Hörst du den Tod? (eBook)
253 Seiten
Verlag Friedrich Oetinger
978-3-86274-310-0 (ISBN)
Andreas Götz, geboren 1965, studierte Germanistik und arbeitet als freier Autor von Hörspielen für mehrere Rundfunkanstalten, als Journalist und Übersetzer. 'Stirb leise, mein Engel' ist sein erster Jugendroman.
Andreas Götz, geboren 1965, studierte Germanistik und arbeitet als freier Autor von Hörspielen für mehrere Rundfunkanstalten, als Journalist und Übersetzer. "Stirb leise, mein Engel" ist sein erster Jugendroman.
Noch 18 Tage
09:15 Uhr
Es war schwer, nicht den Verstand zu verlieren. Nicht in Panik zu geraten. Nicht auszurasten. Vor allem, da sie nicht einmal wusste, wie lange sie schon hier war, in diesem Gefängnis, in das nichts von außen herein-, und nichts von drinnen hinausdrang. Die Lampen in den Ecken erloschen nie, so wenig wie die Webcam an dem Laptop, durch die er sie beobachtete. Und durch die sie sich auf dem Display selbst zusah, wie durch seine Augen.
Was sah sie?
Eine Frau in einem Designerkostüm, mit einer Kette an den Füßen und einem Stromkabel am Körper. Zum Sitzen und Liegen hatte sie eine muffige alte Matratze. Hinter ihr stand eine chemische Toilette. Sie wollte lieber nicht daran denken, dass er sie auch beobachten konnte, wenn sie sie benutzte. Er kam nie herein, wenn sie wach war. Nur wenn sie schlief. Dann stellte er etwas zu essen und zu trinken hin, meist Sandwiches auf Papptellern und Wasser in Plastikflaschen, oder er räumte den Abfall weg.
Sie wusste nicht, ob er auch noch andere Dinge tat. Mit ihr. An ihr. Sie glaubte es nicht. Trotzdem checkte sie jedes Mal, ob etwas an ihr anders war: der Rock über die Knie geschoben, die Bluse aufgeknöpft, die Unterwäsche verrutscht. Es war nie etwas festzustellen. Und doch wurde sie das Gefühl nicht los, dass in der Zeit, in der sie geschlafen hatte, etwas mit ihr geschehen war.
Er wird mich nicht töten. Das sagte sie sich immer wieder. Er wird mich nicht töten. Es war ihr Mantra.
Was ließ sie das glauben?
Dass er sich nicht blicken ließ. Dass er seine Stimme verzerrte.
Oder tat er das nur, weil er wollte, dass sie hoffte? Weil Hoffnung sie gefügig machte?
Nein. Das wollte sie nicht denken.
Er würde sie nicht töten. Er würde sie nicht töten.
Aber irgendetwas würde er tun.
Irgendetwas.
16:25 Uhr
Lucy war froh, dass die Probe vorbei war und sie endlich aus diesen blöden Klamotten rauskonnte. Minirock, Push-up-BH, enges, bauchfreies Top, Plateauschuhe – das war nicht ihr Ding. Dauernd verrutschte irgendwas oder kniff einen an allen möglichen Stellen. Und von wegen Kostümprobe! Spießrutenlauf hätte es besser getroffen. Bei dem Aufzug hätte sie gleich splitternackt auftreten können. Wie sie alle angestarrt hatten. Hatten ein paar Mädchen nicht sogar gekichert?
Solange es nur ums Singen gegangen war, war sie total entspannt gewesen. Aber das? Obwohl man es sich ja hätte denken können, wenn die doofe Zimmermann Regie führte. Die trug ja selbst dauernd so knappes Zeug und machte damit die ganz Schule kirre, einschließlich des Lehrerzimmers. Wieso hatte sie sich bloß überreden lassen, die Hauptrolle zu übernehmen? Die Nebenrolle des schüchternen Mauerblümchens im knielangen Rock und mit dem rosa Blüschen war doch wie für sie geschrieben.
»Du warst super!«
Linus’ Augen glänzten, als er ihr das vom Keyboard aus zurief, kaum dass sie hinter der Bühne hervorgetreten war. Dann verabschiedete er sich eilig von den anderen Musikern und kam zu ihr.
»Ich will bloß noch weg hier«, sagte sie sofort.
»Was hast du denn? Du siehst klasse aus in dem Outfit. Alle waren total begeistert.«
»Ha-ha.«
»Nee, im Ernst. Ich schwör!«
Vielleicht hatte er ja recht. Aber sie wollte trotzdem nicht so angesehen werden, wie sie angesehen worden war. Auch von ihm nicht.
»Gehen wir. Bevor die Zimmermann mir rät, ich soll das in meinen Alltag einbauen.«
Das war ihr üblicher Spruch, wenn sie einem einen Rat gab: Du solltest das in deinen Alltag einbauen.
Linus zwinkerte. »Vielleicht solltest du das ja wirklich.«
»Jungs!« Sie rollte mit den Augen und ging los.
Kaum hatte sie vor der Mehrzweckhalle ihr Handy eingeschaltet, klingelte es schon. Dieter, stand im Display.
»Amor«, sagte sie in Richtung Linus und nahm ab. »Ich hasse dich!« Das galt Dieter.
Der lachte sein kehliges Lachen in ihr Ohr. »Wie ist es denn gelaufen, in Kostümen?«
»Alles super!«, rief Linus von der Seite.
Sie drehte sich von ihm weg. »Von wegen alles super! Alle haben mich angegafft, als wäre mir die Hose geplatzt. Ich komme mir in dem Outfit total bescheuert vor. Wieso hast du mich bloß dazu gebracht, mich für diese Rolle zu bewerben?«
»Deal ist Deal. Du bringst wenigstens ein bisschen Glanz in die albernen Songs. Und ich bin sicher, dass du alle umgehauen hast.«
Ein blöder Deal war das! Sie wünschte, sie und Linus hätten ihren Klavierlehrer nie zur musikalischen Leitung dieses bescheuerten Musicals überredet. Wieso leitete die Zimmermann überhaupt die Theater-AG, wenn sie keine Ahnung von Musik hatte? Und wieso fand sich an zwei Schulen nicht wenigstens ein Musiklehrer, der den musikalischen Part übernahm? Wurden die nicht für so was bezahlt?
Sie hätte nicht vermutet, dass der feine Dieter so hinterhältig sein konnte. Bloß weil er sich opferte, wollte er sie auch leiden sehen. Dabei hätte er einfach Nein sagen können, wenn er diese Art Musik so schrecklich fand.
»Wo warst du heute eigentlich? Wir haben dich vermisst.«
»Ihr seid nicht mein einziges Projekt. Aber beim nächsten Mal bin ich wieder dabei. Versprochen. Ich muss aufhören. Grüß mir Linus.«
Er legte auf. Sie drehte sich zu Linus um. »Wusstest du, dass wir ein Projekt von Dieter sind?«, fragte sie scherzhaft, während sie das Handy einsteckte.
»Klar.« Er imitierte Dieters Stimme, seinen Singsang und den winzigen österreichischen Akzent: »Ihr sollt die Welt eines Tages mit lauter kleinen Mozarts und Beethovens beglücken. Nur deshalb habe ich euch verkuppelt.«
Sie schüttelte den Kopf, konnte sich ein Lächeln aber nicht verkneifen.
»Apropos Projekt«, sagte Linus da. »Ich würde dich nachher gerne meinem Vater vorstellen. Und später natürlich auch meiner Mutter, wenn sie wieder da ist. Keine Sorge, sie werden dich mögen.«
Ihr Lächeln versteinerte. Wie kam er plötzlich auf die Idee? Sie hatten noch kein einziges Mal über so was gesprochen.
»Ich mag deinen kleinen Platz unter der Brücke, wirklich«, schob er eilig nach. »Ist total romantisch und so. Aber bei mir könnten wir abhängen, Musik hören, fernsehen. Wenn mein Vater dich erst kennt, kannst du kommen und gehen, wie du willst. Er ist total entspannt.«
Das beruhigte sie kein bisschen. Seit sie das Haus seiner Mutter gesehen hatte, wusste sie, mit wem sie es bei seiner Familie zu tun hatte: mit feinen, gebildeten Leuten. Wie passte sie da rein? Bestimmt wimmelte es nur so von ungeschriebenen Regeln, von denen sie noch nie etwas gehört hatte, und von Fettnäpfchen, die sie überhaupt nicht bemerkte. Sie würde in eines nach dem anderen hineintapsen, und dann würden alle die Nase über sie rümpfen, über Lucy, den Tölpel.
Vielleicht auch Linus.
»Ich weiß nicht …«
Er zupfte an ihrem Ärmel. »Ach komm, Süße. Bitte. Immerhin kenne ich schon die Hälfte deiner Familie.«
Klasse! An die Begegnungen mit ihren Brüdern erinnert zu werden, machte die Entscheidung kein bisschen leichter. Ganz im Gegenteil.
17:09 Uhr
Linus’ erster Blick galt dem Briefkasten. Nichts ragte aus dem Schlitz. Also schon geleert. »Wir sagen einfach nur kurz Hallo. Alles total entspannt«, sagte er zu Lucy, die den ganzen Weg über sehr schweigsam gewesen war. Aber in seinem Bauch ging es plötzlich zu wie in einem Ameisenhaufen. Von wegen alles total entspannt. Gar nichts war entspannt. Am wenigsten er selbst. Sie war seine erste Freundin, seine große Liebe, und das hier machte es endgültig offiziell. Wieso wurde ihm das erst jetzt klar?
Als sie wenig später ihre Räder die Auffahrt hinaufschoben, entging ihm nicht, mit welchem Staunen Lucy das Haus und den großen Garten betrachtete. Das war so viel besser als alles, was sie aus den Sozialbauten kannte. Sie würde es hier mögen. Sich wohlfühlen. Es vielleicht bald als ihr zweites Zuhause ansehen. Der Gedanke machte ihn glücklich.
Als sie um die Ecke bogen, sah er, dass das Auto fehlte. Es stand weder vor dem Haus noch in der weit offenen Garage. »Mein Vater ist gar nicht da. Komisch …«
Lucy atmete hörbar aus.
Und auch er selbst wurde lockerer. Ein bisschen Aufschub bis zum großen Moment war nicht schlecht.
»Komm rein.«
Seltsam. Die Haustür stand einen Spalt offen. Noch seltsamer: Der Schlüssel seines Vaters hing am Schlüsselbrett. War er doch da? Linus horchte angestrengt in die Stille. Nichts. Da überfiel ihn ein unheimliches Déjà-vu.
»Pa? Hallo?«
Keine Antwort. Die absurde Vorstellung, dass nach seiner Mutter auch sein Vater einfach so verschwunden sein könnte, blitzte in ihm auf.
Blödsinn! Er war bestimmt nur kurz weg, um irgendwas zu besorgen.
Ein Unbehagen blieb.
»Ich ruf ihn mal an.«
Er holte sein Handy heraus, wählte per Kurzwahl. Dem Tuten in dem einen Ohr folgte mit etwas Verzögerung ein Klingeln in der Küche. Sein Vater hatte das Handy liegen lassen.
Sein Vater hatte das Handy liegen lassen?!
Das war eigentlich völlig unmöglich. Zumindest war es noch nie passiert.
Für alles gab es eben ein erstes Mal, beschwichtigte er sich selbst.
»Er wird schon kommen.« Er steckte sein Handy ein und ging voraus in die Küche. »Was willst du trinken?«
»Egal. Was du trinkst.«
Ihre Worte drangen kaum zu ihm durch, etwas anderes hatte sein Interesse auf sich gezogen: die Post auf dem Küchentisch. Die Briefe vom Vortag lagen...
Erscheint lt. Verlag | 19.9.2014 |
---|---|
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Kinder- / Jugendbuch | |
Schlagworte | Begabung • Das Parfüm • Entführung • Jugend • Killer • Liebe • Spannung • Süskind • Talent • Thriller |
ISBN-10 | 3-86274-310-1 / 3862743101 |
ISBN-13 | 978-3-86274-310-0 / 9783862743100 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |

Größe: 1,4 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich