Kommission der Tränen (eBook)

Roman
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2014 | 1. Auflage
384 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-13989-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kommission der Tränen -  António Lobo Antunes
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Ein zerrissenes Land. Eine zerrissene Seele.
Im Werk des weltberühmten Schriftstellers Lobo Antunes haben die Kolonialkriege seines portugiesischen Heimatlandes schon immer einen festen Platz. Nun geht er einen Schritt weiter und schreibt über das postkoloniale Angola, über die Zeit nach der Befreiung von der portugiesischen Herrschaft, als die damalige kommunistische Regierung auf brutale Weise gegen Oppositionelle in den eigenen Reihen vorging. Und es wäre kein Roman von Lobo Antunes, dem Meister der Polyphonie, wenn es nicht viele widerstreitende, melodische und rhythmisch sich abwechselnde Stimmen wären, die von der »Kommission der Tränen« und ihren fatalen Folgen erzählen und davon, wie ein Land seine Unschuld verlor.

Cristina lebt in der Altstadt von Lissabon, in der Nähe des Tejo, hin und wieder aber auch in einer psychiatrischen Klinik, denn sie hört Stimmen, die ihr keine Ruhe lassen. Auch Gegenstände und Pflanzen sprechen zu ihr, aber vor allem sind es ihre frühen Erinnerungen, die sie nicht mehr loslassen. Sie wurde in Luanda, der Hauptstadt Angolas geboren, ihr Vater war Mitglied der MPLA, der marxistischleninistischen Befreiungsbewegung, die nach der Unabhängigkeit des Landes an die Regierung kam. Ihre Mutter, eine weiße Portugiesin, hat er in dem Nachtclub kennengelernt, in dem sie als Tänzerin auftrat. Als es in den späten Siebzigern zu grausamen »Säuberungen« innerhalb der MPLA kam, mit Schnellgerichten, Folterungen und Hinrichtungen, lud er schwere Schuld auf sich und floh später mit seiner Familie nach Portugal. Damals war Cristina fünf Jahre alt. Und doch kann sie nicht vergessen, wie manche der Opfer so lange tanzten, sangen und lachten, bis sie für immer verstummten.

Flirrende Erinnerungen, in denen die Grenzen zwischen Realität und Phantasie verschwimmen, Traumgebilde und Halluzinationen, Wahrheiten und Gegenwahrheiten zeichnen in Lobo Antunes' neuem Roman ein düster leuchtendes Bild Angolas und Portugals, das vielleicht stimmigste Bild einer Zeit, die geprägt war von Schuld und Rache, von Rassismus, Angst und Grausamkeit, einer Zeit, die bis heute nachwirkt.

António Lobo Antunes wurde 1942 in Lissabon geboren. Er studierte Medizin, war während des Kolonialkriegs 27 Monate lang Militärarzt in Angola und arbeitete danach als Psychiater in einem Lissabonner Krankenhaus. Heute lebt er als Schriftsteller in seiner Heimatstadt. Lobo Antunes zählt zu den wichtigsten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. In seinem Werk, das mittlerweile mehr als dreißig Titel umfasst und in vierzig Sprachen übersetzt worden ist, setzt er sich intensiv und kritisch mit der portugiesischen Gesellschaft auseinander. Er erhielt zahlreiche Preise, darunter den »Großen Romanpreis des Portugiesischen Schriftstellerverbandes«, den »Jerusalem-Preis für die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft« und den Camões-Preis.

1.

Nichts, nur von Zeit zu Zeit ein Erschaudern in den Bäumen, und jedes Blatt ein Mund in einer Sprache ohne Beziehung zu den anderen, anfangs zierten sie sich, zögerten, baten sie um Entschuldigung, und dann Worte, die an sie gerichtet waren und deren Sinn zu verstehen sie sich weigerte, wie viele Jahre schon quält ihr mich, ich bin euch nichts schuldig, lasst mich, das als Kind in Afrika und dann in Lissabon, die Mutter trat an den Küchenschrank, in dem sie die Arzneien verwahrte

– Sind es die Stimmen Cristina?

hier in der Klinik Stille, durch die Spritzen verlieren die Dinge ihr Interesse an mir, ein Satz dann und wann, aber ohne Drohungen oder Feindseligkeit, nur der Name

– Cristina

beflissen, freundlich

– Wie geht es dir Cristina?

oder sich beschwerend

– Du hast uns zuletzt nicht mehr beachtet

das Bett, der Tisch und die Stühle trotz einer spürbar lauernden Feinseligkeit beinahe wieder Gegenstände, sie wagte nicht, sie zu berühren, legte sich hin, wobei sie so wenig wie möglich dachte, hoffte, dass die Kissen oder die Betttücher sie nicht spürten, und möglicherweise waren sie ja abgelenkt und spürten sie nicht, sie scheinen nichts zu spüren, denn kein

– Wie geht es dir Cristina?

seit Wochen schon, ausgenommen die Blätter wegen einer Laune des Windes, und die Münder einen Augenblick lang wieder da, was stören mich die Münder, der Klinikdirektor

– Ich überlegte gerade ob ich sie ein paar Tage rauslasse unter der Voraussetzung dass sie die Tabletten nimmt

und in dem

– Ich überlegte gerade ob ich sie ein paar Tage rauslasse unter der Voraussetzung dass sie die Tabletten nimmt

gab es nicht den Schatten einer Suggestion, eines Rates, der Befehl

– Du musst deinen Vater mit dem Messer töten

Gott sei Dank abwesend, beinahe Frieden, gäbe es Frieden, aber den gibt es nicht, es gibt in Luanda rennende Neger, Lastwagen mit Soldaten, Schüsse, Schreie in einem am Strand unter fliehenden Vögeln brennenden Krankenwagen, und als er aufhört zu brennen, kein Schrei, der Vater war Priester, war kein Priester mehr, und die Mutter böse

– Wer hat dir das erzählt Mädchen?

der Vater dunkel, die Mutter hell, sie war, bevor sie ihn kennengelernt hatte, mit dem Schiff gekommen, um in einem Theater zu tanzen, sie hatten es nicht so genannt, hatten einen anderen Namen gebraucht, da sie sich nicht an den Namen erinnerte, sagte sie Theater, und was war schon dabei, Priester gewesen zu sein oder in etwas mit einem anderen Namen zu tanzen, wenn die Stimmen in den Dingen oder in ihrem Kopf fragten

– Wie geht es dir Cristina?

verstummten die Schreie, erlosch der Krankenwagen, nur noch verbogenes Eisen auf dem Sand, etwas, das Körpern ähnelte, das sie für Köpfe hielt, auf der Insel vor dem Strand Überreste von Schiffen, wenn die Stimmen

– Wie geht es dir Cristina?

antwortete sie

– Ausgezeichnet

in der Wohnung in Lissabon sieht man vom verglasten Balkon aus den Tejo, sofern man den Fenstergriff öffnet, denn die Scheiben sind undurchsichtig, als der Mann wegging, der sie eingebaut hatte, die Mutter zum Vater

– Hast du nach all der Zeit immer noch Angst?

der Vater antwortete nicht, zumindest konnten die Bäume des jüdischen Friedhofes sie nicht sehen, und daher keine Drohungen und keine Feindseligkeit, sie blickte den Vater an, der in einer Ecke Schach spielte, auffuhr, sobald Schritte auf der Treppe

– Was hat der Vater Mutter?

und die Mutter, die wegen des Knies für sie nie getanzt hatte

– Dieses Knie

und die Schmerzen mit der Salbe aus der Tube massiert

– Macken

auf die Spüle wie auf einen Handlauf gestützt, denn in ihrem Fall bestand der Fußboden aus unter Mühen einzeln erklommenen Stufen, für uns war er glatt, das Knie zerlegte sich unter dem Rock und setzte sich wieder zusammen

– Macken

nicht so wie von den Blättern der Bäume gesagt, sondern gehaucht, die Mutter, der Zähne fehlten

– Warum fehlen Ihnen Zähne Mutter?

bissen mit riesigen Schneidezähnen das

– Macken

dessen Falten man glätten musste, um es zu hören, auf der Kommode ein Foto von damals, als sie in der zweiten Reihe von Tänzerinnen mit Federn und Pailletten tanzte, der Fingernagel, auf dem kaum noch Lack war, auf dem Rahmen plattgedrückt

– Das bin ich

will heißen nur Federn, kein Gesicht, hinter den größeren Federn die Federn meiner Mutter beleidigt

– Sie verdeckten uns immer

aber zum Glück schwiegen sie sofort, befahlen mir nicht, das Messer zu nehmen oder was auch immer kaputtzumachen, jedes Blatt ein Mund, daher den Finger warnend auf- und abbewegen, der niemals lackiert gewesen und, wäre er es, nicht ihrer war

– Vergesst mich

Menschen rennen durch Luanda, und der Fingernagel meiner Mutter verlässt das Foto

– Ich war keine wichtige Choristin

die Sonne außen an den undurchsichtigen Fensterscheiben, würde sie sie mit einem Nagel einritzen, aber in welcher Schublade sind Nägel, und wo sie den Werkzeugkasten verwahrten, wusste sie nicht, dann könnte sie die Sonne sehen, genauso wie die brennenden Krankenwagen mit denselben Schreien und derselben Aufregung darin, eines Abends hat sie die Streichhölzer aus der Speisekammer genommen und versucht, die Gardine anzuzünden, damit die Schreie verstummten, die das Wohnzimmer durcheinanderbrachten, aber die Mutter und ihr Knie humpelten die Stufen hinauf, die sich für sie bildeten, und sie nahm ihr die Streichhölzer weg, anstatt sie zu schlagen, drückte sie ihre Nase gegen den Bauch, da weinen die Erwachsenen nämlich, der Bauch hüpfte

– Warum hüpft Ihr Bauch Mutter?

und weit weg von der Nase, im Bauch versunken, eine Kehle, die keiner von uns beiden gehörte, wem gehörte die Kehle, die ebenfalls hüpfte, als die Mutter sie losließ, die Augen des Vaters selbstverloren auf ihr, fast brachten sie sie dazu, vor Seelenangst niederzuknien, sie antwortete ebenfalls mit den Augen

– Ich werde mich Ihretwegen nicht aufregen

und nicht nur die Augen, die Atmosphäre rings um die Augen, der Klinikdirektor

– Ich überlegte gerade ob ich sie ein paar Tage rauslasse unter der Voraussetzung dass sie die Tabletten nimmt

die Atmosphäre rings um die Augen ähnlich wie die alter Häuser, in denen niemand wohnt, auch nicht die Erinnerung der Toten, und dennoch heftet sie sich an einen und bleibt, wandert auf Echos verzichtend durch die Zimmer, ein Morgenmantel auf einem Samtsessel

– Ich gehöre niemandem bin allein

die Mutter

– Cristina

und was heißt hier Cristina, Senhora, wenn Sie wollen, dass ich antworte, rufen Sie mich, wie es sich gehört, mit dem Mund der Blätter, hinter den Spritzen wisperten die Stimmen, sie beugte sich zu ihnen vor

– Wie bitte?

und eine hinter ihrem Rücken, so traurig

– Wir dürfen uns nicht unterhalten Cristina

wenn sie wenigstens mit einem Nagel die Scheibe anritzen könnte, die sie von den Stimmen trennte, und indem sie sie von den Stimmen trennte, trennte sie sie von allem, von den Menschen, die in Luanda rannten, von den Lastwagen der Soldaten, den Schreien, ich war weder neugierig noch erschrocken, war geistesabwesend, hin und wieder stürzten Menschen und schleppten sich wie das Knie meiner Mutter ein paar Meter weiter, bevor sie zu Erdboden wurden, ein kleines Mädchen schaffte es bis zu ihrem Schuh, legte leicht die Wange auf die Schuhspitze, ließ die Schuhspitze los, gab auf, die Mutter wischte zu Hause das Blut mit dem Schwamm für die Töpfe ab, natürlich nicht in der Wohnung in Lissabon, in Luanda, gleich hinter Muxima, mit Steinwürfen gelöschte Laternen, von Maschinengewehren geblendete Balkons, wenn das Telefon zu schluchzen begann, verteidigte der Vater den Apparat mit ausgebreiteten Ärmeln

– Nehmt nicht ab

ohne sich ihm zu nähern, interessierte sie sich

– Sind Soldaten am Telefon Vater?

das Gesicht der Mutter, nicht die Lippen

– Halt den Mund

die Lippen reglos, Menschen, die an die Tür klopften, die Tür verließen und weiterrannten, nach all diesen Jahren hörten sie nicht auf zu rennen, manchmal dachte sie, dass Stille herrschte, aber es herrschte keine Stille, noch immer die Menschen, noch immer der Krankenwagen, noch immer die Lastwagen, wer würde ihnen das Blut mit dem Schwamm von den Schuhen wischen, jedes Möbelstück atmete für sich allein, nicht gemeinsam mit den anderen wie üblich, wenn sie gemeinsam atmeten, war das Wohnzimmer das Wohnzimmer, atmeten sie ein jedes für sich, verstand sie nicht, wo sie sich befand, Fragmente von Kommoden, von Gefühlen, von Schränken

– Wo leben wir?

der Vater schrieb, das Papier mit dem Ellenbogen bedeckt, er stieg aus einem Polizeijeep, kam morgens nach Haus, die Krawatte in der Tasche zusammengerollt und mit Flecken, deren Herkunft nicht zu erraten war, auf dem zerknautschten Anzug

– Streitet nicht mit mir

die Möbelstücke nicht nur ein jedes für sich, sondern durchsichtig, man erkannte das Besteck auf den Borden, Servietten, Knäuel aus Kordeln, Altardecken

– Haben Sie die Kirche ausgeraubt Vater?

Schüsse, nicht von einem Gewehr, stärkere, die Fassade der Schule in Trümmern, aus denen Diebe mit Karteikästen und Landkarten herauskamen, sogar beim Abschreiben machtest du Fehler,...

Erscheint lt. Verlag 27.10.2014
Übersetzer Maralde Meyer-Minnemann
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Comissao das Lagrimas
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abenteuerroman • Angola • angolanischer Bürgerkrieg • Busch • eBooks • Foltermethoden • Roman • Romane • Stimmen • Wahrheitsfindung
ISBN-10 3-641-13989-9 / 3641139899
ISBN-13 978-3-641-13989-6 / 9783641139896
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