die Fußball-Matrix« und »Wenn wir vom Fußball träumen« wurden jeweils zum »Fußballbuch des Jahres« gewählt. Zuletzt erschien von ihm »Wir werden ewig leben« (KiWi 1813), 2020.
Christoph Biermann, geboren 1960 in Krefeld, lebt in Berlin und arbeitete für die taz, Stern, Die Zeit und war Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung und beim SPIEGEL. Seit 2010 beim Fußballmagazin 11Freunde, inzwischen als Reporter. Biermann gehört seit Jahren zu den profiliertesten Fußballjournalisten Deutschlands und hat zahlreiche Bücher zum Thema Fußball veröffentlicht. »Die Fußball-Matrix« und »Wenn wir vom Fußball träumen« wurden jeweils zum »Fußballbuch des Jahres« gewählt. Zuletzt erschien von ihm »Wir werden ewig leben« (KiWi 1813), 2020.
Der lange Weg nach Hause
Von Pjöngjang nach Herne (über Key West)
Als die Beerdigung meines Vaters vorüber war, fuhr ich ins Stadion. Ich nahm dazu seinen Wagen, einen in die Jahre gekommenen BMW, und fragte mich, ob wir damit eigentlich noch einmal zusammen zum Fußball gefahren waren. Wahrscheinlich nicht, denn schon länger hatte er meine Angebote ausgeschlagen, gemeinsam mit mir ein Spiel anzuschauen. Oder vielleicht hatte er gemerkt, dass meine Einladungen nicht mehr so richtig entschlossen waren. Denn insgeheim hatte ich das Gefühl, dass für ihn mit über 80 Jahren die Freuden eines Stadionbesuchs und die dazu nötigen Anstrengungen in keinem guten Verhältnis mehr standen.
Ich nahm durch Herne genau den Weg, den wir früher zusammen genommen hatten. Vorbei am ehemaligen Mädchengymnasium, an der Hauptschule, der Tankstelle, die es nicht mehr gibt, und dem Autohaus, das leer steht. Hinter der Bahnunterführung ging es nach links, am Bahnhof vorbei und am Bunker, wo früher Punkkonzerte stattgefunden hatten. Ich fuhr unter der Autobahn durch, ließ den Tennisplatz links liegen und parkte dann direkt vor den Kassenhäuschen.
An einem verregneten Wintertag vor fast vier Jahrzehnten hatten wir sein Auto, damals noch einen Opel Commodore (ich kann mich sogar noch an das Nummernschild erinnern, HER-P 236), auf dem unbefestigten Parkplatz gegenüber vom Stadion am Schloss Strünkede abgestellt, um uns ein Spiel von Westfalia anzuschauen. Als wir nach Hause wollten, drehten die Räder durch und der Wagen blieb im Matsch stecken. Mein Vater gab ungeduldig Gas, und die Reifen gruben sich noch tiefer ein, bis wir schließlich eine Fußmatte unterlegten und ihn so freibekamen. Oder hatte uns jemand mit einem Abschleppseil herausziehen müssen?
Komisch, dass mir das jetzt einfiel, denn das Wetter war heute schön. Der Himmel lag an diesem Wintertag so blau über dem Stadion und die Luft war so knackend frisch, dass man eher hätte glauben können, in den Alpen zu sein als im Ruhrgebiet. Die Stadiontore standen offen, niemand war zu sehen, und ich ging an den alten Umkleidekabinen vorbei. Die heutigen Kabinen sind in einem Flachbau gegenüber untergebracht, der nach Westfalias ehemaligem Nationaltorwart Hans Tilkowski benannt ist. Ich schaute in das Stadion, das so groß ist, dass man hier Bundesligaspiele austragen könnte. Dass ich wieder berührt von dem Ort war, hatte nicht nur mit meinem persönlichen Sentiment zu tun, ich mag die Offenheit des Stadions und dass man überall Bäume sieht.
Ich musste an Joachim Król denken. Schon auf der Fahrt hatte ich an ihn gedacht. Viele Jahre zuvor hatte er mir erzählt, wie auch er nach der Beerdigung seines Vaters hierhin gefahren war. Joachim Król, heute ein beliebter und erfolgreicher Schauspieler, kommt auch aus Herne und ist zur selben Schule gegangen wie ich. Auch er besuchte zusammen mit seinem Vater Spiele von Westfalia Herne. Und er hatte mir erzählt, wie auch er an dem Ort, wo die beiden sich am nächsten gewesen waren, von ihm Abschied genommen hatte. Es ging in seiner Geschichte um die schwierige Liebe zwischen Vätern und Söhnen, um die generellen Schwierigkeiten von Männern, über das zu sprechen, was sie bewegt. Es ging aber auch um den Niedergang des Ruhrgebiets und wie das alles im Fußball zusammenkommt.
Inzwischen war ich bei meinem Gang durch das Stadion auf der Haupttribüne angekommen, die im Frühjahr 1960 eilig fertiggestellt worden war, damit Westfalia die Endrundenspiele um die deutsche Meisterschaft nicht wieder in fremden Stadien austragen musste, wie im Jahr zuvor. Ich setzte mich dorthin, wo ich elf Jahre nach diesen größten Momenten der Vereinsgeschichte an der Seite meines Vaters zum ersten Mal in meinem Leben ein Fußballspiel im Stadion gesehen hatte. Nur dass es kein heroisches Spiel um die deutsche Meisterschaft mehr gewesen, sondern Westfalia schon damals tief gefallen war und wir einen tristen Kick in der Regionalliga West sahen, der zweithöchsten Spielklasse des Jahres 1971.
Ich fragte mich, ob wir schon an jenem Tag mit vertauschten Rollen ins Stadion gegangen waren. Dass nämlich nicht er mich zum Fußball mitnahm, sondern ich ihn. Dass nicht er mir den Zauber und die Tiefe des Spiels vermittelte, sondern unsere gemeinsamen Besuche ihn an etwas erinnerten, was er im Laufe der Jahre vor lauter Arbeit vergessen hatte. Mein Vater war in den Fünfzigerjahren mit Freunden oft zu Spielen der alten Oberliga West gegangen. Von Recklinghausen aus waren sie vor allem nach Erkenschwick und Marl-Hüls gefahren, zu Westfalia Herne oder zum SV Sodingen, den nächsten Vereinen also, aber auch nach Schalke, Dortmund oder Essen. Seine Freunde und er waren keine Fans eines Vereins, und mein Vater wurde das auch später nicht, als erst ich allein und bald auch mein drei Jahre jüngerer Bruder Claus ihn immer häufiger baten, mit uns ins Stadion zu gehen. Wir fragten ihn aus pragmatischen Gründen, weil er uns zu Auswärtsspielen fahren konnte und den Eintritt bezahlte. Er war durchaus zu begeistern, aber schnell verärgert, wenn das Spiel schlecht war. Sein Interesse war nicht besonders ernsthaft. Ich glaube, dass ihm am Fußball vor allem die Unvorhersehbarkeit gefiel und die verblüffenden Wendungen. Er wollte nicht unbedingt eine bestimmte Mannschaft siegen sehen, sondern rufen können: »Das gibt’s doch nicht!« Er war kein Fußballfan, er war, um es mit einem altmodischen Begriff zu sagen, ein Fußballfreund. Mein Bruder und ich hingegen wurden Fans, und vermutlich fuhr er vor allem deshalb mit uns in der Gegend herum, weil er Zeit mit uns verbringen wollte. Und weil Fußball das war, was uns am meisten verband.
Ich schaute entlang der Tribüne über die Holzbänke, die sich bedrohlich wellten, weil irgendwo hunderte Meter unter dem Stadion einer der vielen Tausend Stollen, der Wurmgänge des Goldenen Zeitalters der Kohle in meiner Heimatstadt, nicht richtig verfüllt worden und daher abgesackt war. Bergschaden. Das Vereinsemblem an der Rückwand der Tribüne blätterte ab, auch sonst war vieles nur ausgeflickt und der Rasen sichtbar holprig. Hier waren die guten Zeiten vorbei, aber für mich war dieser Ort dennoch nicht trostlos. Im Gegenteil.
Als Joachim Król mir damals seine Vater-Sohn-Westfalia-Geschichte erzählte, hatte er sich versprochen. Statt »Heimspiel« hatte er »Heimatspiel« gesagt, dann hatte er gelacht und gemeint, das sei ein guter Versprecher.
Das stimmt.
Eigentlich war ich hier, weil der Tod meines Vaters bei mir ein Gefühl der Heimatlosigkeit geweckt hatte. Er war in all den Jahren, in denen ich mich von meiner Heimatstadt räumlich und vielleicht auch innerlich immer weiter entfernt hatte, in Herne geblieben. Ich war zunächst ein paar Kilometer die Straße hoch nach Bochum gezogen, bis ich dort an einem Freitagabend wieder einen Möbelwagen mit meinen Sachen bepackte, diesmal, um nach Köln zu ziehen, während die Flutlichter des Ruhrstadions hinüberstrahlten. Wie fast alle, die zu Westfalia Herne gingen, hatte ich einen Zweitverein, der schon längst zu meinem Erstverein geworden war. An jenem Tag war ich zum ersten Mal nach 15 Jahren nicht bei einem Heimspiel des VfL Bochum gewesen, weil Freunde als Umzugshelfer sogar aus Hamburg gekommen waren. Es hätte sich nicht gehört, aber ich fand es trotzdem schlimm. Es war der 20. März 1992, und der VfL Bochum spielte 1:1 gegen Wattenscheid 09.
Ich bin kein großer Freund von Ortswechseln, und so blieb ich fast zwei Jahrzehnte in Köln, bis ich nach Berlin zog. Ich fühlte mich in Köln wohl und tue es in Berlin, doch als ich nach dem Tod meines Vaters im Scherz sagte, dass ich nun Waise sei, erschien es mir, als könnte ich nur in meiner alten Heimat Trost finden.
Ich war nach meinem Wegzug in den folgenden Jahrzehnten lediglich aus zwei Gründen ins Ruhrgebiet zurückgekehrt: um meine Familie und meine Freunde zu besuchen oder um zum Fußball zu gehen. Das aber häufig und oft aus beruflichen Gründen. So war ich dabei, als Borussia Dortmund 1992 zum ersten Mal in der Bundesliga die deutsche Meisterschaft gewann und als Schalke sich an einem Tag im Mai 2001 für viereinhalb Minuten als Meister fühlen durfte. Ich war dabei, als es der VfL Bochum unter Klaus Toppmöller in den UEFA-Cup schaffte und als Peter Neururer nach Europa tanzte. Ich war dabei, als Michael Tönnies für den MSV Duisburg drei Tore innerhalb von fünf Minuten gegen Oliver Kahn im Tor des Karlsruher SC schoss. Ich sah Samy Sané für Wattenscheid in der Bundesliga treffen und ließ mich im Niederrheinstadion in Oberhausen nass regnen.
Doch im Laufe der Jahre begann sich meine Perspektive zu verschieben. Der Fußball im Ruhrgebiet blieb mir zwar selbstverständlich, weil ich mitunter mehrmals in der Woche zu Interviews mit Spielern, Trainern oder Managern und den Spielen selbst anreiste. Aber das Ruhrgebiet änderte sich, und langsam verstand ich diese Veränderungen nicht mehr mit der gleichen Sicherheit, als würde ich dort noch leben. Die Vertrautheit des Nach-Hause-Kommens wurde immer mehr zur Illusion.
In meiner Trauer war ich an einen besonders vertrauten Ort gegangen, der mich tatsächlich tröstete, einfach weil er mich auf besondere Weise an den Mann erinnerte, dessen Verlust ich beklagte. Aber zugleich wunderte ich mich über mich und dass ich nun hier im Stadion Abschied nahm. Obwohl Fußball schon seit fast 30 Jahren mein Beruf war und ich wusste, welch starke Gefühle das Spiel begleiten, hatte ich die Kraftströme des Fußballs in diesem Moment doch unterschätzt. Seltsam.
In den folgenden Wochen und Monaten der Trauer musste ich häufiger an diese Fahrt ins Stadion...
Erscheint lt. Verlag | 10.9.2014 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Bundesliga • Christoph Biermann • Die Fußball-Matrix • Fast alles über 50 Jahre Bundesliga • Fever Pitch • Fußball • Fußball EM 2016 • Fußball EM 2020 • Journalismus • Kultur • Ruhrgebiet • Ruhrpott • Weltmeisterschaft • Wir werden ewig leben |
ISBN-10 | 3-462-30844-0 / 3462308440 |
ISBN-13 | 978-3-462-30844-0 / 9783462308440 |
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