Verratene Kinder (eBook)

Zwei Lebensgeschichten aus dem geteilten Deutschland
eBook Download: EPUB
2014 | 1. Auflage
200 Seiten
Links, Ch (Verlag)
978-3-86284-284-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Verratene Kinder - Nicole Glocke, Edina Stiller, Edina Gade
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Am 18. Januar 1979 flüchtet der Oberleutnant des Ministeriums für Staatssicherheit Werner Stiller in die Bundesrepublik Deutschland. Mit sich führt er zwei Koffer geheimer Unterlagen, durch die kurz darauf mehrere Westagenten enttarnt werden. Unter ihnen ist der Vater von Nicole Glocke, Mitarbeiter in den Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerken. Er wird verhaftet, für die Neunjährige bricht eine Welt zusammen.
Über zwei Jahrzehnte später unternimmt die Tochter den Versuch, sich mit den Motiven ihres Vaters auseinanderzusetzen. Doch dieser verweigert die notwendigen Informationen, und die Akten über ihn sind vernichtet. Ihre Recherchen richten sich deshalb zunehmend auf den Mann, der das Trauma ihrer Kindheit ausgelöst hat, Werner Stiller. Sie sucht die Begegnung mit ihm und findet so den Kontakt zu seiner Tochter Edina, die Stiller mit seiner Familie in der DDR zurückgelassen hat.
Die rasch wachsende Vertrautheit zwischen den etwa gleichaltrigen Frauen führt zu einem schonungslosen Rückblick auf ihre Vergangenheit und auf die Väter. Sie fühlten sich getäuscht und verlassen und waren lange Zeit gezwungen, sich der Lüge und dem Schweigen zu beugen. Das hat ihr Leben auf unterschiedliche Weise geprägt. Nunmehr versuchen sie, den eigenen Standort zu bestimmen und ohne die Väter ihr wahres Leben zu finden.

Nicole Glocke: Jahrgang 1969, Studium der Geschichte und Politikwissenschaft, 1997 Promotion, 1998-2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bundestag, Frühjahr 2003 freie Mitarbeiterin bei einer deutschsprachigen Zeitschrift in Budapest, seither freie Mitarbeiterin in der Bundestagsverwaltung, lebt in Berlin. Edina Stiller: Jahrgang 1971 (verh. Gade), Lehre als Fernsprech- und Fernschreibtechnikerin, 1989 Eintritt in die Nationale Volksarmee der DDR, 1990 Übernahme durch die Bundeswehr als Zivilangestellte, 1998/99 Umschulung zur Rechtsanwalts- und Notargehilfin, danach Arbeit in einer Kanzlei.

Edina Stiller

Das erste Wiedersehen 1990


Das plötzliche Rucken reißt mich aus meinen verworrenen Träumen. Was ist passiert? Ich spüre, wie der Zug langsamer rollt. Sind wir schon da? Das kann nicht sein. Laut Fahrplan sollen wir um drei Uhr in Frankfurt ankommen. Jetzt ist es erst zwei. Als ich aufstehe, um den Zugbegleiter zu fragen, ruckelt es ein wenig, und der Zug fährt wieder an. Erleichtert kehre ich zu meinem Platz zurück. Ich drehe meinen Kopf zum Fenster und sehe die herbstliche Landschaft mit zunehmender Geschwindigkeit an mir vorbeirauschen und nehme sie doch nicht wahr.

Meine Empfindungen schwanken wieder zwischen Erwartung und Zweifel. Wie wird er sein, dieser Mann, der sich Peter Fischer nennt und mein Vater ist und über den ich erst vor kurzer Zeit die Wahrheit erfahren habe, die mir noch immer unfaßbar erscheint? Wie wird er aussehen? Werde ich ihn erkennen? Wird er mich erkennen? Ich war ja noch ein Kind, als er uns verließ. Warum hat meine Mutter mir auch die Wahrheit erzählen müssen, nachdem ich jahrelang so gut wie möglich versucht hatte, die Lüge zu akzeptieren? Warum hat sie mich nicht in dem Glauben lassen können, daß er mit einer zehn Jahre älteren Kellnerin durchgebrannt war und nichts mehr mit uns zu tun haben wollte? Jetzt weiß ich, daß er ein durch seine Republikflucht bekannt gewordener und beruflich erfolgreicher Mann ist, der die ganze Welt gesehen hat. Bestimmt stellt er sehr hohe Erwartungen an mich, die ich gar nicht erfüllen kann. Dabei will ich doch, daß er mich akzeptiert und stolz auf mich ist …

»Wir erreichen gleich den Hauptbahnhof Frankfurt!« tönt es schließlich in meine Gedanken hinein. Der Zug kommt zum Stehen. Ich richte aufgeregt mein Haar, nehme meinen Koffer und steige aus dem Zug. O Gott, so viele Leute! Am Ende des Bahnsteigs erblicke ich einen Mann, der auf jemanden zu warten scheint. Das kann nur er sein. Und tatsächlich: Er kommt auf mich zu, er hat denselben leicht schaukelnden Gang wie ich und lächelt mir ein wenig unsicher entgegen. Ich versuche, mir meine Aufregung nicht anmerken zu lassen, um nicht gleich einen ungünstigen Eindruck zu machen. Selbstbewußtsein ist nicht gerade meine Stärke. Plötzlich ist der Mann bei mir und nimmt mich in seine Arme. Liebe und Abwehr durchströmen gleichzeitig meinen Körper. Was tut er da, ich kenne ihn doch gar nicht, und dennoch verspüre ich für einen kurzen Moment ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Er läßt mich los, und wir sehen einander an. So klein habe ich ihn mir gar nicht vorgestellt, aber er hat ein sympathisches Äußeres. Besonders gut gefallen mir seine wachen, jungenhaften braunen Augen.

Als erstes fragt er mich, ob es mir gut gehe und wie mir die Zugfahrt gefallen habe. Ich antworte etwas Belangloses und hoffe, daß es nicht allzu dumm klingt. Er nimmt meinen Koffer, wir gehen zu seinem Auto, steigen ein, und er sagt, daß ich ein hübsches Mädchen sei. Na ja, was soll er auch anderes sagen. Meine Angespanntheit will nicht nachlassen, mir liegen so viele Fragen auf der Zunge, aber ich bekomme einfach den Mund nicht auf. Auch der Mann, der so nah neben mir sitzt und mein Vater sein soll, schweigt. Ich blicke stumm auf die Leuchtreklamen, die vielen Cafés und die hohen Frankfurter Häuser. In meine Gedanken hinein sagt er mir, daß er mich erst einmal bei sich absetzen und dann noch einmal in die Bank fahren müsse. Damit habe ich nicht gerechnet, aber ich hoffe, daß er sich danach Zeit für mich nehmen wird.

Der Wagen hält vor einem Haus, und ich mag meinen Augen kaum trauen. Ich fühle mich in eine andere Welt versetzt. Eine Nobelvilla steht neben der anderen, umgeben von gepflegten Gärten. Aus der DDR kenne ich vor allem diese ewig gleichen Plattenbauten. Ich kann mich an keine Wohngegend erinnern, die in ihrer Exklusivität dieser hier auch nur entfernt geähnelt hätte. In seiner Wohnung erlebe ich die nächste Überraschung. Dafür, daß hier nur eine Person lebt, erscheint sie mir überdimensional groß. Das Wohnzimmer wirkt durch die spärliche und ohne die in der DDR übliche Schrankwand sehr luxuriös, es stehen dort lediglich ein edler Tisch, eine Couch, Sessel, eine CD-Anlage, und an den Wänden hängen ein paar dekorative Bilder. Die Stimme meines Vaters reißt mich aus meinem Staunen. Er stellt meinen Koffer in das Eßzimmer, sagt im Vorbeigehen, daß er sich beeilen werde, und ist auch schon weg.

Zumindest habe ich jetzt die Möglichkeit, mir die Wohnung genauer anzuschauen. Das Bad ist riesengroß und rundum gefliest, im Schlafzimmer befinden sich ein sehr schönes Doppelbett und eine große Schrankwand, die ich auch gleich öffne. Da hängen, perfekt gebügelt, lauter Anzüge mit Markennamen wie Joop und Boss. Schließlich entdecke ich die Speisekammer und bin begeistert. Sie ist angefüllt mit Dingen, die ich noch nie gesehen habe. Ich nasche ein wenig, in dem Moment klingelt es an der Wohnungstür. Zögernd öffne ich, und vor mir steht eine Frau wie aus dem Filmmagazin. Sie ist klein, zierlich, mit rehbraunen Augen in einem ebenmäßigen Gesicht, die dunklen Haare zu einem Knoten zusammengefaßt, und erinnert mich an Pam aus Dallas. Sie schaut mich genauso überrascht an wie ich sie und fragt nach Peter Fischer. Ich antworte ihr, daß er noch einmal in die Bank gefahren sei, und schon ist sie in der Wohnung und sagt, daß sie auf ihn warten werde. Sie setzt sich im Wohnzimmer in einen Sessel, mustert mich kurz, und dann schweigen wir uns an. Zum Glück läßt mein Vater tatsächlich nicht lange auf sich warten. Ich höre, wie er die Tür aufschließt, und sofort beginnen er und diese fremde Frau eine heftige Diskussion in englischer Sprache. Sie scheinen vergessen zu haben, daß ich im Zimmer bin. Leider reicht mein Schulenglisch nicht aus, um zu verstehen, worum es geht. Endlich bemerken sie, daß ich auch noch da bin. Mein Vater macht uns flüchtig miteinander bekannt und schlägt vor, irgendwo etwas essen zu gehen. Wir fahren in einen Biergarten, und kaum daß wir uns an einen der langen Holztische gesetzt haben, führen die beiden ihren Streit fort. Zwischendurch stellen sie mir ein paar belanglose Fragen und wenden sich dann sofort wieder einander zu. Diese Frau ist mir unsympathisch. Das ist mein Vater, möchte ich ihr am liebsten sagen, er gehört mir! Nach einer mir endlos erscheinenden Zeit verabschiedet sie sich, wir fahren zurück in die Wohnung, und ich bin froh, ihn endlich für mich zu haben.

Das sei seine amerikanische Ehefrau, erzählt er mir unterwegs, und es werde aufgrund einiger unüberwindlicher Diskrepanzen wahrscheinlich bald zur Scheidung kommen. Er holt Wein, und wir setzen uns in das Wohnzimmer. Er fragt mich nach meiner schulischen Vergangenheit aus und warum ich eine solche Lehre gewählt habe und findet es komisch, daß gerade ich als seine Tochter Chiffreur bei der NVA geworden bin. Er fragt nach meinem Bruder, nach meinem Verhältnis zu ihm und zu meiner Mutter und nach meinen Beziehungen zu Männern. Ich antworte auf viele Fragen reserviert und bleibe die ganze Zeit gehemmt.

Obwohl mich der Tag sehr erschöpft hat, kann ich lange nicht einschlafen. Mir ist das Herz so voll, und viele Gedanken schießen mir durch den Kopf. Dieser Mann ist zwar mein Vater, aber er ist mir auch fremd. Ob sich mit der Zeit eine Nähe einstellen wird?

Ich bin gespannt auf den kommenden Tag, doch am Morgen erklärt mir mein Vater, daß er leider keinen Urlaub bekommen habe und wieder in die Bank müsse. Ich bemühe mich, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. So habe ich mir unser erstes Zusammensein nach über zehn Jahren wirklich nicht vorgestellt. Hätte er nicht wenigstens für die kurze Dauer meines Besuches Urlaub nehmen können? Er gibt mir etwas Geld, erklärt mir den Weg ins Zentrum, verspricht, daß er sich beeilen werde, und geht.

Traurig frühstücke ich allein und beschließe, mir etwas Schönes zu kaufen, vielleicht wird es mir dann besser gehen. Trotz des Reichtums und des Prunks, den diese Stadt ausstrahlt, bemerke ich an vielen Ecken Bettler und sonstige heruntergekommene Gestalten. Das kannte ich aus der DDR nicht. Ich will das Elend nicht sehen und wende mich den Auslagen in den Geschäften zu. Was es in Cottbus oder Ost-Berlin zu wenig gab, ist hier in verschwenderischem Überfluß vorhanden. Nach einer Weile fühle ich mich wie erschlagen. Dann schaffe ich es aber doch noch, für mich etwas Passendes zum Anziehen zu erstehen, und mache mich auf den Rückweg. Wider Erwarten ist mein Vater doch schon da. Er hat eingekauft und ist dabei, für uns zu kochen. Es berührt mich, ihn in der Küche hantieren zu sehen, und ich bin überrascht, wie gut er kochen kann.

Der Abend und die drei folgenden Tage verlaufen dann etwa in der gleichen Weise. Er geht jeden Tag in die Bank, abends besuchen wir ein Restaurant oder er kocht selbst. Er fragt nach Einzelheiten aus meinem Leben und dem unserer Familie und erzählt von sich, seiner Flucht, die ihn um Haaresbreite vor seiner Verhaftung rettete, dem aufregenden Leben mit der neuen Identität, seiner Arbeit, seinen Reisen und den Frauen. Zwischendurch erkundigt er sich fortwährend nach meinem Wohlbefinden und versucht mich mit lustigen Anekdoten aus seiner Vergangenheit zum Lachen zu bringen. Schließlich ist es auch für ihn nicht einfach, sich plötzlich auf eine fast erwachsene Tochter einzustellen, und ich mache es ihm bestimmt auch nicht leicht. Ich weiß, daß ich manchmal ziemlich reserviert auf andere Menschen wirke und sie deswegen Schwierigkeiten haben, mit mir umzugehen. Gerade bei Menschen, die mir auf die eine oder andere Art sehr wichtig sind,...

Erscheint lt. Verlag 19.6.2014
Reihe/Serie Politik & Zeitgeschichte
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 18. Januar 1979 • BND • CIA • Edina Stiller • Enttarnung Westagenten • Flucht in die BRD • Geheimdienste • geheime Unterlagen • Karl-Heinz-Glocke • Kindheitstrauma • Konspiration • Leben ohne Vater • Nicole Glocke • Ost-West-Schicksal • Recherche • Rückblick auf Vergangenheit • Spionage • Stasi • Verschwörung • Werner Stiller
ISBN-10 3-86284-284-3 / 3862842843
ISBN-13 978-3-86284-284-1 / 9783862842841
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