Beutezeit (eBook)

Roman

(Autor)

Tamara Rapp (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2014 | 1. Auflage
288 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-14135-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Beutezeit -  Jack Ketchum
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Wenn Menschen zu Bestien werden
Drei junge Paare wollen eine Urlaubswoche in einem abgelegenen Ferienhaus an der amerikanischen Ostküste verbringen. Was sie nicht wissen: Die Gegend wird von einer Gruppe Verwahrloster heimgesucht, die unter primitivsten Bedingungen leben und Urlauber nur als Beute betrachten. Die Jagd beginnt ...

Jack Ketchums brillanter Debütroman gilt schon lange als Klassiker der Horrorliteratur. Sein entlarvender Blick auf die Grundmauern unserer Gesellschaft ist ein schockierender Kommentar auf die Frage, wo Menschlichkeit und Zivilisation aufhören und die Herrschaft ungezügelter Brutalität beginnt.

Jack Ketchum ist das Pseudonym des ehemaligen Schauspielers, Lehrers, Literaturagenten und Holzverkäufers Dallas Mayr. Er gilt heute als einer der absoluten Meister des Horror-Genres. 2011 wurde er zum Grand Master der World Horror Convention ernannt. Er erhielt fünfmal den Bram Stoker Award, sowie 2015 den Lifetime Achievement Award der Horror Writers Association. Jack Ketchum verstarb am 24. Januar 2018 in New York City, New York.

0.26 Uhr


Sie beobachteten, wie sie die Wiese überquerte und nach der niedrigen Steinmauer auf den Wald zusteuerte. Sie wirkte unbeholfen. Ein leichter Fang.

Sie ließen sich Zeit. Brachen die weißen Birkenruten ab und schälten die Rinde herunter. Sie hörten, wie sie durchs Unterholz stapfte. Lächelnd sahen sie sich an, aber sie sagten nichts. Sie schälten die Ruten, und dann gingen sie ihr nach.

 

Sie dankte Gott für das Mondlicht. Fast hätte sie das alte Kellerloch übersehen, und es war tief. Nach einem vorsichtigen Bogen um die Stelle lief sie weiter durch das hohe Gras und Schilf, vorbei an Weiß- und Schwarzkiefern, Birken und Pappeln. Unter den Füßen Moos und Flechten. Geruch nach Moder und Immergrün. Sie hörte, wie sie mit hellen, musikalischen Stimmen durch das Gestrüpp hinter ihr brachen. Spielende Kinder im Dunkeln. Sie erinnerte sich an die Hände; raue, starke kleine Hände mit langen, scharfen, schmutzigen Nägeln, die über ihre Haut scharrten, als sie nach ihr grapschten. Sie erschauerte. Sie hörte ihr Lachen von ganz nahe. Vor ihr wurde der Wald immer dichter.

Sie musste jetzt langsamer gehen. Sie konnte fast nichts mehr sehen. Lange Zweige zupften an ihrem Haar und stocherten grausam nach ihren Augen. Sie hielt die Arme über Kreuz, um ihr Gesicht zu schützen. Schartiges Holz schürfte über ihre Haut, und sie begann zu bluten. Hinter ihr blieben die Kinder stehen und lauschten. Sie fing an zu weinen.

Blöd, dachte sie. Blöd, dass sie ausgerechnet jetzt zu weinen anfing. Sie hörte wieder ihre Bewegungen in der Nähe. Konnten sie sie sehen? Sie stürzte weiter durch das dichte Gestrüpp. Alte, brüchige Zweige stachen durch ihr dünnes Baumwollkleid, als wäre sie nackt, und neue, blutige Risse entstanden auf den Armen, den Beinen und dem Bauch. Der Schmerz hielt sie nicht auf, er trieb sie voran. Sie gab es auf, ihr Gesicht zu schützen und die Äste mit den Armen zurückzuschlagen, und bahnte sich krachend einen Weg durch das Dickicht zur Lichtung.

Sie holte tief Luft, und auf einmal roch sie das Meer. Es konnte nicht mehr weit sein. Sie begann zu laufen. Vielleicht gab es dort Häuser, Fischerhütten. Irgendjemanden. Die Wiese war lang und breit. Bald hörte sie vor sich die Brandung, und sie warf ihre Schuhe ab, um auf das Geräusch zuzurennen. Gleichzeitig brachen elf blasse kleine Gestalten durch die letzten Ausläufer des Unterholzes und entdeckten sie im Mondlicht.

Sie konnte nichts vor sich sehen, keine Häuser, keine Lichter. Bloß das hohe Gras auf der weiten Ebene. Und wenn nur das Meer vor ihr lag? Dann saß sie in der Klemme, in der Falle. Doch daran durfte sie jetzt nicht denken. Beeil dich, dachte sie, schneller. Sie spürte einen bohrend kalten Schmerz in der Lunge. Die Brandung war jetzt lauter. Das Meer war ganz nah, irgendwo gleich hinter der Wiese.

Sie hörte sie hinter sich rennen und wusste, dass sie ebenfalls ganz nah waren. Sie lief mit einer Kraft, die sie selbst überraschte. Jetzt hörte sie ihre Verfolger lachen. Ihr Lachen war schrecklich: kalt, böse. Sie bemerkte, wie einige zu ihr aufholten. Ohne Mühe hielten sie sich neben ihr, beobachteten sie grinsend, ihre Zähne und Augen glitzerten im Mondlicht.

Sie wussten, dass sie wehrlos war. Sie spielten mit ihr. Sie konnte nur laufen und trotz allem die Hoffnung nicht aufgeben, dass ihnen das Spiel irgendwann zu langweilig wurde. Kein einziges Haus in der Nähe. Sie würde allein sterben. Sie hörte eins der Kinder jaulen wie einen Hund, und plötzlich peitschte ihr etwas von hinten über die Beine. Der Schmerz war so stark und schneidend, dass sie fast hingefallen wäre. Sie würde es nicht schaffen. Sie waren schon überall um sie herum, es war unmöglich. Sie spürte, wie ihre Eingeweide nachgaben, und merkte, dass sie in Panik geriet.

Zum tausendsten Mal verfluchte sie sich dafür, dass sie angehalten hatte, dass sie unbedingt die barmherzige Samariterin hatte spielen müssen. Doch es hatte sie so schockiert, das kleine Mädchen zu sehen, das allein auf der dunklen, verlassenen Straße dahinstolperte. Nach einer Kurve war das Mädchen plötzlich aufgetaucht, das Kleid fast bis zur Taille zerrissen, und im Scheinwerferlicht sah sie, dass die Kleine die Hände vors Gesicht geschlagen hatte und anscheinend weinte. Sie konnte höchstens sechs Jahre alt sein.

Also hatte sie angehalten und war zu ihr gegangen; sie hatte gedacht: Unfall, Vergewaltigung. Das Mädchen hatte zu ihr aufgesehen, mit diesen intensiven schwarzen Augen, in denen keine Spur von Tränen war, und hatte sie angegrinst. Aus einer Ahnung heraus hatte sie sich umgedreht, um nach hinten zu blicken, und da sah sie sie vor dem Auto. Sie hatten ihr den Rückweg abgeschnitten. Auf einmal hatte sie Angst. Sie schrie sie an, sie sollten von ihrem Auto weggehen, aber sie wusste bereits, dass sie ihr nicht gehorchen würden. »Haut bloß ab hier«, hatte sie gebrüllt, sie war sich hilflos und albern dabei vorgekommen, und da hatten sie zum ersten Mal über sie gelacht und waren auf sie zugegangen. Dann hatte sie ihre Hände auf sich gespürt und gewusst, dass sie sie umbringen wollten.

Jetzt kamen die Laufenden neben ihr immer näher. Sie erlaubte sich einen Blick auf sie. Schmutzig. Widerlich. Es waren vier Kinder, drei links von ihr, eines rechts. Die Dreiergruppe bestand nur aus Jungen, das einzelne Kind war ein kleines Mädchen. Sie scherte nach rechts aus und rammte das Mädchen. Die Wucht ihres Körpers schleuderte das Mädchen zur Seite, und sie hörte einen Schmerzensschrei. Die anderen brachen in schallendes Gelächter aus. Kurz darauf spürte sie einen brennenden Schmerz am Rücken und an den Schultern, dann zwei Hiebe in rascher Folge auf den Hintern. Ihre Beine waren schwach, wie aus Gummi. Sie wusste, dass ihre Kräfte schwanden. Aber ihre Angst vor dem Hinfallen war schlimmer als der Schmerz, viel schlimmer. Wenn sie stürzte, würden sie sie zu Tode prügeln. Ihre Schenkel und Schultern fühlten sich klebrig an, sie wusste, dass sie blutete. Und jetzt war das Meer so nah, dass sie es schmeckte, dass sie die Gischt schon auf dem Körper spürte. Sie rannte weiter.

Dann sah sie, dass zu den Laufenden links ein neuer Junge gestoßen war, ein großer Junge, der sich schnell bewegte. Mein Gott, dachte sie, was hat der denn an? Irgendein Fell von einem Tier. Was sind das nur für Menschen? Auch rechts waren jetzt noch zwei weitere Kinder. Ob Jungen oder Mädchen, konnte sie nicht erkennen. Sie liefen mühelos durch das hohe Gras. Hört auf, mit mir zu spielen, dachte sie, bitte hört auf. Der große Junge stürmte direkt in ihre Bahn und schob sich vor sie. Jetzt war sie umzingelt. Er warf einen Blick über die Schulter, und im Mondlicht sah sie, dass sein Gesicht eine einzige Ansammlung von Grind und Pickeln war.

Kalt und hohl fraß in ihr die Angst. Die Ruten schnitten ihr tief in den Rücken und die Beine. Sie konnte nur weiterlaufen. Es gab nur noch das Laufen – das Laufen und das Meer.

Sie starrte auf den Rücken des Jungen, versuchte sich zu konzentrieren, um nicht den Mut und die Kraft zu verlieren. Da wirbelte er plötzlich herum, seine Rute zuckte durch die Luft, und ihr Gesicht zersprang vor Schmerz. Ihre Nase blutete, und ein wundes Gefühl zog sich von Wange zu Wange. In ihrem Mund Blutgeschmack. Das Atmen fiel ihr schwer. Sie wusste, dass sie nicht mehr lange konnte. Sie fühlte sich, als wäre etwas in ihr bereits tot. Als der Junge vor ihr abstoppte, wäre sie fast mit ihm zusammengestoßen. Auf der Suche nach einem Ausweg huschte ihr Blick rechts und links an ihm vorbei. Sie konnte ihm nicht ins Gesicht schauen. Nur, wenn es unbedingt sein musste.

Im Mondlicht hinter ihm bemerkte sie ein Glitzern. Da war es. Das Meer. Der Anblick machte sie furchtbar müde. Sie konnte nirgends hin, es gab keine Hilfe. Keine Häuser. Nur eine jäh abfallende Granitklippe, hinab bis zu einem Meeresspiegel in unbekannten Tiefen. Allein der Sturz würde sie wahrscheinlich töten. Es gab keine Hoffnung mehr, keine Hoffnung. Sie blieb stehen und drehte sich langsam ihren Verfolgern zu.

Einen Augenblick lang waren sie wieder nur Kinder. Ihr Blick wanderte verwirrt über die zerfetzten Lumpen, über das Sackleinen, über die unglaublich dreckigen Gesichter, über die vom Jagdfieber leuchtenden Augen und über die kleinen festen Körper, und sie dachte, dass so etwas doch ganz unmöglich war, dass Kinder nie so sein konnten. Dass sie sich in einem Traum voller Blut und Schmerzen verloren hatte. Dann sah sie, wie sie sich duckten und anspannten, wie die Birkenruten wieder nach oben fuhren, wie ihre Augen und Lippen zu schmalen Schlitzen wurden. Sie schloss die Augen, um sie nicht mehr zu sehen.

Und dann kamen sie von allen Seiten. Die stinkenden Klauen rissen an ihren Kleidern, die Ruten peitschten hart auf ihren Kopf und ihre Schultern. Sie schrie. Die einzige Antwort war Lachen. Die sabbernden Münder drängten sich an sie, und das Gefühl von Blut und Speichel machte ihr eine Gänsehaut. Wieder schrie sie, und in ihr stieg eine Angst hoch, wie sie es noch nie erlebt hatte. Verzweifelt setzte sie sich zur Wehr. Plötzlich fühlte sie sich groß und stark im Vergleich zu ihnen, ein riesiges, verwundetes Monster. Sie öffnete die Augen und schlug wild um sich, traf Ohren und Münder mit ihren kleinen Fäusten und stieß hart gegen ihre dreckigen, gemeinen Körper. Einen Moment lang schien es, als hätte sie die Horde durchbrochen und nur noch den großen Jungen vor sich. Dann fielen sie wieder über sie her, und sie drückte mit aller Kraft, wirbelte zweimal um sich selbst, schüttelte sie ab, und...

Erscheint lt. Verlag 31.3.2014
Mitarbeit Mitglied der Redaktion: Tamara Rapp
Übersetzer Friedrich Mader
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Off Season
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Horror
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte eBooks • Gewalt • Heyne Hardcore • Horror • Menschenjagd • Mord • Ostküste • Paare • Psychopath • Roman • Spannung • Thriller • Touristen • Urlaub • USA • Verbrechen • Verwahrloste
ISBN-10 3-641-14135-4 / 3641141354
ISBN-13 978-3-641-14135-6 / 9783641141356
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