Zukünftigkeit (eBook)

Die zeitgenössische Literatur und die Vergangenheit

(Autor)

eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
366 Seiten
Jüdischer Verlag
978-3-633-77990-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zukünftigkeit - Amir Eshel
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Wir haben uns daran gewöhnt, in den menschengemachten Katastrophen der Moderne ein blutiges Schlachtfeld zu sehen, das wir »bewältigen« müssen. Durch die Vergegenwärtigung der Geschichte setzen wir uns jedoch nicht bloß dem Trauma des Früheren aus, wir befragen unsere Gegenwart zugleich radikal auf ihre Sinnhaftigkeit. Die Vergangenheit ist damit immer schon doppelter Natur: Als unerträgliche Last eröffnet sie zugleich einen Möglichkeitsraum der Veränderung - ihre »Zukünftigkeit« ist die Potentialität der Geschichte, Vorschein des Besseren und Maßstab unseres Handelns im Hier und Jetzt. In Auseinandersetzung mit den derzeit bestimmenden Debatten der Philosophie und Kulturkritik wie mit den wichtigsten Autoren der zeitgenössischen Literatur aus den USA, Israel und Deutschland entwirft Amir Eshel in »Zukünftigkeit« eine neue Ethik der Geschichts- und Literaturbetrachtung. Ihr Fluchtpunkt ist eine neue post-utopische Humanität im Eingedenken des Vergangenen.

Amir Eshel ist Edward Clark Crossett Professor für vergleichende Literaturwissenschaft an der Stanford University. Von ihm erschienen zuletzt der Band <em>Zeichnungen</em>, gemeinsam mit Gerhard Richter, 2018, und<em> Dichterisch denken. Ein Essay</em>, 2020.

Cover 1
Impressum 4
Inhaltsverzeichnis 
7 
Einleitung: Was ist Zukünftigkeit? 11
Teil 1: Aufarbeitung der Zukunft 41
Teil 2: Schreiben über das Unausgesprochene 115
Teil 3:Zukünftigkeit und Handeln 189
Coda: Eine Hermeneutik der Zukünftigkeit 279
Anmerkungen 297
Literaturverzeichnis 345
Abbildungsverzeichnis 367

Einleitung: Was ist Zukünftigkeit?


Schreiben verweist auf das, was »offen, zukünftig, möglich« ist


Franz Kafka hat mit seiner Parabel »Kleine Fabel« ein unvergleichliches Bild des modernen Bewusstseins geschaffen, wie es sich im Ersten Weltkrieg auszubilden begann:

»›Ach‹, sagte die Maus, ›die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.‹ – ›Du mußt nur die Laufrichtung ändern‹, sagte die Katze und fraß sie.«1

Dieser kurze Text aus dem Jahr 1920 pointiert die Furcht, dass ein verlässlicher Zukunftshorizont für immer verloren sein könnte. Allegorisch gelesen, fasst der Text in seiner Kürze die conditio humana in der Moderne zusammen: »Am Anfang«, vor dem Aufkommen der Moderne, spiegelten sich die unabsehbaren Kräfte der Natur in großen Ängsten und »fernen Mauern« – Mythologien, die sie in Schach hielten. Diese Ängste schwanden durch die wirtschaftlichen, politischen, wissenschaftlichen und kulturellen Veränderungen des 18. und 19. Jahrhunderts. Mit der Moderne trat das Gefühl einer neuen, verheißungsvollen Zeit an die Stelle der alten Ängste, doch beispiellose Gewaltausbrüche, wie sie etwa im Ersten Weltkrieg zu Tage traten, ließen die Mauern plötzlich schnell »aufeinander zueilen«. So gelesen, zeigt Kafkas Fabel das Ende des verheißungsvollen Aufbruchs der Menschheit durch die Verheerungen des Ersten Weltkriegs. Nach diesem folgenschweren Krieg schien es, als gäbe es keine Zukunft mehr, als könne die Menschheit bloß noch zwischen verschiedenen Formen des Endes wählen – zwischen der Falle oder der lauernden Katze. Allein das Ausmaß dieser Katastrophe ließ die Hoffnung, den Lauf der Geschichte durch einen Richtungswechsel beeinflussen zu können, trügerisch erscheinen.

Die Jahrzehnte nach 1920 haben diese Stimmung durch »modernistische Ereignisse«, wie Hayden White sie nennt, zunehmend verstärkt: durch den Zweiten Weltkrieg, den Völkermord an den europäischen Juden, die Einführung von Massenvernichtungswaffen, durch Massenvertreibungen, irreparable Umweltschäden und scheinbar endlose regionale Krisen wie den Nahostkonflikt. Die Erschütterungen durch die beispiellosen Massenmorde, die mit Hilfe moderner Technologie ausgeführt wurden, überschreiten alles, was man sich in früheren Zeiten vorstellen konnte. Sie haben im kollektiven Bewusstsein eine ähnliche Funktion wie das Trauma in der individuellen Psyche. Der industrielle Mord in den Todeslagern und die Atombomben, die über Städten abgeworfen wurden, können, so White, ohne signifikante Folgen für unsere Fähigkeit zur konstruktiven Auseinandersetzung mit der Gegenwart und zur Vorstellung einer Zukunft, »die frei von den erschöpfenden Wirkungen [dieser Ereignisse] ist«, weder vergessen noch angemessen erinnert, das heißt »in ihrer Bedeutung identifiziert und in der kollektiven Erinnerung kontextualisiert« werden.2

Der israelische Autor David Grossman sagte 2007 in einem Vortrag über das literarische Schreiben angesichts der »Katastrophe«, die israelische Juden, Palästinenser und alle Bewohner des Nahen Ostens seit mehr als hundert Jahren erleben: »Kafkas Maus hatte recht: die Welt wird tatsächlich jeden Tag kleiner und enger.«3 Mit Blick auf den brutalen, langwierigen und scheinbar unlösbaren israelisch-palästinensischen Konflikt identifiziert sich Grossman mit Kafkas verletzlicher Kreatur. Für ihn, der weniger als ein Jahr vor diesem Vortrag seinen Sohn Uri im so genannten zweiten Libanonkrieg verloren hat, berührt die gnadenlose Realität des Nahen Ostens jeden Aspekt des Lebens; sie schafft »eine Leere« zwischen dem Einzelnen und seiner Umgebung, einen Abgrund »voller Apathie, Zynismus und vor allem voll von der Verzweiflung [. . .], dass man es nie schaffen wird, die Situation zu verändern, zu versöhnen«. Je kleiner die Welt durch diese Wirklichkeit wird, desto stärker verschwindet auch die »Fähigkeit und Bereitschaft«, mit »anderen leidenden Menschen mitzufühlen. In einer Situation, in der man keine Möglichkeit sieht, »moralisch und praktisch« Einfluss zu nehmen, fällt die Aufgabe, »zu denken und zu handeln und moralische Normen zu setzen«, den vermeintlich »Eingeweihten« zu. »Kafkas Maus hatte recht«, wiederholt Grossman: »Wenn dein Feind immer näher kommt, wird die eigene Welt kleiner. Genauso wie die Sprache, die sie beschreibt.« Das Vokabular, mit dem »die Bewohner des Konflikts ihre Situation beschreiben, wird flacher und flacher, je länger der Konflikt anhält, und entwickelt sich allmählich zu einer Serie von Klischees und Schlagworten«.4 Das Gefühl, die Welt schnappe zu wie eine Falle, die Sprache verliere ihre Kraft, teilen, so Grossman, unzählige Menschen auf der Welt, deren Leben, Werte und Freiheiten bedroht sind. Diese Realität zieht sich durch die Literatur der Schriftsteller und Dichter, die heute in Israel, Palästina, Tschetschenien, im Sudan, in New York oder im Kongo schreiben. Angesichts ihrer traumatischen Vergangenheit und unsicheren Zukunft kämpfen sie gegen das Gefühl an, dass die Welt ihrer Zukunft beraubt sei. Schriftsteller wie er seien aber, fährt Grossman fort, an dem »eigentümlichen, grundlosen, wunderbaren Werk der Schöpfung« beteiligt, webten ein »formloses Netz, das dennoch die ungeheure Macht besitzt, eine Welt zu verändern und eine Welt zu schaffen, den Stummen Worte zu verleihen und im tiefsten, kabbalistischen Sinn des Wortes Tikkun – ›Verbesserung‹ – zu bewirken«.5 Beim Schreiben, so Grossman

»spüren wir die Welt im Fluss, elastisch, voller Möglichkeiten – aus der Erstarrung gelöst [. . .]. Ich schreibe, und die Welt beengt mich nicht. Sie wird nicht kleiner. Sie bewegt sich auf das hin, was offen, zukünftig, möglich ist. Ich phantasiere, und der Akt des Phantasierens belebt mich. Ich stehe nicht versteinert oder gelähmt vor den Verfolgern. Ich erfinde Charaktere. Manchmal habe ich das Gefühl, Menschen aus dem Eis auszugraben, in das die Wirklichkeit sie eingeschlossen hat. Ich schreibe. Ich spüre die vielen Möglichkeiten, die es in jeder menschlichen Situation gibt, und ich spüre, dass ich unter ihnen wählen kann.«6

In ihrer Auseinandersetzung mit den menschengemachten Katastrophen der Moderne bewegt sich die zeitgenössische Literatur immer auch auf die Zukunft zu. Diese Bewegung ist das Hauptthema meines Buches. Die literarischen Werke, mit denen ich mich auf den folgenden Seiten beschäftige, sind nach 1945 entstanden – dem Jahr, das wie kaum ein anderes für unsere Zeit steht, deren Mauern uns und unsere Zukunft in der Wirklichkeit der nationalsozialistischen Konzentrationslager einzuschließen drohen. Sie evozieren das Zeitalter nach 1945 aus der Perspektive modernistischer Ereignisse; zu nennen sind der Zweite Japanisch-Chinesische Krieg, der Zweite Weltkrieg, der Holocaust, die Kriege im Nahen Osten und die politischen Realitäten nach dem Ende des Kalten Kriegs und nach 9/11. Durch ihre je eigene Art, sich den Verheerungen der Moderne anzunähern, verweisen ihre Fiktionen auf die Zukunft, auf die Grossman anspielt.

Die poetische Bewegung Richtung Zukunft setzt sich aus verschiedenen Elementen zusammen. Zunächst ist die Tatsache hervorzuheben, dass die hier behandelten Werke ein Vokabular entwickeln, mit dem wir uns und unsere Wirklichkeit beschreiben, eine Sprache, die wir benutzen, wenn wir uns neu gestalten. Damit sorgen sie dafür, dass die Welt »voller Möglichkeiten« bleibt. Unter der Entwicklung eines »Vokabulars« oder einer »Sprache« verstehe ich nicht nur die Fähigkeit der Literatur, neue Wörter und Metaphern einzuführen, sondern auch die Schaffung neuer narrativer Abläufe, die wir zur Bildung individueller oder kollektiver Identitäten heranziehen können. Indem sie ethisch und politisch ambivalente Situationen verhandeln, tragen diese Bücher dazu bei, Möglichkeiten für die Zukunft offenzuhalten, weil sie uns auffordern, über die Ursachen vergangener Katastrophen zu diskutieren und danach zu fragen, was gegen mögliche Wiederholungen unternommen werden könnte. Mit ihren vielfältigen poetischen Mitteln loten sie die Probleme individueller und kollektiver Figuren aus, die Einfluss auf ihre historischen Bedingungen nehmen wollen. Sie sind nicht frei von Zweifel an der menschlichen Fähigkeit, die Zukunft zu gestalten, fragen aber dennoch, wie man diese Zweifel handelnd überwinden könnte. In einer Ära, die nie gekannte Umwälzungen erlebt hat und schon den bloßen Gedanken in Frage stellt, man könne sich an der Gestaltung der Zukunft beteiligen, gibt uns die Literatur Hoffnung und zeigt, was »offen, zukünftig, möglich« ist.

Zukünftigkeit


Literatur erschafft das Offene, Zukünftige, Mögliche, indem sie unser Vokabular mit innovativen Konstruktionen und Metaphern erweitert, die menschliche Handlungsfähigkeit untersucht und gleichzeitig zu Reflexion und Debatten anregt. Diese Fähigkeit bezeichne ich als »Zukünftigkeit«. In diesem Buch untersuche ich, wie Literatur durch ihre figurative Sprache – Ironie und Allegorie, Geschichten und Figuren, schlichte Piktogramme oder...

Erscheint lt. Verlag 20.5.2012
Übersetzer Irmgard Hölscher
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Futurity. Contemporary Literature annd the Quest for the Past
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft
Schlagworte Geschichte • Geschichte 1950-2006 • Literatur • Motiv • Vergangenheit
ISBN-10 3-633-77990-6 / 3633779906
ISBN-13 978-3-633-77990-1 / 9783633779901
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