Versunken (eBook)
512 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-12602-5 (ISBN)
Sabine Thiesler, geboren und aufgewachsen in Berlin, studierte Germanistik und Theaterwissenschaften. Sie arbeitete einige Jahre als Schauspielerin im Fernsehen und auf der Bühne und schrieb außerdem erfolgreich Theaterstücke und zahlreiche Drehbücher fürs Fernsehen (u.a. Das Haus am Watt, Der Mörder und sein Kind, Stich ins Herz und mehrere Folgen für die Reihen Tatort und Polizeiruf 110). Ihr Debütroman »Der Kindersammler« war ein sensationeller Erfolg, und auch all ihre weiteren Thriller standen auf der Bestsellerliste.
1
Westliches Mittelmeer
Malte lag in seiner Koje und starrte an die Holzdecke direkt über seinem Kopf. Er kannte jede Maserung und jedes Loch im wurmstichigen Holz, den Verlauf der Risse konnte er bei geschlossenen Augen nachzeichnen, und das Wort »Fuck«, das irgendjemand schon vor Jahren ungelenk und kraklig in die spröden Bretter gekratzt hatte, war das Letzte, was er jeden Tag vor dem Einschlafen mit in seine Träume nahm.
Er hatte Seeleute erlebt, die drei Monate auf dem Kahn arbeiteten und sich allein mit diesem Fluch durchschlugen. Sie brüllten ihn, wenn das Essen verdorben und die Suppe sauer war, aber auch, wenn es ausnahmsweise einen Viertelliter Whisky gab. Sie brummten ihn, wenn sie die Wache verließen oder sich, noch völlig verschlafen, zur Stelle meldeten. Und wenn sie das Deck schrubbten und sahen, dass ein Schiff auf Kollisionskurs war, oder wenn der Sturm ihnen um die Ohren fegte, schrien sie dasselbe Wort. Mehr brauchte man offensichtlich nicht auf der Blue Bird, diesem miesen Seelenverkäufer, der Eisenschrott geladen hatte, auf dem Weg von Brisbane nach Bremerhaven war und unter philippinischer Flagge fuhr, um Steuern und Versicherungen zu sparen. Das Schiff war verrostet, reparaturbedürftig und völlig am Ende. Malte wunderte sich jeden Tag, dass es überhaupt noch schwamm.
Seine Augen flackerten. Er hatte jetzt achtundzwanzig Stunden nicht geschlafen, eine Doppelschicht geschoben, bei der Arbeit unentwegt Kaffee getrunken und dazu nur ein paar staubige Kekse gegessen, die nach Mottenpulver schmeckten. Er war hundemüde und sehnte sich danach, einfach abzutauchen und nach einigen Stunden ausgeruht zu erwachen, aber es gelang ihm nicht.
Vor zehn Jahren hatte er seinen alten Job als Binnenschiffer sausen lassen und als einfacher Seemann angeheuert, weil er die Flussfahrerei satthatte und nur noch hinaus aufs Meer wollte.
In kürzester Zeit hatte er sich auf der Blue Bird hochgearbeitet und immer mehr Verantwortung übernommen. Und schließlich übte er den einigermaßen gut bezahlten, aber auch verhasstesten Job aus, den ein Frachter überhaupt zu vergeben hatte: Malte hatte als Bootsmann die Aufgabe, die Befehle des Kapitäns an die Mannschaft weiterzuleiten und alle anfallenden Arbeiten zu koordinieren.
Alle Nationalitäten dieser Welt waren normalerweise in so einer Mannschaft zusammengewürfelt, von denen kaum einer einen Brocken Englisch verstand. Eine fast unlösbare Aufgabe. Malte hatte zwischen Malaien, Kroaten, Bulgaren und Rumänen vermittelt und sein Bestes versucht, sich aber nur Feinde geschaffen.
Denn da war Chiang Lu.
Chiang Lu war ein kleiner, dicker Chinese mit einem runden, fleischigen Gesicht, in dem es keine Augen zu geben schien. Auf den ersten Eindruck wirkte er plump, aber er hatte ungeheure Kraft, die man bei einer so fetten und behäbig scheinenden Person gar nicht vermutete. Außerdem konnte er sich blitzschnell bewegen, die Beine gegen die Deckenlampe oder gegen Köpfe schnellen lassen und aus der Hocke einen Meter hoch springen.
Chiang Lu war der Chef über eine Gang von sieben Chinesen und einem Ukrainer. Die Jungs schienen ihm hörig und taten alles, was er wollte.
Aber vor allem hatte Chiang Lu seinen Schatten Yao Yan.
Yao Yan war mager und relativ schwachsinnig. Er verstand nie, worum es ging, aber er tat alles, was Chiang Lu ihm befahl. Bedingungslos. Er hätte sich selbst die Hand abgehackt, wenn Chiang Lu es verlangt hätte. Yao Yan war eine zähe, blöde Kampfmaschine, die keinen Schmerz und keine Empathie kannte – nur die Befehle von Chiang Lu.
Malte hatte mehrere Male mit dem Kapitän gesprochen und ihn gebeten, Yao Yan sobald wie möglich abzuheuern, aber der Kapitän hatte jedes Mal abgewinkt. »Er arrrbeitet gutt«, hatte er geknurrt, »wass willst du noch? Mit wem er befreundet ist, interrresssierrt mich nicht.«
Kapitän Jósef Adamczyk kam aus Danzig, hatte schon als Kind immer am Hafen herumgelungert, sich durchgebissen, aus den allerärmsten Verhältnissen hochgearbeitet und es bis zum Kapitän geschafft. Er ertrank zwar regelmäßig im Wodka, war aber immer bereit, einem armen Hund wie Yao Yan eine Chance und einen Job zu geben. Es musste schon viel passieren, bis Adamczyk einen rausschmiss.
Denn Yao Yan arbeitete wirklich wie in Pferd. Er schien nie zu schlafen, nie zu essen, er war immer auf dem Sprung. Wenn er versuchte, etwas zu sagen, schlug sich Chiang Lu einmal kurz aufs Knie, und Yao Yan hielt die Klappe. Yao Yan funktionierte wie ein Motor, den man programmieren und an- und abschalten konnte.
Und den Schalter hatte Chiang Lu in der Hand.
Vor knapp zwei Monaten waren sie in Brisbane in See gestochen, und ihre Route führte sie über Sydney, Melbourne, Adelaide, Marseille, Antwerpen, Rotterdam bis nach Bremerhaven. Eine gewaltige Tour. Unzählige lange Tage auf See, in denen er Chiang Lu, seiner Gang und all den anderen Idioten nicht aus dem Weg gehen konnte. Eine Tortur, denn je länger nichts als Wasser um die Mannschaft herum war, desto aufsässiger wurde sie. Es gab nur fünfzehn Besatzungsmitglieder an Bord, die rund um die Uhr im Schichtdienst arbeiteten, chronisch übermüdet waren und jede Minute Schlaf brauchten.
Sie hatten die entsetzlich lange Fahrt über den Indischen Ozean, durch das Rote Meer und den Suezkanal nach vierzig Tagen hinter sich gebracht, das Mittelmeer erreicht, waren jetzt östlich von Korsika und nahmen Kurs auf Marseille.
Malte konnte Chiang Lus selbstgefälliges Grinsen, das er ständig an den Tag legte, nicht mehr ertragen. Denn er tat grundsätzlich nie das, was man von ihm verlangte, sondern nur das, was er selbst wollte. Wenn Malte Chiang Lus fleischiges, dickes, rosafarbenes Gesicht sah, hatte er Lust, es platt zu klopfen wie ein Filetsteak.
Malte lag in Jeans und T-Shirt auf dem Bett. Seine Kabine war so eng, dass er nur aus der Koje aufstehen konnte, wenn er den Tisch einklappte. Aber es war ihm egal. Hauptsache, allein. Das war schon ein großes Privileg, die Matrosen teilten sich zu viert eine Kabine, dort war weniger Platz als in einer Legebatterie. Und es stank wie im Pumakäfig.
Hier in seiner eigenen Enge konnte Malte wenigstens atmen.
Er zählte die Wurmlöcher an der Decke, versuchte einzuschlafen, aber fand keine Ruhe. Seine Gedanken rasten. Nach einer Weile wurde ihm klar, dass er nicht einschlafen konnte, weil er die Schritte von Chiang Lu und den anderen nicht hörte. Das Deck, auf dem sie Wache schieben sollten, war genau über seiner Kabine, und Chiang Lu war als Rudergänger eingeteilt. Normalerweise hörte er jeden Schritt, nur heute herrschte Totenstille.
Er horchte, konzentrierte sich – und wurde immer wacher.
Diese verfluchte Bande. Wahrscheinlich saßen sie im Aufenthaltsraum oder sonst irgendwo und spielten Karten. Nie würde er auf diesem Dampfer Ruhe finden und auch nur für fünf Minuten die Verantwortung ablegen können. Nie.
Und wer – zum Teufel – fuhr das Schiff? Denn dass der Alte, der Erste Offizier oder der Steuermann auf der Brücke waren, glaubte er nicht.
»Hau dich hin«, hatte der Kapitän vor einer Stunde gesagt, »du kannst ja kaum noch aus den Augen gucken. Chiang Lu übernimmt das Rrrruder, und die zwei anderrrn Chinesen schieben Wache. Penn dich aus.«
Er horchte weitere zehn Minuten, dann zog er seine Bootsschuhe an und ging auf die Brücke.
Dort war weit und breit niemand zu sehen. Kein Chinese, kein Steuermann und kein Kapitän. Der Einzige, der auf diesem Schiff anscheinend noch arbeitete, war der Autopilot.
Malte fluchte, trat gegen den Kartenschrank, dass die Tür bedenklich krachte, und zog los, um die faule Bande zu suchen.
Auf dem oberen Vorderdeck saßen sie in trauter Eintracht, rauchten Opium in der Wasserpfeife, waren total bekifft und interessierten sich einen Dreck für den Kurs des Schiffes.
»Was soll das, ihr Idioten?«, schrie Malte. »Seid ihr bescheuert? Ihr sollt aufpassen, verdammte Scheiße! Ihr habt Wache! Chiang Lu, du sollst am Ruder stehen, du fauler Hund! Oh, Shit! Kapiert ihr das nicht, ihr Schwachköpfe?«
Chiang Lu schwieg und grinste wie immer.
Das brachte Malte vollkommen aus der Fassung. Er ging zwei Schritte auf Chiang Lu zu, entriss ihm die Wasserpfeife und warf sie über Bord.
Chiang Lu sprang auf und schrie: »Yao Yan!«
Sein Schatten war in Bruchteilen von Sekunden zur Stelle, und Malte sah aus dem Augenwinkel im Licht der Decksbeleuchtung etwas aufblitzen. Es war eine Warnung, nur eine Hundertstelsekunde lang, aber es genügte, denn Malte war immer auf der Hut.
Als der Chinese auf ihn zusprang, war Malte schneller, riss sein Messer aus dem Gürtel und rammte es Yao Yan bereits im Sprung in die Kehle.
Yao Yan fiel wie ein Stein, und das Blut sprudelte wie eine Fontäne aus seinem Hals.
Chiang Lu stieß einen Schrei aus, der die Chinesen alarmierte, und Malte sah, dass jetzt alle auf ihn zustürzten.
Im letzten Moment schoss er davon, rannte übers Deck, verschwand im Niedergang, sprang, immer drei Stufen auf einmal nehmend,...
Erscheint lt. Verlag | 15.9.2014 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | eBooks • Elba • Hai • Identitätsraub • Inspektor Neri • Kindheitstrauma • Mittelmeer • Mord • Psychothriller • Schiff • Thriller • Toskana • Toskana, Elba, Yacht, Donato Neri, Identitätsraub, Kindheitstrauma, Mittelmeer, Hai, Schiff • Yacht |
ISBN-10 | 3-641-12602-9 / 3641126029 |
ISBN-13 | 978-3-641-12602-5 / 9783641126025 |
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