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Das Herz ist eine miese Gegend (eBook)

eBook Download: EPUB
2014 | 1. Auflage
288 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-53931-0 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
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Drei verrückte Typen und eine schöne Frau rudern ums Überleben durch die Brandungswellen der sechziger, den Seegang der siebziger und die stillen Wasser der achtziger Jahre. Die Geschichte einer großen Liebe, einer großen Freundschaft, von Träumen und Verwicklungen zwischen Menschen, die Phantasten, doch zugleich auch Realisten sind. Ein Buch, bei dessen Lektüre man auf dem schmalen Grat zwischen Lachen und Weinen die Balance verlieren kann.

Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei an der Stuttgarter Kunstakademie und war Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte und Romane zu schreiben.

Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei an der Stuttgarter Kunstakademie und war Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte und Romane zu schreiben.

DREI


Ein Uniformierter zeigte stolz auf die Einschusslöcher in Che Guevara. Die Worte «Blitzkrieg» und «Sechstagekrieg» bekamen einen ganz ähnlichen Klang wie die Worte «prima» und «klasse». Das Wort «sogenannt» schrieb man am einfachsten in Form zweier Gänsefüßchen. Das Blaupunkt-Radio brauchte eine neue Röhre. Die aufzutreiben war nicht mehr leicht.

Ein Jahr später erinnerte sich Giovanni an diesen Tag als den ersten seiner Freundschaft mit Bo und letzten, an dem er ein Fahrrad besessen hatte. Schon in der großen Pause war es verschwunden gewesen, und schon die Tränen der Wut, die er darüber vergoss, trocknete ihm Bo mit seinem krausen Witz. Die beiden wurden unzertrennlich und von den Lehrern, denen an Abwechslung und Unterhaltung weniger lag, bald auch gefürchtet.

***

Arno, der als Austauschschüler in England gewesen war, hatte Platten mitgebracht, die Giovanni hörte, wenn er an den Plattenspieler kam. An den Plattenspieler zu kommen war schwierig. Der Vater hielt ihn verschlossen, und man musste eine Zeitlang im Garten arbeiten, Gestrüpp wegtragen, Laub verbrennen, Steine aus dem Boden klauben und Unkraut jäten, wenn man ihn haben wollte. Zwei Stunden Gartenarbeit ergaben den Gegenwert von einer Stunde Plattenspieler. Der Plattenspieler musste pünktlich zurückgegeben werden, da half kein «Nur dieses Stück noch». Wurde die Frist auch nur um Sekunden überschritten, dann merkte man spätestens an den überraschenden Würgelauten des Sängers, dass der Vater leise ins Zimmer geschlichen war und den Stecker gezogen hatte. Der Vater liebte Pünktlichkeit.

Und Giovanni liebte ein Lied. Es hatte ihn verzaubert, hatte schon beim ersten Hören sein Unterstes nach oben gekehrt und sofort den gehüteten Geheimplatz, der bislang für Hirngespinste reserviert gewesen war, in seinem Innern belegt. Es war von den Beatles und hieß «Norwegian Wood». Es war genau zwei Minuten und zwei Sekunden lang, also reichte eine Stunde Gartenarbeit für dreizehnmal Norwegian Wood. Wenn Giovanni den Tonarm immer wieder schnell genug aufsetzte. Und wenn nicht Arno überraschend zurückkam.

Bäuchlings lag Giovanni dann vor dem Plattenspieler, das Ohr möglichst dicht am kratzigen Bezug des Lautsprechers, und genoss dieses Gefühl von Raum, Bewegung und Glanz, das aus dem Lied kam. Es war wie Weinen, nur nicht mit den Augen. Und wie Fliegen, nur nicht in der Luft.

Seltsam: Immer wenn etwas sehr Schönes in sein Leben kam, verlor er ein Fahrrad. Als Arno in England gewesen war, hatte Giovanni dessen Fahrrad benutzen dürfen. Das hätte Arno zwar nie freiwillig zugelassen, aber die Mutter verlangte vom Vater, dass er Arno dazu zwang. Nun war das Fahrrad wieder passé, aber dafür war Norwegian Wood erschienen. Wollte das Schicksal jedes Mal ein Fahrrad von ihm haben? Als Preis? Eins für Bo, eins für das Weinen ohne Augen?

«Klau dir doch selber eins», hatte Bo ihm vorgeschlagen, aber das kam nicht in Frage. Zwar hätte sich Giovanni berechtigt gefühlt – die Welt war ihm ein Fahrrad schuldig –, aber wie hätte er seinen Eltern erklären sollen, woher es kam?

«Ich hab’s dir geschenkt, du Säftel», hatte Bo auf diesen Einwand geantwortet, aber Giovanni brachte einfach nicht den Mut auf.

Er verdiente sich lieber das Geld. Zwar hatten die Eltern zunächst Bedenken gehabt, den Vierzehnjährigen morgens um vier in einer Backstube arbeiten zu lassen, aber er war gut in der Schule, und dass er eigenes Geld verdienen würde, gab den Ausschlag für die Zustimmung. Der Vater liebte eigenes Geld.

Einsfünfzig bekam Giovanni in der Stunde, ein Frühstück und zwei Brötchen für die Pause. Noch einen Monat, dann würde das Gesparte für ein neues Fahrrad reichen. Wenn er nicht zu viele Schallplatten kaufte.

***

Es hatte nicht geklappt, im Musikunterricht die Beatles, Kinks und Rolling Stones durchzusetzen. Der Musiklehrer hielt sich für modern genug, wenn er das Golden Gate Quartet «Joshua hit the battle of Jericho» singen ließ oder den Christensong «Danke» kompositorisch analysierte. Aber in Englisch war es gelungen, der Lehrerin, die immer einen Blusenknopf zu viel geöffnet hatte, die Texte als Lehrmittel einzureden. Von «Yesterday» und «As Tears Go By» waren die Erwachsenen sowieso leicht zu überzeugen gewesen, denn da waren ja Geigen zu hören. Mit Hilfe von Geigen konnten die Erwachsenen gute Musik von schlechter unterscheiden. Das hatte sogar bei Giovannis Vater geklappt. Bei Bos allerdings nicht. Der liebte Zarah Leander und Marschmusik. Und die musste von Blechbläsern gespielt sein. Den einen oder anderen Wiener Walzer gönnte er sich wohl, aber nur im Hinblick auf dessen Funktion, beschwingtes Tanzen zu ermöglichen. Und etwas enthielten diese Walzer auch vom Abglanz der imposanten alten Welt vor neunzehnhundertvierzehn.

Leider währte die neue Errungenschaft im Englischunterricht nicht lange. Als nämlich «As Tears Go By» dran war und die Lehrerin nach der richtigen Übersetzung des Titels fragte, sagte Roger, der Rotblonde, den man seit einem Jahr nur noch Ilse nannte: «Wenn Tiere vorbeigehn».

Diese Albernheit allein hätte sicher nicht ausgereicht, die Beatmusik aus dem Klassenzimmer zu verbannen, hätte nicht Giovanni noch hinterhergeplappert: «Arschtiere gehn vorbei». Humor hatte man ja, aber Fäkalausdrücken musste mit Strenge begegnet werden. Frau Lohr holte den Schulpolizisten, einen durch und durch grauen, schlabbergesichtigen Lehrer namens Winkler, der Giovanni drei Stunden Schulhof-Fegen aufbrummte und mit drohendem Gesicht sagte: «Das kommt vor die Lehrerkonferenz.»

***

«Du bist wieder aufgefallen», würde der Vater dann am Mittagstisch sagen, und das bedeutete im Allgemeinen zwei bis drei Stunden Gartenarbeit ohne Plattenspieler. In diesem Fall wohl mindestens sechs.

Herr Winkler war ein Mensch, der den Kollegen, denen das Strafen nicht so großen Spaß machte, diese Arbeit freudig abnahm. Er wurde gerufen, wann immer sich jemand außerstande fühlte, auf eine besonders gelungene Missetat angemessen zu reagieren. Winkler reagierte immer angemessen. Er beherrschte den besonders schmerzhaften Griff in die Haare vor den Ohren und liebte es, weite Strecken mit einem straffälligen Schüler in diesem Griff zurückzulegen. Ebenso beherrschte er das besonders grimmige Gesicht, das normalerweise bis mindestens zur zehnten Klasse hinauf reichte, die Schüler wie hypnotisierte Kaninchen zu lähmen. Giovanni hatte Angst vor Winkler. Bo nicht.

So kam auch von Bo die Idee, Winkler eine Botschaft aus dem Jenseits zukommen zu lassen. Dem Jenseits stand Giovanni seit der Sache mit der Maus recht aufgeschlossen gegenüber, und am Nachmittag nach dem Schulhof-Fegen gingen sie zusammen durch das leere, dämmerige Schulhaus in Winklers Klasse, um dort mit Ölkreide «Winkler ist Pfusch von Gott» an die Tafel zu schreiben.

***

Bo hatte deshalb keine Angst, weil ihm früh aufgefallen war, dass sich niemand für ihn interessierte. Sein Vater nicht, seine Mutter nicht, sein großer Bruder nicht und die Lehrer nur, wenn er frech war. Er existierte nur, wenn er sich bemerkbar machte. Blieb er einfach ganz normal, ein Junge mit Spielen und Unsinn im Kopf, dann schien er seiner Umgebung derart unwichtig, dass man meinen konnte, es gäbe ihn nicht. Er beschloss, das Beste draus zu machen: Käme es zu einer brenzligen Situation, dann würde er nur einfach ganz normal sein, und schwupps wäre er weg. Er hatte die Wahl, sich bemerkbar zu machen und, wenn er wollte, wieder entmerkbar. Allerdings war es noch zu keiner Situation gekommen, die derart problematisch gewesen wäre, dass er es hätte ausprobieren müssen. Es war wie mit der atomaren Abschreckung. Man hat die Mittel, um sie nicht anzuwenden.

Sein Vater, ein begeisterter NPD-Wähler, liebte außer Zarah Leander, Bos großem Bruder und zünftiger Marschmusik nur noch das Theater. Wie er Theater und Nationalsozialismus miteinander vereinbarte, war zwar schwer zu verstehen, denn seine Begeisterung ging durchaus über Gustaf Gründgens und Hans Albers hinaus, aber irgendwie schaffte er es, Joachim Ringelnatz, dem die Nazis ein Ehrenbegräbnis verweigert hatten, zu vergöttern, und gleichzeitig Juden, Kommunisten, Zigeuner und Homosexuelle in einen Topf zu werfen. In dem sie selbstverständlich bei lebendigem Leibe kochen sollten.

Wenn Bo von seinem Vater bemerkt werden wollte, rezitierte er den «Fußballwahn» von Ringelnatz, den er fehlerlos auswendig konnte. Wollte er Ruhe haben, tat er einfach nichts.

Vor drei Jahren hatte er die Bestätigung erhalten, dass sich nicht einmal das Schicksal für ihn interessierte. Sein großer Bruder Dietrich, der Augapfel des Vaters, weil er aussah, als sei er aus dem Lebensborn hervorgegangen – groß, blond, blauäugig, mit ausgeprägtem Kinn und Schultern wie ein Denkmal –, dieser Bruder hatte ein Luftgewehr, mit dem er versuchte, Spatzen zu erschießen. Glücklicherweise waren die Spatzen talentierter im Wegfliegen als Dietrich im Hinterherschießen. Er erwischte niemals einen. Hierüber wohl verärgert, zielte er an jenem Tag zur Abwechslung auf seinen kleinen Bruder, der gerade von der Bushaltestelle kam. Zuerst spürte Bo einen Luftzug, dann stolperte er und hörte den Schrei des neben ihm ausgestiegenen Nachbarjungen. Der hielt sich die Hand an die Wange, und mit seinen Tränen mischte sich Blut, das zwischen den Fingern hervorrann.

Ein Blick, den Bo zum Dachfenster warf, zeigte ihm Dietrichs gerade verschwindendes Profil. Er wusste, dass dieser auf ihn gezielt hatte.

Später, am Mittagstisch, sagte er: «Dietrich hat geschossen, ich hab’s...

Erscheint lt. Verlag 1.9.2014
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Freundschaft • Kultbuch • Liebesgeschichte
ISBN-10 3-644-53931-6 / 3644539316
ISBN-13 978-3-644-53931-0 / 9783644539310
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