Die andere Hälfte der Hoffnung (eBook)

Roman
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2014 | 1. Auflage
320 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-42572-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die andere Hälfte der Hoffnung -  Mechtild Borrmann
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Die andere Häfte der Hoffnung - nominiert für den renommierten Friedrich-Glauser-Preis 2015! Valentina wartet auf die Rückkehr ihrer Tochter aus Deutschland. Seit Monaten hat sie nichts mehr von ihr gehört. Sie scheint spurlos verschwunden - wie viele andere Studentinnen, die angeblich ein Stipendium in Deutschland erhalten haben. Valentina lebt dagegen in der verbotenen Zone von Tschernobyl, ihrer alten Heimat. Um dem trostlosen Warten und dem bitterkalten Winter zu trotzen und die Hoffnung nicht zu verlieren, beginnt Valentina ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben. In Deutschland versteckt währenddessen Martin Lessmann eine junge osteuropäische Frau vor ihren Verfolgern. Als sie sich kurz darauf die Pulsadern aufschneidet, rettet er sie ein zweites Mal - und erfährt Ungeheuerliches. Zeitgeschichte packend aufbereitet - ein Roman der Spuren hinterlässt! »Virtuos, meisterlich erzählt. Zeitgeschichte packend aufbereitet - ein Krimi der absoluten Spitzenklasse.« hr-online

Mechtild Borrmann, Jahrgang 1960, verbrachte ihre Kindheit und Jugend am Niederrhein. Bevor sie sich als Schriftstellerin einen Namen machte, war sie u.?a. als Tanz- und Theaterpädagogin und Gastronomin tätig. Die Autorin ist mit zahlreichen renommierten Preisen, u.a. dem deutschen Krimipreis ausgezeichnet worden. Ihre Romane 'Trümmerkind', 'Grenzgänger' und 'Feldpost' standen monatelang unter den TOP 10 der Spiegel-Bestsellerliste. Mechtild Borrmann lebt als freie Schriftstellerin in Bielefeld.

Mechtild Borrmann, Jahrgang 1960, verbrachte ihre Kindheit und Jugend am Niederrhein. Bevor sie sich als Schriftstellerin einen Namen machte, war sie u. a. als Tanz- und Theaterpädagogin und Gastronomin tätig. Die Autorin ist mit zahlreichen renommierten Preisen, u.a. dem deutschen Krimipreis ausgezeichnet worden. Ihre Romane "Trümmerkind" und "Grenzgänger" standen monatelang unter den TOP 10 der Spiegel-Bestsellerliste. Mechtild Borrmann lebt als freie Schriftstellerin in Bielefeld.

Kapitel 2


Entfremdungszone, Oktober 2010

Über Nacht hat der Winter sein Brautkleid angelegt, und das Land funkelt in der Morgensonne. Strahlend schön.

Walentyna steht im Küchenwinkel am Fenster.

Oktober. Wenn die Kälte so früh kommt, wird sie lange bleiben.

Ljudmyla, die Nachbarin aus Trojeschtschina, hat ihrem Sohn Artem vor einigen Tagen Zucker, Salz, Mehl und Öl mitgegeben. Sogar vier Eier waren dabei. Artem arbeitet beim Zoll, bewacht im Vierzehn-Tage-Rhythmus die Entfremdungszone an einer der Straßen, die nach Belarus führen. Für diese Arbeit hatten sie Verbindungen spielen lassen und viel Geld bezahlt.

Einmal im Monat bringt er Walentyna die von seiner Mutter gewissenhaft gefüllten Taschen. Dafür hat Walentyna ihre Vierzig-Quadratmeter-Wohnung in Trojeschtschina Ljudmylas Tochter mit Mann und zwei Kindern überlassen. Sie selbst hat die Kosten für Strom, Gas und Wasser, die in den letzten Jahren unaufhörlich gestiegen waren, nicht mehr bezahlen können.

Artem hat ihr das Regal aus Klinkersteinen und groben Brettern gebaut, das den Ofen und das Schränkchen mit der Spülschüssel vom Rest des Zimmers trennt. Einige Gläser mit eingelegten Gurken, Tomaten, Bohnen, Pilzen und Pflaumen stehen darauf, und unter der Luke im Holzfußboden lagern Kartoffeln, Kohl und Äpfel. Von der Decke hängt getrocknete Minze und Kamille. Alles aus dem eigenen Garten oder in der Umgebung gesammelt. Das vorbereitete Brennholz wird für einen so langen Winter, wie er sich jetzt ankündigt, nicht reichen, aber Holz gibt es zur Genüge.

Kisa, die graugestreifte Katze, miaut und drückt sich sacht an ihr Bein. Sie hebt sie hoch und verlässt den Küchenwinkel. Hinter dem Regal steht der Sessel, der mit der blauen Nylondecke, die sie aus Trojeschtschina mitgebracht hat, ganz ansehnlich ist. An der Rückwand steht das schmale Bett und der alte Schrank und vor dem zweiten Fenster der Stuhl mit dem kleinen Tisch, auf dem die weiße Tischdecke liegt. Die war bei der Plünderung des Hauses im Schrank vergessen worden. Die Ränder sind, in der Tradition der Polissja, mit leuchtend roten und blauen Blumen bestickt. Die Stockflecken hat sie beim Waschen nicht ganz herausbekommen. Blassbraune Stellen liegen zwischen den Blumen.

Am Abend zuvor hat sie das Notizbuch mit dem grünen Pappeinband, den Bleistift mit dem Radiergummi am Ende und einen Anspitzer aus Metall auf den Tisch gelegt. Fünf Jahre ist es her, dass sie in fein geschwungenen Buchstaben »Mein Tagebuch« auf den Einband geschrieben und es ihrer Tochter geschenkt hat. Die hatte es nie benutzt und es in Trojeschtschina zurückgelassen.

Das Buch und die Mutter.

Heute Morgen ist Walentyna mit dem ersten Tageslicht aufgewacht, hat von der Tür bis zum Klohäuschen den Schnee weggeräumt und an der Pumpe einen Eimer mit Wasser gefüllt. Wenn es so kalt bleibt, wird die Pumpe in wenigen Tagen eingefroren sein. Aber dann ist da ja der Schnee, und der Fluss ist auch nicht weit.

Auf dem Ofen kocht sie einige Minzeblätter auf und füllt den Sud in eine Tasse.

Dann gibt es nichts mehr zu tun. Diesen Augenblick hat sie sorgfältig vorbereitet, aber jetzt versucht sie ihm – auf der Suche nach Handgriffen, die sie noch erledigen kann – zu entkommen. Der Boden ist gefegt, das Holz für diesen Tag steht im Korb neben dem Ofen, und das Brot, das sie gestern gebacken hat, wird für einige Tage reichen.

Sie setzt sich mit dem Teebecher an den Tisch, schlägt das Buch auf und nimmt den Stift zur Hand. Über eine Stunde starrt sie auf das fein linierte Papier, bis die Linien verschwimmen und sich schließlich auflösen. Sie steht auf, geht die drei Schritte zwischen Regal und Tür auf und ab und versucht ihre Gedanken zu ordnen. Und immer drängt sich jenes Wort in den Vordergrund: Glück!

Das Wort, das seit Tagen in ihrem Kopf ist, an dem sie kaut, das sie zerlegt, dreht und wendet, und das sich, so meint sie jetzt zu erkennen, in ihrem Leben letztendlich immer mit dieser kleinen Silbe zusammengetan hat.

Un-Glück.

Ihr Mund ist trocken, als sie sich zurück auf den alten Holzstuhl setzt, den Bleistift zur Hand nimmt und die ersten Sätze schreibt:

Meine kleine Kateryna, es war die Hoffnung, die meinen Verstand getrübt hat. Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Aber Hoffnung – das habe ich viel zu spät verstanden – ist ein lähmendes Gift, das uns ausharren lässt. Im Rückblick scheint mir, als hätte ich mein Leben lang gewartet. Auf morgen, übermorgen, irgendwann. An jenem Abend vor einem Jahr dachte ich, alles Warten habe sich gelohnt. Ich dachte: Vielleicht haben wir jetzt endlich einmal Glück!

Sie legt den Stift beiseite und starrt aus dem Fenster. Da war es wieder, dieses Wort. Wann hatte sie es gelernt? In ihrer Erinnerung war es immer bunt und leuchtend gewesen, ein Synonym für Wünsche, die sich in der Zukunft erfüllen würden, und in ihrer Kindheit war es unverbrüchlich mit den großen Zielen des Arbeiter- und Bauernstaates verbunden gewesen.

Nicht weit von hier, in Ritschyzja war sie aufgewachsen. Nach 1986 war sie Jahr für Jahr am Gedenktag für die Verstorbenen dorthin zurückgekehrt, um den Friedhof am Dorfrand zu besuchen und die verstorbene Mutter zu ehren. Sie hatte das verwilderte Grab hergerichtet, den eisernen Zaun, der die Grabstelle einfasste, frisch gestrichen und nach altem Brauch mit der Toten gegessen und getrunken. Sie legte Speisen vor den Grabstein, und in den ersten Jahren, als ihr Mann Hlib sie noch begleitete, schüttete er mit jedem Glas Wodka, das er trank, eines auf die Grabstelle. Dann hatten sie die Entfremdungszone eilig verlassen. Nie fand sie den Mut, ins Dorf hineinzugehen und das Haus ihrer Kindheit zu besuchen.

Erst als sie im vergangenen Frühjahr herkam, um zu bleiben, war sie in den Ort hineingegangen, hatte gehofft, dass sie vielleicht ihr Elternhaus beziehen könnte. Aber Ritschyzja war bei einem großen Brand 1996 zur Hälfte niedergebrannt. In dem geplünderten Restdorf überwucherten Klettergewächse die eingefallenen Dächer und bahnten sich durch zerschlagene Fenster und ausgehebelte Türen ihre Wege in die zerfallenden Häuser. Im aufgebrochenen Asphalt der Straßen und des ehemaligen Schulhofs wuchsen Birken und verkrüppelte Kiefern zwischen Gräsern, Löwenzahn und mannshohen Weiden. Und fast wie zum Hohn blühten überall weiße Heckenröschen.

Vorsichtig hatte sie die schwere, ehemals lichtblaue Holztür des Schulgebäudes geöffnet. Die Farbe schälte sich in breiten Streifen ab, legte das schimmelnde Holz darunter frei. Im Gebäude gab es noch einige zurückgelassene Schulbänke und Stühle. Hefte und Bücher, all die Jahre der Witterung ausgesetzt und von Mäusen zerfressen, lagen auf dem Boden verstreut. Die schweren Tafeln waren abmontiert und verkauft worden, und irgendwo im Land schrieben ahnungslose Lehrer ihre Formeln auf strahlende Tafeln.

Das Mosaik in der Eingangshalle, ein Erntebild zum Ruhme des Arbeiter- und Bauernstaates, das sie als Kind sehr geliebt hatte, war noch da. In einem der Klassenräume setzte sie sich auf ein Pult. Wie lange sie so dasaß, in dieser allumfassenden Stille, wusste sie nicht mehr, aber an das Gefühl von Einsamkeit, das nichts mit der Abwesenheit von Menschen zu tun hatte, erinnerte sie sich gut. Eine Leere, in der Vergangenheit und Zukunft keinen Platz hatten. Nur das kleine Zeitfenster des Augenblicks und dieser Schmerz, als sie verstand, dass es nichts mehr gab, worauf sie warten konnte.

Sie zieht die grobe grüne Strickjacke vor ihrer Brust zusammen, nimmt den Stift wieder zur Hand und radiert die Sätze aus. Nur »Meine kleine Kateryna« lässt sie stehen.

Am besten wird sein, ich fange von vorne an. Du hast nie nach deinen Großeltern gefragt und auch meine Kindheit in Ritschyzja hast du nie angesprochen. Du hast wohl gespürt, dass ich davon nicht erzählen wollte. Die Entfremdungszone, die es schon über fünf Jahre gab, als du geboren wurdest, war eine leere Stelle in meinem Kopf. Ich weiß nicht, wann ich beschlossen habe, so zu tun, als wäre sie schon immer da gewesen. Unbewohnbares Gebiet. Ganz natürlich. So wie Wüsten oder Sümpfe.

Dein Did war Landmaschinenmechaniker im Kolchos, und deine Baba arbeitete als Melkerin. Ich war ihr einziges Kind. Wir bewohnten in Ritschyzja ein bescheidenes Haus, diesem hier, das ich jetzt bewohne, nicht unähnlich. Aber dieses liegt allein, und das Haus deiner Großeltern lag mitten im Ort. Auch dort war die Wasserstelle draußen, die Wasserpumpe im Winter eingefroren und das Klohäuschen im hinteren Teil des Gartens. Deine Großeltern haben als Kinder die Kollektivierung mit den Hungerjahren in den Dreißigern und später dann den Großen Vaterländischen Krieg erlebt. Vom Vaterländischen Krieg wusste ich natürlich aus der Schule. Deine Großeltern sprachen nicht über diese Zeit.

Von den Hungerjahren hörte ich zum ersten Mal mit acht oder neun Jahren. Der Nachbar Iwan Kyjan kletterte auf der Feier zur großen sozialistischen Oktoberrevolution auf die Bühne und rief: »Wahre Ukrainer feiern den Tag nicht, den Millionen von uns mit dem Hungertod bezahlt haben!« Er war betrunken. Ich erinnere mich an die Stille danach, dass Baba meine Hand nahm und wir das Fest verließen und dass ich Did am Abend fragte, was der Nachbar gemeint habe. Er packte mich bei den Schultern, schüttelte mich und schimpfte: »Du wirst das auf der Stelle vergessen und nie wieder davon sprechen. Hast du das verstanden?« Noch nie hatte er so mit mir gesprochen.

Am nächsten Tag war der Nachbar nicht mehr da, und kurz darauf waren auch seine Frau und die Kinder fort. »Zu Verwandten«, wurde geflüstert....

Erscheint lt. Verlag 27.8.2014
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
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ISBN-10 3-426-42572-6 / 3426425726
ISBN-13 978-3-426-42572-5 / 9783426425725
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