Der Clan der Wölfe, Band 3 - Feuerwächter (eBook)
256 Seiten
Ravensburger Buchverlag
978-3-473-47536-0 (ISBN)
Als Edme vom nördlichen Gipfel des Krummrückens herunterschlitterte, fragte sie sich, was Faolan beim Anblick seines Tummfraw empfunden hatte. Ganz sicher nicht die Leere, die sie in sich gespürt hatte, als sie auf den Tafelfelsen getreten war. Wenn sie an diesen Moment dachte, war ihr erster Impuls, die Schuld bei sich selbst zu suchen. Aber das ergab keinen Sinn. Es lag nicht an ihr. Der Tummfraw war falsch oder der Fengo hatte einen Fehler gemacht. Einen Augenblick spielte sie mit dem Gedanken, zur Obea des MacHeath-Clans zu gehen und sie ohne Umschweife zu fragen, ob der Fels auf dem Krummrücken der richtige Ort war. Aber sie brachte es nicht übers Herz. Der ganze Clan war ihr so sehr verhasst, dass sie keine Lust hatte, noch einmal in das Gebiet der MacHeath zurückzukehren.
Die Obea des Clans war eine weiße Wölfin namens Airmid, ein grausamer Name, der in der alten Wolfssprache „unfruchtbar“ bedeutete. Alle Obeas waren unfruchtbar, aber nur die MacHeath-Wölfe waren herzlos genug, der Obea ihren wahren Namen wegzunehmen und sie nach ihrem traurigen Schicksal zu benennen. Diese Niedertracht lag den MacHeath im Blut. Wölfe, die sich nicht mit ihren grausamen Sitten abfinden konnten, wurden krank und starben oder verließen den Clan. Die einen machten sich in die Frostlande auf und lebten dort mit den Clanlosen in der Wildnis, die anderen zogen weit nach Nordosten zum Clan der MacNamara. Edme schauderte. Mit den MacHeath wollte sie nichts mehr zu tun haben. Sie war sowieso schon viel zu nah an ihren Grenzgebieten.
Vorsichtig kletterte sie die steilen Hänge des Krummrückens hinunter. Dabei fiel ihr etwas ein: Wie hätte ein winziger einäugiger Welpe aus eigener Kraft diesen gefährlichen Abstieg schaffen und zum Clan zurückfinden sollen? Es hieß, dass alle Malcadh, die ihre Aussetzung überlebten, von einem untrüglichen Instinkt in das Gebiet ihres Clans zurückgeführt wurden. Aber Edme konnte das nicht glauben. Sie hatte immer nur den Drang verspürt, so weit wie möglich von ihrem Clan wegzukommen.
Am Fuß des Bergrückens wurde sie unsanft aus ihren Gedanken gerissen. Wie aus dem Nichts tauchten Ingliss und Kyrana vor ihr auf, zwei Jährlingswölfinnen aus dem Häuptlingsrudel der MacHeath. Der Schreck fuhr Edme durch Mark und Bein. Die beiden Jungwölfinnen hatten sie besonders oft gequält und verhöhnt, als sie noch eine Knochennagerin gewesen war. Sie wussten genau, wie sie Edme einschüchtern und verletzen konnten. Immer wieder hatten sie ihr nah an ihrem Auge ins Gesicht gebissen.
Instinktiv senkte Edme den Schwanz und duckte sich in die erste Unterwerfungshaltung. Doch dann erinnerte sie sich, dass sie das gar nicht mehr tun musste. Ich bin keine Knochennagerin mehr. Ich bin Mitglied der Vulkangarde. Von Rechts wegen müssen die beiden vor mir in die Knie gehen, nicht ich vor ihnen. Edmes Nackenfell sträubte sich. Sie legte die Ohren nach vorn und ihr eines grünes Auge funkelte drohend.
„Du hast schnell dazugelernt, was?“, höhnte Ingliss, die größere der beiden Wölfinnen.
„Ja, aber ein einäugiger Wolf sieht irgendwie komisch aus, wenn er sich so aufplustert“, sagte Kyrana, die der getreue Schatten von Ingliss war und immer auf ihr Stichwort wartete. Zusammen waren die beiden eine wahre Pest.
„Du denkst doch nicht, dass du zu Recht in die Vulkangarde gewählt wurdest, oder?“, stichelte Ingliss.
Edme wandte sich ab und ging ohne ein Wort einfach weiter. Aber Ingliss und Kyrana folgten ihr und rückten ihr immer dichter auf den Pelz.
„Jetzt geht endlich weg!“, japste Edme. „Ihr könnt nicht mehr mit mir machen, was ihr wollt. Ihr dürft mich weder mit Worten noch mit Bissen misshandeln.“
„Oh ja, das stimmt“, säuselte Ingliss. „Eigentlich hätten wir dir nie etwas tun dürfen. Ich meine, wenn man bedenkt, dass du gar keine echte Knochennagerin warst.“
Edme erstarrte. „Bist du cag mag, oder was? Wovon redest du da?“
„Das möchtest du wohl gern wissen, was?“ Zu Kyrana gewandt, fügte Ingliss hinzu: „Sollen wir es ihr sagen?“
„Ja, warum nicht?“, erwiderte Kyrana zerstreut, als wäre sie mit ihren Gedanken ganz woanders.
„Liebe Edme, wir müssen uns in aller Form für unser früheres Benehmen bei dir entschuldigen“, sagte Ingliss.
Edmes Kopf schnellte hektisch zwischen den beiden Wölfinnen hin und her. Sie durfte auf keinen Fall die Fassung verlieren. „Eine Entschuldigung ist nicht nötig, wirklich“, sagte sie. „Und jetzt geht eures Weges. Ich muss zum Kreis der Heiligen Vulkane.“
„An deiner Stelle hätte ich es nicht so eilig“, stichelte Kyrana.
„Nein, bestimmt nicht“, fügte Ingliss hinzu. „Denn wie werden sie dich dort empfangen, wenn sie herausfinden, dass du nicht als Malcadh geboren bist, sondern erst dazu gemacht wurdest?“
Edme stockte der Atem. „Was wollt ihr damit sagen?“, stieß sie hervor und fletschte drohend die Zähne. Jedes einzelne Härchen in ihrem Nackenfell stellte sich auf, sodass sie doppelt so groß wirkte wie sonst.
Ingliss und Kyrana duckten sich erschrocken. „Er hat dir das angetan … unser Oberhaupt … Dunbar MacHeath“, stotterte Kyrana.
„Was angetan?“
„Dir ein Auge ausgerissen!“, murmelte Ingliss kleinlaut.
„Du meinst …“ Edme fiel der Kiefer herunter und sie brachte vor Bestürzung eine Weile kein Wort heraus. „Du meinst, ich bin nicht so zur Welt gekommen?“, sagte sie endlich mit bebender Stimme.
„Nein, überhaupt nicht“, versicherten die beiden Wölfinnen gleichzeitig. Ihr Selbstbewusstsein kehrte langsam zurück und auf Ingliss’ Gesicht breitete sich ein tückisches Grinsen aus. „Wir haben gehört, wie in der Streunerburg darüber getuschelt wurde. Du warst also gar keine echte Knochennagerin“, trumpfte sie auf.
„Du bist eine Hochstaplerin“, rief Kyrana. „Sie werden dich fortjagen, wenn sie das herauskriegen.“
„Und wenn ich es ihnen sage? Was dann?“, gab Edme zurück und trottete zielstrebig über die Grenze in das Land der MacHeath hinein.
„Wenn du es ihnen sagst? Wenn du was sagst? He, Edme, wo willst du denn hin?“
„Zu eurem Oberhaupt!“
„Was?“, kreischten Ingliss und Kyrana.
„Bitte, Edme, du darfst ihm nicht erzählen, dass wir es dir verraten haben. Sonst sind wir verloren“, flehte Ingliss, die jetzt verzweifelt neben Edme herlief.
„Daran hättet ihr vorher denken sollen.“
„Aber was nützt es dir, wenn du es Dunbar MacHeath sagst? Und was genau willst du ihm sagen?“
„Was genau?“ Edme funkelte Ingliss mit ihrem einen Auge drohend an. „Ich werde ihm sagen, dass ich nicht als Mitglied des MacHeath-Clans am Kreis der Vulkane dienen werde, sondern als Freigängerin.“
Ingliss und Kyrana warfen sich auf den Bauch, krochen auf allen vieren hinter Edme her und flehten sie an, nicht zum Oberhaupt zu gehen. Aber Edme verschloss ihre Ohren und setzte ihren Weg zum Gebiet des Carreg-Gaer-Rudels fort, dem Häuptlingsrudel der MacHeath. Jetzt wusste sie, warum der Tummfraw keine Empfindungen in ihr wachgerufen hatte. Sie hatte keinerlei Verbindung zu diesem Ort. Tausend Fragen schossen ihr durch den Kopf. Hatten die MacHeath auch die üblichen Rituale ausgeführt und ihre Mutter und ihren Vater aus dem Clan verbannt? Aber was bedeutete das schon? Alles war nur vorgetäuscht.
Trotzdem hatte Edme ihr elendes Leben mit all seinen Demütigungen nicht umsonst erlitten. Auch der Gaddernag-Wettkampf, an dem sie teilgenommen hatte, war nicht vergeblich gewesen. Sie hatte sich ihren Platz in der Vulkangarde redlich verdient, das konnte ihr niemand nehmen. Vielleicht war sie kein echtes Malcadh gewesen, aber sie war ein echter Gardewolf. Und sie würde ihren Dienst ehrenhaft verrichten, auch wenn ihre Herkunft nicht ehrenhaft war. Mutig und selbstbewusst würde sie ihre Aufgaben erfüllen, egal was vorher geschehen war. Tief in ihrem Mark spürte Edme, dass es ihr bestimmt war, ein Wolf der Vulkangarde zu sein.
Unterdessen schleifte Faolan Donnerherz’ gewaltigen Schenkelknochen von der Stelle fort, an der sie gestorben war. Donnerherz war bei einem Erdbeben ums Leben gekommen, als Faolan kaum ein Jahr alt gewesen war. Ein riesiger Felsbrocken war auf sie heruntergekracht und hatte sie erschlagen. Ein paar Monde nach ihrem Tod war Faolan auf ihren Schädel gestoßen, der riesig und blendend weiß im Mondlicht aufragte.
Jetzt, nach zwei Jahren, hatte sich neues Leben darin eingenistet. Flechten und Moose krochen über das Schädeldach und die lange Schnauze. Aus einer Augenhöhle quoll ein Büschel Sternblumen hervor. Faolan hätte den Schädel niemals wegbringen können und das wollte er auch nicht. Donnerherz’ Schädel war selbst zu einem Mahnmal des Lebens geworden. Aber von den kleineren Knochen trug er so viele weg, wie er konnte. Der Drumlyn, den er bauen wollte, sollte nicht nur ein Tribut an das Leben, sondern auch an Donnerherz’ Nachleben in Ursulana sein.
Erneut grübelte Faolan darüber nach, ob Donnerherz bereits in den Bärenhimmel gereist war oder nicht. Obwohl sie so lange tot war, schien ihr Geist noch auf der Erde zu weilen. Hielten unerledigte Aufgaben sie womöglich zurück? So wie es bei den Geisterschnäbeln verstorbener Eulen der Fall war? Die Maskenschleiereule Gwynneth, eine seiner besten Freundinnen, hatte ihm davon erzählt. Keine Eule würde jemals den Weg nach Glaumora...
Erscheint lt. Verlag | 1.6.2014 |
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Reihe/Serie | Der Clan der Wölfe |
Der Clan der Wölfe | |
Übersetzer | Ilse Rothfuss |
Verlagsort | Ravensburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur |
Kinder- / Jugendbuch ► Kinderbücher bis 11 Jahre | |
Schlagworte | Abenteuer • Bär • Buch • Bücher • Die Spur der Donnerhufe • Entführung • Fantasy • Freunde • Gemeinschaft • Geschenk • Geschenkidee • Krieg • Legende der Wächter • Lesen • Literatur • Mut • Schicksal • Selbstfindung • Tiere • Tier-Fantasy • Vulkan • Wolf |
ISBN-10 | 3-473-47536-X / 347347536X |
ISBN-13 | 978-3-473-47536-0 / 9783473475360 |
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