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Die letzte Welt (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2014 | 1. Auflage
288 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-403205-4 (ISBN)
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Christoph Ransmayrs großer Roman ist ein Klassiker der deutschen Gegenwartsliteratur. ?Die letzte Welt? ist ein phantastisches Spiel um die Suche nach dem verschollenen römischen Dichter Ovid und einer Abschrift seines Hauptwerks, der legendären ?Metamorphosen?. Als Christoph Ransmayrs Roman ?Die letzte Welt? 1988 erschien, wurde er von der Kritik gefeiert wie kaum ein anderer - wegen seiner poetischen, rhythmischen Sprache, wegen seiner stilistischen Eleganz, auch wegen seiner bildmächtigen Traum- und Albtraumwelten. Er wurde bisher in 29 Sprachen übersetzt. In diesem Roman ist die Verbannung des römischen Dichters Ovid durch Kaiser Augustus im Jahre 8 n. Chr. der historisch fixierte Ausgangspunkt einer phantasievollen Fiktion. Der Römer Cotta, sein - durch Ovids ?Briefe aus der Verbannung? - ebenfalls historisch belegter Freund, macht sich in Tomi am Schwarzen Meer auf die Suche: nach dem Verbannten, denn in Rom geht das Gerücht von seinem Tod, als auch nach einer Abschrift der ?Metamorphosen?, dem legendären Hauptwerk Ovids. Cotta trifft in der »eisernen grauen Stadt« Tomi jedoch nur auf Spuren seines Freundes, Ovid selbst begegnet er nicht. Er findet dessen verfallenes Haus im Gebirge, den greisen Diener Pythagoras und, je komplizierter und aussichtsloser sich die Suche gestaltet, immer rätselhaftere Zeichen der ?Metamorphosen? - in Bildern, Figuren, wunderbaren Begebenheiten. Bis sich zuletzt Cotta selbst in der geheimnisvoll unwirklichen Welt der Verwandlungen zu verlieren scheint: die Auflösung dieser »letzten Welt« ist wieder zu Literatur geworden.

Christoph Ransmayr wurde 1954 in Wels/Oberösterreich geboren und lebt nach Jahren in Irland und auf Reisen wieder in Wien. Neben seinen Romanen »Die Schrecken des Eises und der Finsternis«, »Die letzte Welt«, »Morbus Kitahara«, »Der fliegende Berg«, »Cox oder Der Lauf der Zeit«, »Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten« und dem »Atlas eines ängstlichen Mannes« erscheinen Spielformen des Erzählens, darunter »Damen & Herren unter Wasser«, »Geständnisse eines Touristen«, »Der Wolfsjäger« (gemeinsam mit Martin Pollack) und »Arznei gegen die Sterblichkeit«. 2022 erschien die Sammlung von Gedichten und Balladen »Unter einem Zuckerhimmel« (illustriert von Anselm Kiefer), 2024 der Erzählband »Als ich noch unsterblich war« sowie der Band »Egal wohin, Baby« mit Fotografien des Autors. Zum Werk Christoph Ransmayrs erschien der Band »Bericht am Feuer«. Für seine Bücher, die in mehr als dreißig Sprachen übersetzt wurden, erhielt er zahlreiche literarische Auszeichnungen, unter anderem die nach Friedrich Hölderlin, Franz Kafka, Bertolt Brecht und Heinrich von Kleist benannten Literaturpreise, den Premio Mondello und, gemeinsam mit Salman Rushdie, den Prix Aristeion der Europäischen Union, den Prix du meilleur livre étranger und den Prix Jean Monnet de Littérature Européenne, zuletzt im Jahr 2023 den südkoreanischen Park-Kyung-ni-Preis. Literaturpreise: Anton-Wildgans Preis der österreichischen Industrie (1989), Großer Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (1992), Franz-Kafka-Preis (1995), Franz-Nabl-Preis der Stadt Graz (1996), Aristeion-Preis der Europäischen Union (1996, gemeinsam mit Salman Rushdie), Solothurner Literaturpreis (1997), Premio Letterario Internazionale Mondello (1997), Landeskulturpreis für Literatur des Bundeslandes Oberösterreich (1997), Friedrich Hölderlin Preis der Stadt Bad Homburg (1998), Nestroy-Preis (Bestes Stück - Autorenpreis) für »Die Unsichtbare« (2001), Bertolt-Brecht-Literaturpreis der Stadt Augsburg (2004), Heinrich-Böll-Preis (2007), Premio Itas (2009), Premio La voce dei lettori (2009), Premio Gambrinus (2010), Ernst-Toller-Preis (2013), Brüder-Grimm-Preis der Stadt Hanau (2013), Franz-Josef-Altenburg-Preis (2014), Donauland Sachbuchpreis (2014), Fontane-Preis für Literatur (2014), Prix Jean Monnet de Littératures Européennes (2015), Prix du Meilleur livre étranger (2015), Marieluise-Fleißer-Preis (2017), Würth-Preis für Europäische Literatur (2018), Kleist-Preis (2018), Nominierung für den Man Booker International Prize (2018), Ehrenpreis des Bayerischen Ministerpräsidenten (2018), Ludwig-Börne-Preis (2020), Premio Navicella d'Oro der Società Geografica Italiana (2023), Park-Kyung-ni-Literaturpreis (2023)

Christoph Ransmayr wurde 1954 in Wels/Oberösterreich geboren und lebt nach Jahren in Irland und auf Reisen wieder in Wien. Neben seinen Romanen »Die Schrecken des Eises und der Finsternis«, »Die letzte Welt«, »Morbus Kitahara«, »Der fliegende Berg«, »Cox oder Der Lauf der Zeit«, »Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten« und dem »Atlas eines ängstlichen Mannes« erscheinen Spielformen des Erzählens, darunter »Damen & Herren unter Wasser«, »Geständnisse eines Touristen«, »Der Wolfsjäger« (gemeinsam mit Martin Pollack) und »Arznei gegen die Sterblichkeit«. 2022 erschien die Sammlung von Gedichten und Balladen »Unter einem Zuckerhimmel« (illustriert von Anselm Kiefer), 2024 der Erzählband »Als ich noch unsterblich war« sowie der Band »Egal wohin, Baby« mit Fotografien des Autors. Zum Werk Christoph Ransmayrs erschien der Band »Bericht am Feuer«. Für seine Bücher, die in mehr als dreißig Sprachen übersetzt wurden, erhielt er zahlreiche literarische Auszeichnungen, unter anderem die nach Friedrich Hölderlin, Franz Kafka, Bertolt Brecht und Heinrich von Kleist benannten Literaturpreise, den Premio Mondello und, gemeinsam mit Salman Rushdie, den Prix Aristeion der Europäischen Union, den Prix du meilleur livre étranger und den Prix Jean Monnet de Littérature Européenne, zuletzt im Jahr 2023 den südkoreanischen Park-Kyung-ni-Preis. Literaturpreise: Anton-Wildgans Preis der österreichischen Industrie (1989), Großer Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (1992), Franz-Kafka-Preis (1995), Franz-Nabl-Preis der Stadt Graz (1996), Aristeion-Preis der Europäischen Union (1996, gemeinsam mit Salman Rushdie), Solothurner Literaturpreis (1997), Premio Letterario Internazionale Mondello (1997), Landeskulturpreis für Literatur des Bundeslandes Oberösterreich (1997), Friedrich Hölderlin Preis der Stadt Bad Homburg (1998), Nestroy-Preis (Bestes Stück - Autorenpreis) für »Die Unsichtbare« (2001), Bertolt-Brecht-Literaturpreis der Stadt Augsburg (2004), Heinrich-Böll-Preis (2007), Premio Itas (2009), Premio La voce dei lettori (2009), Premio Gambrinus (2010), Ernst-Toller-Preis (2013), Brüder-Grimm-Preis der Stadt Hanau (2013), Franz-Josef-Altenburg-Preis (2014), Donauland Sachbuchpreis (2014), Fontane-Preis für Literatur (2014), Prix Jean Monnet de Littératures Européennes (2015), Prix du Meilleur livre étranger (2015), Marieluise-Fleißer-Preis (2017), Würth-Preis für Europäische Literatur (2018), Kleist-Preis (2018), Nominierung für den Man Booker International Prize (2018), Ehrenpreis des Bayerischen Ministerpräsidenten (2018), Ludwig-Börne-Preis (2020), Premio Navicella d'Oro der Società Geografica Italiana (2023), Park-Kyung-ni-Literaturpreis (2023) Anita Albus, geboren 1942, lebte als Malerin und Schriftstellerin in München. Berühmt wurde sie vor allem durch ihre augentäuschenden Naturdarstellungen, die vielfach ausgestellt wurden. Zugleich mit der Malerei hat sich Anita Albus der Literatur gewidmet, einen Roman und Erzählungen geschrieben und Essays verfasst. Ausgezeichnet wurde sie u.a. mit dem Bayerischen Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst (2014) und dem Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay (2004). Bei S. FISCHER erschienen u.a. die Bücher »Von seltenen Vögeln« (2005), »Das botanische Schauspiel« (2007), »Im Licht der Finsternis. Über Proust« (2011), »Sonnenfalter und Mondmotten« (2019) und »Affentheater« (2022). Anita Albus verstarb im Oktober 2024 in München.   Literaturpreise: Bayerischen Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst (2014) Bundesverdienstkreuz für ihre Verdienste als Repräsentantin der deutschen Kultur in Frankreich (2011) Friedrich-Märker-Preis für Essayistik (2002) Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay (2004)

Ein Orkan, das war ein Vogelschwarm hoch oben in der Nacht; ein weißer Schwarm, der rauschend näher kam und plötzlich nur noch die Krone einer ungeheuren Welle war, die auf das Schiff zusprang. Ein Orkan, das war das Schreien und das Weinen im Dunkel unter Deck und der saure Gestank des Erbrochenen. Das war ein Hund, der in den Sturzseen toll wurde und einem Matrosen die Sehnen zerriß. Über der Wunde schloß sich die Gischt. Ein Orkan, das war die Reise nach Tomi.

Obwohl er auch tagsüber und an so vielen, immer entlegeneren Orten des Schiffes aus seinem Elend in die Bewußtlosigkeit oder wenigstens in einen Traum zu flüchten versuchte, fand Cotta auf dem Ägäischen und dann auch auf dem Schwarzen Meer keinen Schlaf. Wann immer seine Erschöpfung ihn hoffen ließ, drückte er sich Wachs in die Ohren, band sich einen blauen Wollschal vor die Augen, sank zurück und zählte seine Atemzüge. Aber die Dünung hob ihn, hob das Schiff, hob die ganze Welt hoch über den salzigen Schaum der Route hinaus, hielt alles einen Herzschlag lang in der Schwebe und ließ dann die Welt, das Schiff und den Erschöpften wieder zurückfallen in ein Wellental, in die Wachheit und die Angst. Niemand schlief.

Siebzehn Tage mußte Cotta an Bord der Trivia überstehen. Als er den Schoner an einem Aprilmorgen endlich verließ und sich auf der von Brechern blank gespülten Mole den Mauern von Tomi zuwandte, moosbewachsenen Mauern am Fuß der Steilküste, schwankte er so sehr, daß zwei Seeleute ihn lachend stützten und dann vor der Hafenmeisterei auf einem Haufen zerschlissenen Tauwerks zurückließen. Dort lag Cotta in einem Geruch nach Fisch und Teer und versuchte das Meer zu besänftigen, das in seinem Inneren immer noch tobte. Über die Mole kollerten verschimmelte Orangen aus der Ladung der Trivia – Erinnerungen an die Gärten Italiens. Es war kalt; ein Morgen ohne Sonne. Träge rollte das Schwarze Meer gegen das Kap von Tomi, brach sich an den Riffen oder schlug hallend gegen Felswände, die jäh aus dem Wasser ragten. In manchen Buchten warfen die Brecher von Schutt und Vogelkot bedeckte Eisschollen an den Strand. Cotta lag und starrte und rührte keine Hand, als ein dürres Maultier an seinem Mantel zu fressen begann. Als die See in seinem Inneren flacher wurde, Woge für Woge, schlief er ein. Nun war er angekommen.

Tomi, das Kaff. Tomi, das Irgendwo. Tomi, die eiserne Stadt. Mit Ausnahme eines Seilers, der dem Fremden ein unheizbares, mit grellfarbigen Wandteppichen ausgestattetes Zimmer im Dachgeschoß seines Hauses vermietete, nahm hier kaum jemand von der Ankunft Cottas Notiz. Erst allmählich und ohne die üblichen Ausschmückungen begann dem Fremden ein Gerede zu folgen, das zu anderen Zeiten vielleicht Anlaß zu feindseligen Gesten gegeben hätte: Der Fremde, der dort unter den Arkaden stand und fror; der Fremde, der an der rostzerfressenen Bushaltestelle den Fahrplan abschrieb und auf kläffende Hunde mit einer unverständlichen Geduld einsprach, – dieser Fremde kam aus Rom. Aber Rom war in diesen Tagen ferner als sonst. Denn in Tomi hatte man sich von der Welt abgewandt, um das Ende eines zweijährigen Winters zu feiern. Die Gassen waren laut vom Getöse der Blechmusik und die Nächte vom Geplärr der Festgäste – Bauern, Bernsteinsucher und Schweinehirten, die aus den verstreuten Gehöften und den entlegensten Hochtälern des Gebirges gekommen waren. Der Seiler, der auch an Frosttagen barfuß war und seine grauen Füße nur zu besonderen Anlässen in Schuhe tat, in denen er dann knarrend durch die Stille seines Hauses ging, er trug in diesen Tagen Schuhe. In den dunklen, schiefergedeckten Höfen zwischen den Terrassenfeldern vor der Stadt wurde süßes Brot mit Safran und Vanille gebacken. Über die Saumpfade der Steilküste zogen Prozessionen. Schneeschmelze. Zum erstenmal seit zwei Jahren waren die Geröllhalden, die zwischen Felsrücken, Schroffen und Graten aus den Wolken herabflossen, ohne Schnee.

Von den neunzig Häusern der Stadt standen damals schon viele leer; sie verfielen und verschwanden unter Kletterpflanzen und Moos. Ganze Häuserzeilen schienen allmählich wieder an das Küstengebirge zurückzufallen. Und doch zog durch die steilen Gassen immer noch der Rauch aus den Öfen der Erzkocher, die der Stadt ein minderes Eisen bescherten – das einzige, woran hier niemals Mangel geherrscht hatte.

Aus Eisen waren die Türen, aus Eisen die Fensterläden, die Einfriedungen, die Giebelfiguren und schmalen Stege, die über jenen Sturzbach führten, der Tomi in zwei ungleiche Hälften teilte. Und an allem fraß der salzige Wind, fraß der Rost. Der Rost war die Farbe der Stadt.

In den Häusern mühten sich früh alternde, stets dunkel gekleidete Frauen ab und in den Stollen hoch über den Dächern, hoch in den Abhängen, staubige, erschöpfte Männer. Wer hier zum Fischen hinausfuhr, der fluchte auf das leere Wasser, und wer ein Feld bestellte, auf das Ungeziefer, den Frost und die Steine. Wer in den Nächten wachlag, glaubte manchmal Wölfe zu hören. Tomi war so öde, so alt und ohne Hoffnung wie hundert andere Küstenstädte auch, und es erschien Cotta seltsam, daß an diesem vom Meer und vom Gebirge gleichermaßen bedrängten Ort, der so sehr in seinen Bräuchen, den Plagen der Kälte, der Armut und schweren Arbeit gefangen war, überhaupt etwas geschehen konnte, worüber man in den entrückten Salons und Cafés der europäischen Metropolen sprach.

Jenes Gerücht aus der eisernen Stadt, dem er dann so lange gefolgt war und dem gewiß noch andere folgen würden, hatte Cotta auf der Glasveranda eines Hauses an der römischen Via Anastasio erreicht; ein Geplauder zwischen Begonien und Oleander. Die Bilder aus Tomi, Bilder von raucherfüllten Gassen, überwucherten Ruinen und Eisstößen, waren an jenem Winterabend gerade gut genug gewesen, um eine Neuigkeit zu verbrämen, die ohne diesen Schmuck wohl zu dürr und unbewiesen geklungen hätte. Das Gerücht hatte sich dann ausgebreitet wie das Rinnsal auf der abfallenden Straße zur Mole, hatte sich verzweigt, war da und dort rascher und vielgliedriger geworden, anderswo zum Stillstand gekommen und versiegt, wo man solche Namen nicht kannte: Tomi, Naso oder Trachila.

So war dieses Gerücht verwandelt, weiter ausgeschmückt oder abgeschwächt und manchmal sogar widerlegt worden und war doch immer nur der Kokon für einen einzigen Satz geblieben, den es in sich barg wie eine Larve, von der niemand wußte, was aus ihr noch hervorkriechen würde. Der Satz hieß, Naso ist tot.

Die ersten Antworten, die Cotta in Tomi bekam, waren wirr und oft nur Erinnerungen an alles, was hier jemals seltsam und fremd gewesen war. Naso …? War das nicht der Verrückte, der gelegentlich mit einem Strauß Angelruten auftauchte und selbst bei Schneegestöber noch in einem Leinenanzug auf den Felsen saß? Und am Abend trank er in den Kellern, spielte Harmonika und schrie in der Nacht.

Naso … Das war doch der Liliputaner, der im August in einem Planwagen in die Stadt kam und nach Einbruch der Dunkelheit über die weiße Rückwand des Schlachthauses Liebesfilme dröhnen ließ. Zwischen den Vorstellungen verkaufte er Emailgeschirr, blutstillenden Alaunstein und türkischen Honig, und zur Musik aus seinen Lautsprechern heulten die Hunde.

Naso. Erst in der zweiten Woche nach seiner Ankunft stieß Cotta auf Erinnerungen, die er wiedererkannte. Tereus, der Schlachter, der selbst die Stiere überbrüllte, wenn er ihnen eine lederne Blende vor die Augen band und ihnen so den letzten Blick auf die Welt nahm; und Fama, die Witwe eines Kolonialwarenhändlers – sie nagelte an die Regale ihres Ladens stets Girlanden aus Brennesseln, um ihren halbwüchsigen, fallsüchtigen Sohn daran zu hindern, nach rot verpackten Seifen, Konservenpyramiden und Senfgläsern zu greifen. Wenn sich der Fallsüchtige die Finger an diesen Girlanden verbrannte, schrie er so gellend, daß man in den Nachbarhäusern die Fensterläden klirrend zuschlug … Tereus, Fama oder auch Arachne, eine taubstumme Weberin, die dem Fremden alle Fragen vom Mund las und dazu den Kopf schüttelte oder nickte – sie erinnerten sich wohl, daß Naso der Römer war, der Verbannte, der Dichter, der mit seinem griechischen Knecht in Trachila hauste, einem aufgegebenen Weiler vier oder fünf Gehstunden nördlich der Stadt. Publius Ovidius Naso, haspelte der Fallsüchtige den von seiner Mutter bedeutsam ausgesprochenen Namen einige Male nach, als Cotta an einem Regentag im Halbdunkel von Famas Laden stand.

Gewiß, Naso, der Römer. Ob er noch lebte? Wo der begraben war? Ach, gab es denn nun auch ein Gesetz, das einen zwang, sich um einen Römer zu kümmern, der in Trachila verkam? Ein Gesetz, nach dem man Rede und Antwort stehen mußte, wenn ein Fremder nach dem Verbleib eines anderen fragte? Wer an dieser Küste lebte, der lebte und starb im Verborgenen unter den Steinen wie eine Assel. Was Cotta schließlich erfuhr, war nicht viel mehr, als daß man am Ende der Welt nicht gerne mit einem sprach, der aus Rom kam. Auch Lycaon, der Seiler, blieb schweigsam. In einem Brief, der die Via Anastasio Monate später erreichte, stand: Man mißtraut mir.

An einem der letzten Apriltage machte sich Cotta auf den Weg nach Trachila. Auf einem von Muscheln übersäten, unter jedem Schritt klingenden Strand kreuzte er eine Prozession, die einen Allmächtigen, dessen Namen er nicht kannte, um fruchtbare Felder anrief, um Fischschwärme, Erzadern und eine ruhige See. Die Prozession zog ihn ein Stück mit sich fort; einige der Andächtigen erkannte er auch unter der Aschenmaske, die ihre Gesichtszüge entstellte. Der Seiler war unter ihnen. Dann wandte sich Cotta ab und stieg auf einem von Wermut und Schlehdorn gesäumten Serpentinenpfad durch die Halden. Als er hoch im...

Erscheint lt. Verlag 25.9.2014
Illustrationen Anita Albus
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abgeschiedenheit • Albtraumwelten • Anspruchsvolle Literatur • Augustus • Augustus Imperator • Cotta • Fiktion • Klassiker der deutschen Gegenwartsliteratur • Metamorphosen • Ovid • Postmoderne • Rom • Römisches Reich • Schwarzes Meer • Tomi • Traumwelten
ISBN-10 3-10-403205-X / 310403205X
ISBN-13 978-3-10-403205-4 / 9783104032054
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