Kunst als menschliche Praxis (eBook)

Eine Ästhetik
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2014 | 1., Originalausgabe
225 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73397-4 (ISBN)

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Kunst als menschliche Praxis - Georg W. Bertram
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In der Theorie und Philosophie der Kunst wird gemeinhin die Differenz der Kunst zu anderen menschlichen Praktiken betont. Dies führt dazu, dass weder die Pluralität der Künste noch die Relevanz der Kunst im Rahmen der menschlichen Lebensform hinreichend verständlich werden. Georg W. Bertram plädiert aus diesem Grund für einen Neuansatz in der Bestimmung von Kunst und verteidigt die These, dass in der Auseinandersetzung mit Kunstwerken unterschiedliche Bestimmungen der menschlichen Praxis neu ausgehandelt werden. In diesem Sinne ist Kunst eine hochproduktive reflexive Praxis im Rahmen des menschlichen Weltverhältnisses. Mehr noch: Kunst ist eine Praxis der Freiheit.

Georg W. Bertram ist Professor für theoretische Philosophie (mit Schwerpunkten in Ästhetik und Sprachphilosophie) an der Freien Universität Berlin. Im Suhrkamp Verlag sind zuletzt erschienen: <em>Kunst als menschliche Praxis. Eine Ästhetik</em> (stw 2086) und <em>Die Kunst und die Künste. Ein Kompendium zur Kunsttheorie der Gegenwart</em> (hg. zus. mit Stefan Deines und Daniel Martin Feige, stw 2346).

[Cover] 1
[Informationen zum Buch / zum Autor] 2
[Impressum] 4
Inhalt 5
Widmung 7
Vorbemerkung 9
Einleitung 11
Kapitel 1: Eine Kritik des Autonomie-Paradigmas 23
1. Kunst als ein anderes Gutes: Menke 26
2. Kunstwerke als bedeutungsvolle Gegenstände: Danto 37
3. Das Autonomie-Paradigma und seine Verkürzungen 46
4. Auf dem Weg zu einem unverkürzten Kunstbegriff: Kunst im Rahmen der menschlichen Lebensform 51
Kapitel 2: Von Kant zu Hegel und darüber hinaus 59
1. Kunst als Reflexion von Erkenntnisfähigkeit: Kant 62
2. Kunst als Verlebendigung wesentlicher Orientierungen: Hegel 70
3. Praktische Reflexion 79
4. Über Kant und Hegel hinaus: ästhetische Freiheit 88
Kapitel 3: Autonomie als Selbstbezüglichkeit. Die praktische Reflexion der Kunst 95
1. Die sinnliche Materialität der Kunst: Hegel 99
2. Kunstwerke als spezifisch sinnliche Muster: Goodman 102
3. Die Spezifik der Kunst interaktiv verstanden: ein programmatischer Aufriss 109
4. Die selbstbezügliche Konstitution von Kunstwerken 113
5. Interpretative Aktivitäten in der Auseinandersetzung mit Kunstwerken 121
6. Interpretative Aktivitäten und die Objektivität der Kunst 131
7. Kunst als reflexive Praxis, erster Teil 139
8. Eine allgemeine Ästhetik? 146
Kapitel 4: Kunst als Praxis der Freiheit 151
1. Generische Konstellationen: Die Pluralität der Kunstwerke und der Künste 157
2. Ästhetische Erfahrung 170
3. Die Modernität von Kunst und das Ringen um ästhetisches Gelingen 178
4. Ästhetische Urteile und die Klassifikation von Kunstwerken 191
5. Die Grammatik des Kunstbegriffs und der Streit um die Kunst 205
6. Kunst als reflexive Praxis, zweiter Teil: Kunst als kritische Praxis 211
Literatur 220

11Einleitung


Ludwig Wittgenstein hat in seiner Spätphilosophie einen grundlegenden Versuch unternommen, unserem Denken neue Wege aufzuzeigen. Wittgenstein artikuliert diesen Versuch, indem er davon spricht, es gelte, einen Aspektwechsel zu vollziehen.[1] »Sieh es doch so!« ist die eindringliche Aufforderung, mit der Wittgensteins philosophische Umdeutung einsetzt. Auch dieses Buch verlangt eine Übung in der Schule des Aspektwechsels. Es plädiert dafür, eine vertraute und liebgewordene Perspektive auf Kunst in Frage zu stellen, für die der Gedanke zentral ist, dass Kunst sich von anderen Praktiken des menschlichen Lebens abgrenzt. Kunst weist demnach Besonderheiten auf, die sie von Nicht-Kunst unterscheidet. Zentral für einen Begriff der Kunst sei der Unterschied von Kunst zu anderem. Die folgenden Überlegungen machen den Vorschlag, Kunst anders zu sehen. Sie steht, so der Grundgedanke der hier entwickelten und verteidigten Sichtweise, in einer tiefgreifenden Kontinuität zu anderen menschlichen Praktiken, da sie nur durch ihre Bezugnahme auf diese Praktiken überhaupt das Potential gewinnt, das für sie spezifisch ist.

Einen entsprechenden Perspektivwechsel in der Bestimmung von Kunst haben nicht zuletzt viele künstlerische Interventionen der letzten 100 Jahre angemahnt, indem sie zum Beispiel die Unterscheidung von Kunst und Nicht-Kunst unterlaufen haben. Viele in dieser Zeit entstandene Kunstwerke und ästhetische Ereignisse machen deutlich, dass Kunst ein Teil der menschlichen Praxis ist. Nun ist Kunst auch nicht einfach eins mit der menschlichen Praxis, denn sie weist zweifelsohne Besonderheiten auf: Kunstwerke entstehen aus besonderen Materialien, setzen eine besondere Materialbeherrschung voraus, verlangen sowohl auf Seiten der Produzierenden als auch auf Seiten der Rezipierenden bestimmte Kenntnisse in Bezug auf die Gattungen und Epochen der Künste 12sowie spezifische Wahrnehmungsfähigkeiten. Zudem beruhen sie auf besonderen Traditionen, etwa der Entwicklung der Künste in Europa seit der Renaissance. Aber kann der Begriff der Kunst bei ihnen ansetzen? Strömungen in der neueren und neuesten Kunst – etwas der Dokumentarismus oder das postdramatische Theater –, die die Kunst als integralen Teil der menschlichen Praxis begreifen, sind von theoretischer Seite als Herausforderungen für den Begriff der Kunst gewürdigt worden, weil die Kunst sich in ihnen gegen Grundlagen gewandt habe, die vormals selbstverständlich für sie waren. Dadurch ist eine neue Kunst entstanden, die allen Anspruch auf künstlerische Besonderheit aufgegeben hat.

Solche Entwicklungen in den Künsten geben aus meiner Sicht Anlass dazu, der Spezifik der Kunst nicht unbesehen zu vertrauen. Stattdessen sollte man nach der Stellung fragen, die Kunst im Rahmen der menschlichen Praxis hat. Oder anders gesagt: Man sollte fragen, welchen Platz Kunst im geistigen Haushalt des Menschen einnimmt. Handelt es sich einfach um eine Praxis, die im Kontrast zu anderen Praktiken bestimmt werden kann? Ist Kunst eine Praxis wie das Spazierengehen oder Kuchenbacken, nur dass sie – wie diese auch – einige Besonderheiten aufweist? Ich werde die These vertreten, dass dies nicht der Fall ist. Kunst ist eine Praxis, für die ein Bezug auf andere Praktiken wesentlich ist und die aus diesem Grund nicht in Abgrenzung von anderen Praktiken, sondern unter Rekurs auf die Art und Weise dieses Bezugs zu begreifen ist. Charakteristisch für Kunst ist dabei eine komplexe Verbindung von Typen von Praktiken, die ich im Folgenden als »Praxisform« bezeichne. Im Vokabular der philosophischen Ästhetik ausgedrückt: Die Autonomie der Kunst lässt sich nicht als Unabhängigkeit von anderen menschlichen Praktiken fassen. Positionen, die das behaupten, gehören zu dem von mir so genannten Autonomie-Paradigma. In kritischer Auseinandersetzung mit diesem Paradigma argumentiere ich für ein anderes Verständnis ästhetischer Autonomie, wonach diese als ein Aspekt ebenjenes Zusammenhangs zwischen Kunst und der sonstigen menschlichen Praxis zu begreifen ist. In anderen Worten: Ästhetische Autonomie muss als Aspekt der Praxisform der Kunst begriffen werden, wenn sie nicht in einer irreführenden Weise gedeutet werden soll.

Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die menschliche Lebensform eine in besonderer Weise reflexiv konstituierte Lebens13form ist. Menschen sind das, was sie sind, nicht von Natur aus. Sie sind auch nicht schlicht aus einer Tradition heraus in dem bestimmt, was sie ausmacht. Menschen haben das, was sie sind, vielmehr auch immer wieder neu zu bestimmen. Was der Mensch ist, ist er immer auch dadurch, dass er Stellung nimmt, und zwar zu sich, und dieses Stellungnehmen ist als ein praktisches Geschehen zu begreifen. Das heißt: Die kontinuierliche Neubestimmung des Menschen geht wesentlich von Praktiken aus, die zur Gattung der reflexiven Praxisformen gehören. Letzteres gilt auch für die Kunst: Sie ist nicht einfach eine spezifische Praxis, sondern eine spezifisch reflexive Praxisform – eine spezifische Ausprägung von Praktiken, mittels deren Menschen im Rahmen einer kulturellen Praxis Stellung zu sich nehmen.

Reflexionspraktiken gibt es viele. Besonders vertraut ist uns das Sprechen über Sprache, das immer wiederkehrende Kommentieren und Explizieren dessen, was Menschen sagen und schreiben. Reflexionspraktiken umfassen aber auch religiöse Vorstellungen (zum Beispiel das Selbstverständnis von sich als Gottesebenbild etc.), seelsorgerische und therapeutische Gespräche sowie theoretische Disziplinen unter den Wissenschaften, wobei unter diesen der Philosophie eine besondere Rolle zukommt: Sie ist die Reflexionswissenschaft par excellence – ihr Wesen erschöpft sich darin, Reflexion zu sein. Auch die Kunst erbringt innerhalb der menschlichen Praxis Reflexionsleistungen. Mit dieser Bestimmung von Kunst will ich nicht nur das Autonomie-Paradigma in Frage stellen. Ich richte mich damit auch gegen die in der Kunsttheorie und Kunstphilosophie verbreitete Tendenz, Kunst als ein antisubjektives Geschehen zu begreifen. Im Anschluss an Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche und andere ist immer wieder die These vertreten worden, Kunst befreie das Subjekt, indem sie das selbstbestimmte Subjekt herausfordere. Sie breche die Sicherheit selbstbeherrschter Praktiken auf, die ein Subjekt auszuführen weiß. Dieser Ansatz fußt auf der problematischen Voraussetzung, selbstbestimmte Subjektivität sei gegeben oder irgendwie abgeschlossen realisiert. Das Subjekt, so die Unterstellung, führe seine nichtästhetischen Praktiken selbstbeherrscht und selbstbestimmt aus. Diese Voraussetzung lässt sich meines Erachtens nicht halten, denn Selbstbeherrschung und Selbstbestimmung stehen auch in alltäglichen Praktiken immer wieder zur Disposition, wie nicht zuletzt die Psychoanalyse uns ge14lehrt hat. Selbstgegenwart und Selbstbestimmung sind nicht selbstverständlich gegeben, sondern vielmehr ein Fluchtpunkt menschlicher Praktiken. Und dieser Fluchtpunkt – das ist entscheidend – kann auf unterschiedliche Weise anvisiert werden. Wenn man Subjektivität in dieser Weise, das heißt als offen, begreift, lässt sich die Kunst so verstehen, dass sie einen Beitrag zur Subjektwerdung leistet. Entsprechend wird das Subjekt in der Kunst nicht von sich selbst befreit, sondern von ihr geprägt – allerdings auf andere Weise als von den übrigen Reflexionspraktiken.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, den Begriff der Reflexion richtig zu fassen, da dieser häufig in einer kognitivistischen und propositionalistischen Weise verengt wird. In kognitivistischer Verengung wird Reflexion als theoretische Praxis begriffen; in propositionalistischer als eine rein begriffliche Praxis. Dass beide Verständnisse nicht angemessen sind, deutet sich an, wenn man sich zum Beispiel die Rolle vor Augen führt, die religiöse Vorstellungen innerhalb der menschlichen Lebensform spielen. Diese lassen sich schwerlich als theoretisch begreifen, denn sie haben eine grundlegend praktische Dimension. Und es ist auch unklar, ob wir ihnen in Gänze gerecht werden, wenn wir sie als »begrifflich« bezeichnen. Es handelt sich aber zweifelsohne – wie Hegel glasklar gesehen hat – um Vorstellungen, mittels deren Menschen sich selbst zu begreifen suchen, also um Elemente von Reflexion. Eine wie auch immer verengte Fassung des Reflexionsbegriffs ist insbesondere dann problematisch, wenn man begreifen will, was Kunst ist. Sie schlägt sich in der Kunstphilosophie in einer eigentümlichen Pendelbewegung nieder. Von manchen Theorien werden Kunstwerke, wie bereits angesprochen, von der sonstigen Praxis abgesondert. Andere wiederum behaupten, es sei problematisch, Kunstwerke in ebendieser Art und Weise zu betrachten, denn sie seien Gegenstände wie andere – allerdings solche mit besonderen Eigenschaften. Jedoch landet man dann sehr rasch bei der Einsicht, dass Kunstwerke doch keine Gegenstände im alltäglichen Sinn von »Gegenstand« sind und damit wieder bei der Sonderstellung der Kunst.[2] Man dreht sich im Kreis.

All dies ist ein Symptom dafür, dass Kunst gegenständlich, also nicht als Reflexionspraxis gefasst wird. Überraschend ist das nicht, 15denn die Welt besteht aus vielen Typen von Gegenständen – Steinen, Wäscheständern, Kraftfahrzeugen und dergleichen – und darunter findet sich eben auch ein besonderer Typ, den wir Kunstwerke nennen (zumindest wenn wir erst einmal an Werke der im weitesten Sinn bildenden Künste denken). Das verleitet dazu, über die Spezifik dieser Gegenstände nachzudenken: Worin besteht die Besonderheit ihres Typs? Warum ›funktionieren‹ sie anders als die anderen Gegenstände unserer Praxis? Eine in diesem Sinn betriebene Ontologie des...

Erscheint lt. Verlag 19.5.2014
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Ästhetik • Kunst • Kunstphilosophie • Mensch • Praxis • STW 2086 • STW2086 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2086
ISBN-10 3-518-73397-4 / 3518733974
ISBN-13 978-3-518-73397-4 / 9783518733974
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