Über den Staat (eBook)

Vorlesungen am Collège de France 1989-1992
eBook Download: EPUB
2014 | 1. Auflage
700 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73767-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Über den Staat -  Pierre Bourdieu
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Kaum ein Wissenschaftler war politisch so engagiert wie Pierre Bourdieu. Umso mehr überrascht es, dass er dem Staat keine eigene Monographie gewidmet hat. Dass er sich dennoch intensiv mit dem Thema beschäftigte, belegen seine Vorlesungen am Collège de France, deren fulminanter Auftakt Über den Staat bildet. Bourdieu geht es sowohl um Fragen der Methodologie und Theorie bei der Untersuchung des Staates als Forschungsobjekt als auch um die historische Genese dieser Institution. Er analysiert zentrale Unterscheidungen wie die zwischen öffentlich und privat sowie den Einfluss der Massenmedien. Über den Staat ist eine große Synthese - und das eigentliche Hauptwerk Bourdieus zur politischen Soziologie.

<p>Pierre Bourdieu, am 1. August 1930 in Denguin (Pyr&eacute;n&eacute;es Atlantiques) geboren, besuchte dort das <i>Lyc&eacute;e de Pau</i> und wechselte 1948 an das ber&uuml;hmte <i>Lyc&eacute;e </i><i>Louis-le-Grand</i> nach Paris. Nachdem er die Eliteschule der <i>&Eacute;cole Normale Sup&eacute;rieure</i> durchlaufen hatte, folgte eine au&szlig;ergew&ouml;hnliche akademische Karriere. Von 1958 bis 1960 war er Assistent an der <i>Facult&eacute; des lettres</i> in Algier, wechselte dann nach Paris und Lille und wurde 1964 Professor an der <i>&Eacute;cole Pratique des Hautes &Eacute;tudes en Sciences Sociales.</i> Im selben Jahr begann er, die Reihe <i>Le sens commun</i> beim Verlag <i>&Eacute;ditions de Minuit</i> herauszugeben und erhielt einen Lehrauftrag an der <i>&Egrave;cole Normale Sup&eacute;rieure</i>. Es folgten Gastprofessuren und Forschungsaufenthalte in Princeton und am Max-Planck-Institut f&uuml;r Bildungsforschung. Seit 1975 gibt er die Forschungsreihe <i>Actes de la recherche en sciences sociales</i> heraus. 1982 folgte schlie&szlig;lich die Berufung an das <i>Coll&egrave;ge de France</i>. 1993 erhielt er die h&ouml;chste akademische Auszeichnung, die in Frankreich vergeben wird, die <i>M&eacute;daille d&amp;#39;or </i>des<i> Centre National de Recherche Scientifique</i>. 1997 wurde ihm der Ernst-Bloch-Preis der Stadt Ludwigshafen verliehen.<br /> In seinen ersten ethnologischen Arbeiten untersuchte Bourdieu die Gesellschaft der Kabylen in Algerien. Die in der empirischen ethnologischen Forschung gemachten Erfahrungen bildeten die Grundlage f&uuml;r seine 1972 vorgelegte <i>Esquisse d&amp;#39;une th&eacute;orie de la pratique</i> (dt. <i>Entwurf einer Theorie der Praxis,</i> 1979). In seinem wohl bekanntesten Buch <i>La distinction</i> (1979, dt. <i>Die feinen Unterschiede,</i> 1982) analysiert Bourdieu wie Gewohnheiten, Freizeitbesch&auml;ftigungen, und Sch&ouml;nheitsideale dazu benutzt werden, das Klassenbewu&szlig;tsein auszudr&uuml;cken und zu reproduzieren. An zahlreichen Beispielen zeigt Bourdieu, wie sich Gruppen auf subtile Weise durch die <i>feinen Unterschiede</i> in Konsum und Gestus von der jeweils niedrigeren Klasse abgrenzen. Mit <i>Le sens pratique</i> (dt. <i>Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen</i> <i>Vernunft,</i> 1987) folgte 1980 eine ausf&uuml;hrliche Reflexion &uuml;ber die konkreten Bedingungen der Wissenschaft, in der Bourdieu das Verh&auml;ltnis von Theorie und Praxis neu zu denken versucht. Ziel dieser ...

Pierre Bourdieu, am 1. August 1930 in Denguin (Pyrénées Atlantiques) geboren, besuchte dort das Lycée de Pau und wechselte 1948 an das berühmte Lycée Louis-le-Grand nach Paris. Nachdem er die Eliteschule der École Normale Supérieure durchlaufen hatte, folgte eine außergewöhnliche akademische Karriere. Von 1958 bis 1960 war er Assistent an der Faculté des lettres in Algier, wechselte dann nach Paris und Lille und wurde 1964 Professor an der École Pratique des Hautes Études en Sciences Sociales. Im selben Jahr begann er, die Reihe Le sens commun beim Verlag Éditions de Minuit herauszugeben und erhielt einen Lehrauftrag an der Ècole Normale Supérieure. Es folgten Gastprofessuren und Forschungsaufenthalte in Princeton und am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Seit 1975 gibt er die Forschungsreihe Actes de la recherche en sciences sociales heraus. 1982 folgte schließlich die Berufung an das Collège de France. 1993 erhielt er die höchste akademische Auszeichnung, die in Frankreich vergeben wird, die Médaille d'or des Centre National de Recherche Scientifique. 1997 wurde ihm der Ernst-Bloch-Preis der Stadt Ludwigshafen verliehen. In seinen ersten ethnologischen Arbeiten untersuchte Bourdieu die Gesellschaft der Kabylen in Algerien. Die in der empirischen ethnologischen Forschung gemachten Erfahrungen bildeten die Grundlage für seine 1972 vorgelegte Esquisse d'une théorie de la pratique (dt. Entwurf einer Theorie der Praxis, 1979). In seinem wohl bekanntesten Buch La distinction (1979, dt. Die feinen Unterschiede, 1982) analysiert Bourdieu wie Gewohnheiten, Freizeitbeschäftigungen, und Schönheitsideale dazu benutzt werden, das Klassenbewußtsein auszudrücken und zu reproduzieren. An zahlreichen Beispielen zeigt Bourdieu, wie sich Gruppen auf subtile Weise durch die feinen Unterschiede in Konsum und Gestus von der jeweils niedrigeren Klasse abgrenzen. Mit Le sens pratique (dt. Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, 1987) folgte 1980 eine ausführliche Reflexion über die konkreten Bedingungen der Wissenschaft, in der Bourdieu das Verhältnis von Theorie und Praxis neu zu denken versucht. Ziel dieser Analysen ist es, die »Objektivierung zu objektivieren« und einen Fortschritt der Erkenntnis in der Sozialwissenschaft dadurch zu ermöglichen, daß sie ihre praktischen Bedingungen kritisch hinterfragt. Seit dem Beginn der 90er Jahre engagiert sich Bourdieu für eine demokratische Kontrolle ökonomischer Prozesse. 1993 rief er zur Gründung einer »Internationalen der Intellektuellen« auf, deren Ziel darin besteht, das Prestige und die Kompetenz im Kampf gegen Globalisierung und die Macht der Finanzmärkte in die Waagschale zu werfen. Die im selben Jahr gegründete Zeitschrift Liber soll dazu ein unabhängiges Forum bieten. Seine politischen Aktivitäten zielen darauf ab, eine Versammlung der "Sozialstände in Europa" einzuberufen, die den europäischen Einigungsprozeß kontrollieren und begleiten soll. Pierre Bourdieu stirbt am 23. Januar 2002 in Paris. Horst Brühmann, geboren 1951 in Borken, studierte Philosophie, Politik- und Literaturwissenschaft in Frankfurt am Main. Er war als Lehrbeauftragter an der Universität in Frankfurt am Main und Lektor im wissenschaftlichen Lektorat tätig. Heute arbeitet er hauptberuflich als Übersetzer für wissenschaftliche Texte.

[Cover] 1
[Informationen zum Buch/zum Autor] 2
[Impressum] 6
Inhalt 7
Notiz der Herausgeber 13
Studienjahr 1989-1990 17
Vorlesung vom 18. Januar 1990 19
Ein undenkbarer Gegenstand 19
Der Staat als neutraler Ort 21
Die marxistische Tradition 23
Kalender und Struktur der Zeitlichkeit 26
Die staatlichen Kategorien 31
Die staatlichen Akte 33
Der Eigenheimmarkt und der Staat 38
Die Barre-Kommission zur Wohnungspolitik 44
Vorlesung vom 25. Januar 1990 55
Theorie und Empirie 55
Staatliche Kommissionen und Inszenierungen 57
Die soziale Konstruktion öffentlicher Probleme 62
Der Staat als Standpunkt der Standpunkte 64
Die offizielle Heirat 65
Theorie und Theorieeffekte 68
Die beiden Bedeutungen des Wortes »Staat« 70
Besonderes in Allgemeines verwandeln 73
Das obsequium 75
Die Institutionen als »organisiertes Vertrauen« 79
Genese des Staates. Schwierigkeiten des Unternehmens 81
Parenthese über das Lehren der Forschung in der Soziologie 82
Der Staat und der Soziologe 84
Vorlesung vom 1. Februar 1990 92
Die Rhetorik des Offiziellen 92
Das Öffentliche und das Offizielle 99
Der universelle Andere und die Zensur 107
Der »Künstler als Gesetzgeber« 110
Genese des öffentlichen Diskurses 112
Öffentlicher Diskurs und Formgebung 117
Die öffentliche Meinung 122
Vorlesung vom 8. Februar 1990 128
Die Konzentration der symbolischen Ressourcen 129
Soziologische Lektüre Franz Kafkas 132
Ein nicht zu bewältigendes Forschungsprogramm 135
Geschichte und Soziologie 139
The Political Systems of Empires von Shmuel Noah Eisenstadt 142
Zwei Bücher von Perry Anderson 150
Das Problem der »drei Wege« nach Barrington Moore 157
Vorlesung vom 15. Februar 1990 160
Das Offizielle und das Private 160
Soziologie und Geschichte: Der genetische Strukturalismus 164
Genetische Geschichte des Staates 172
Spiel und Feld 177
Anachronismus und Illusion des Nominalen 182
Die beiden Gesichter des Staates 184
Studienjahr 1990-1991 191
Vorlesung vom 10. Januar 1991 193
Historischer Ansatz und genetischer Ansatz 193
Forschungsstrategie 198
Die Wohnungspolitik 202
Interaktionen und strukturale Beziehungen 204
Ein Effekt der Institutionalisierung: die Evidenz 209
Der »So-ist-es«-Effekt und die Schließung der Möglichkeiten 213
Der Raum der Möglichkeiten 214
Das Beispiel der Orthographie 217
Vorlesung vom 17. Januar 1991 223
Zum weiteren Gang der Vorlesung 223
Die beiden Bedeutungen des Wortes Staat: Der Staat als Verwaltung, der Staat als Gebiet 225
Die Disziplinenteilung der historischen Arbeit als epistemologisches Hindernis 228
Modelle der Genese des Staates: 1. Norbert Elias 232
Modelle der Genese des Staates: 2. Charles Tilly 240
Vorlesung vom 24. Januar 1991 246
Antwort auf eine Frage: Der Begriff der Erfindung unter strukturalem Zwang 246
Modelle der Genese des Staates: 3. Philip Corrigan und Derek Sayer 254
Die exemplarische Besonderheit Englands: Ökonomische Modernisierung und kulturelle Archaismen 263
Vorlesung vom 31. Januar 1991 269
Antwort auf Fragen 269
Kulturelle Archaismen und ökonomische Transformationen 270
Kultur und nationale Einheit: Der Fall Japan 275
Bürokratie und intellektuelle Integration 280
Nationale Vereinheitlichung und kulturelle Herrschaft 283
Vorlesung vom 7. Februar 1991 290
Die theoretischen Grundlagen einer Analyse der Staatsmacht 290
Die symbolische Macht: Kräfteverhältnisse und Sinnverhältnisse 292
Der Staat als Produzent von Klassifikationsprinzipien 295
Glaubenseffekt und kognitive Strukturen 297
Kohärenzeffekt der symbolischen Systeme des Staates 303
Eine staatliche Konstruktion: Der Stundenplan in der Schule 306
Die Produzenten der doxa 309
Vorlesung vom 14. Februar 1991 314
Die Soziologie, eine esoterische Wissenschaft, die einen exoterischen Eindruck macht 314
Fachleute und Laien 318
Der Staat strukturiert die soziale Ordnung 325
Doxa, Orthodoxie, Heterodoxie 328
Verwandlung des Privaten in Öffentliches: Das Auftauchen des modernen Staates in Europa 330
Vorlesung vom 21. Februar 1991 337
Logik der Genese und Emergenz des Staates: Das symbolische Kapital 337
Die Etappen des Konzentrationsprozesses des Kapitals 341
Der dynastische Staat 346
Der Staat, eine Macht über den Mächten 349
Konzentration und Enteignung der Kapitalsorten: Das Beispiel des Kapitals der physischen Gewalt 351
Bildung eines zentralen ökonomischen Kapitals und Konstruktion eines autonomen ökonomischen Raumes 356
Vorlesung vom 7. März 1991 364
Antwort auf Fragen: Konformismus und Konsens 364
Konzentrationsprozeß der Kapitalsorten: Die Widerstände 366
Die Vereinheitlichung des juridischen Marktes 370
Die Entstehung eines Interesses am Allgemeinen 373
Staatliche Perspektive und Totalisierung: Das Informationskapital 376
Konzentration des kulturellen Kapitals und Konstruktion der Nation 381
»Natürlicher Adel« und Staatsadel 383
Vorlesung vom 14. März 1991 389
Abschweifung: Ein Gewaltakt im intellektuellen Feld 389
Das Doppelgesicht des Staates: Herrschaft und Integration 392
Jus loci und jus sanguinis 395
Die Vereinheitlichung des Marktes symbolischer Güter 398
Analogie zwischen religiösem Feld und kulturellem Feld 404
Studienjahr 1991-1992 411
Vorlesung vom 3. Oktober 1991 413
Ein Modell der Transformationen des dynastischen Staates 413
Der Begriff der Reproduktionsstrategien 416
Der Begriff des Systems der Reproduktionsstrategien 423
Der dynastische Staat im Lichte der Reproduktionsstrategien 426
Das »Königshaus« 431
Die juridische und die praktische Logik des dynastischen Staates 435
Ziele der nächsten Vorlesung 437
Vorlesung vom 10. Oktober 1991 439
Das Modell des Hauses gegen den historischen Finalismus 439
Worum es bei der historischen Erforschung des Staates geht 449
Die Widersprüche des dynastischen Staates 455
Eine dreiteilige Struktur 459
Vorlesung vom 24. Oktober 1991 464
Die Logik der Vorlesung: Rekapitulation 464
Reproduktion der Familie und Reproduktion des Staates 466
Exkurs zur Geschichte des politischen Denkens 471
Die historische Arbeit der Juristen bei der Konstruktion des Staates 475
Differenzierung der Macht und strukturelle Korruption: Ein ökonomisches Modell 481
Vorlesung vom 7. November 1991 487
Präambel: Die Schwierigkeiten der Kommunikation in den Sozialwissenschaften 487
Das Beispiel der institutionalisierten Korruption in China (1): Die ambivalente Macht der Unterbürokraten 492
Das Beispiel der institutionalisierten Korruption in China (2): Die »Reinen« 497
Das Beispiel der institutionalisierten Korruption in China (3): Doppeltes Spiel und doppeltes »Ich« 502
Die Genese des bürokratischen Raumes und die Erfindung des Öffentlichen 506
Vorlesung vom 14. November 1991 511
Konstruktion der Republik und Konstruktion der Nation 511
Die Konstitution des Öffentlichen im Lichte der Vertragsidee des englischen Verfassungsrechts 513
Die Verwendung der königlichen Siegel: Die Kette der Garantien 521
Vorlesung vom 21. November 1991 532
Antwort auf eine Frage zu der Opposition öffentlich/privat 532
Die Verwandlung des Privaten in Öffentliches: Ein nichtlinearer Prozeß 534
Die Genese des Metafeldes der Macht: Differenzierung und Trennung von dynastischer und bürokratischer Autorität 539
Ein Forschungsprogramm zur Französischen Revolution 543
Dynastisches gegen juridisches Prinzip: Der Fall der Lits de justice 545
Methodologische Abschweifung: Die Küche der politischen Theorien 551
Die juridischen Kämpfe als symbolische Kämpfe um die Macht 554
Die drei Widersprüche der Juristen 558
Vorlesung vom 28. November 1991 562
Die Geschichte als Einsatz von Kämpfen 562
Das juridische Feld: Eine historische Annäherung 565
Ämter und Beamte 573
Der Staat als fictio juris 575
Das juridische Kapital als sprachliches Kapital und als praktische Problembeherrschung 578
Die Juristen gegen die Kirche: Die Autonomisierung einer Körperschaft 580
Reformation, Jansenismus und die Welt der Juristen 585
Das Öffentliche: Eine noch nie dagewesene und immer noch werdende Realität 588
Vorlesung vom 5. Dezember 1991 590
Programm einer Sozialgeschichte der politischen Ideen und des Staates 590
Das Interesse an der Interessenfreiheit 595
Die Juristen und das Universelle 597
Das (falsche) Problem der Französischen Revolution 601
Staat und Nation 603
Der Staat als »Zivilreligion« 607
Nationalität und Staatsbürgerschaft: Der Gegensatz zwischen dem französischen und dem deutschen Modell 610
Interessenkämpfe und Kämpfe zwischen Unbewußten in der politischen Debatte 614
Vorlesung vom 12. Dezember 1991 616
Die Konstruktion des politischen Raumes: Das parlamentarische Spiel 616
Abschweifung: Das Fernsehen im neuen politischen Spiel 618
Vom Staat auf dem Papier zum realen Staat 620
Die Beherrschten domestizieren: Die Dialektik von Disziplin und Philanthropie 624
Die theoretische Dimension der Konstruktion des Staates 630
Abschließende Fragen 638
Anhänge 645
Zusammenfassungen der Vorlesungen im Jahrbuch des Collège de France 647
1989-1990 647
1990-1991 649
1991-1992 651
Zur Stellung der Vorlesung über den Staat im Werk Pierre Bourdieus 655
Bibliographie 664
1. Arbeiten, die sich auf den Staat, das Feld der Macht oder die politische Ideengeschichte beziehen 664
2. Arbeiten, die nicht unmittelbar auf den Staat bezogen sind 687
3. Arbeiten Pierre Bourdieus, auf die von den Herausgebern in den Anmerkungen verwiesen wird 693
Namenregister 700
Sachregister 706

17Vorlesung vom 18. Januar 1990

Ein undenkbarer Gegenstand. – Der Staat als neutraler Ort. – Die marxistische Tradition. – Kalender und Struktur der Zeitlichkeit. – Die staatlichen Kategorien. – Die staatlichen Akte. – Der Eigenheimmarkt und der Staat. – Die Barre-Kommission zur Wohnungspolitik.

Ein undenkbarer Gegenstand

Mehr noch als sonst müssen wir uns bei der Untersuchung des Staates gegen Vorbegriffe im Sinne Durkheims, gegen vorgefaßte Ideen und eine spontane Soziologie wappnen. Als Resümee der Analysen, die ich im Lauf der vergangenen Jahre angestellt habe, insbesondere der historischen Analyse der Beziehungen zwischen Soziologie und Staat, habe ich wiederholt darauf hingewiesen, daß wir andernfalls Gefahr liefen, ein Staatsdenken auf den Staat anzuwenden, und ich habe betont, daß unser Denken, daß sogar die Strukturen des Bewußtseins, mit dem wir die soziale Welt und jenes eigentümliche Objekt »Staat« konstruieren, sehr wahrscheinlich vom Staat hervorgebracht worden sind. Jedesmal, wenn ich mich auf einen neuen Gegenstand gestürzt habe, erschien mir, berufsbedingt, mein Vorgehen als methodisch besonders gut begründet; und ich würde sagen, je weiter ich in meiner Arbeit über den Staat vorankomme, desto mehr bin ich davon überzeugt, daß die besondere Schwierigkeit, dieses Objekt zu denken, darin liegt, daß es – ich wäge meine Worte – beinahe undenkbar ist. Wenn es so einfach scheint, über diesen Gegenstand einfache Dinge zu sagen, so liegt das daran, daß wir von dem, was wir untersuchen sollen, in gewisser Weise schon durchdrungen sind. Ich hatte versucht, den öffentlichen Raum, 18die Welt der öffentlichen Verwaltung ⟨service public⟩ als einen Ort zu analysieren, wo die Werte der Uneigennützigkeit offiziell hochgehalten werden und wo die Akteure in einem gewissen Maße ein Interesse an der Interessenfreiheit haben.1

Diese beiden Themen [öffentlicher Raum und Interessenfreiheit] sind äußerst wichtig, weil sie meiner Ansicht nach zeigen, daß wir, ehe wir zu einem angemessenen Denken gelangen – sofern das überhaupt möglich ist –, einige Scheuklappen abnehmen, Vorstellungen zerstören müssen, denen zufolge der Staat – wenn er denn eine Existenz hat – ein Prinzip der Produktion und der legitimen Repräsentation der sozialen Welt ist. Wenn ich eine vorläufige Definition dessen geben sollte, was man »Staat« nennt, würde ich sagen, daß derjenige Sektor des Feldes der Macht, den man als »administratives Feld« oder »Feld der öffentlichen Verwaltung« bezeichnen kann, derjenige Sektor, an den man in erster Linie denkt, wenn man ohne nähere Präzisierung vom Staat spricht, sich durch den Besitz des Monopols der legitimen physischen und symbolischen Gewalt definiert. Ich habe schon vor einigen Jahren2 eine Ergänzung zu der berühmten Definition Max Webers vorgenommen, die den Staat als »Monopol der legitimen Gewalt«3 bestimmt, was ich berichtige, 19indem ich hinzufüge: »Monopol der physischen und symbolischen Gewalt«; man könnte sogar sagen: »Monopol der legitimen symbolischen Gewalt«, insofern das Monopol der symbolischen Gewalt überhaupt die Bedingung für das Innehaben des Monopols der physischen Gewalt ist. Anders gesagt, diese Definition scheint mir der Weberschen Definition zugrunde zu liegen. Doch sie bleibt noch abstrakt, vor allem wenn Sie nicht den Kontext kennen, in dem ich sie ausgearbeitet hatte. Es sind provisorische Definitionen, um zu versuchen, wenigstens eine Art vorläufiger Einigkeit über das, wovon ich rede, herzustellen, weil es sehr schwierig ist, über etwas zu reden, ohne zumindest zu präzisieren, wovon die Rede ist. Es sind provisorische Definitionen, die Abänderungen und Korrekturen unterliegen.

1

  

Die Interessenfreiheit war das Thema von Bourdieus Vorlesung des vorangegangenen Studienjahres (1988-1989), die unter dem Titel »Ist interessenfreies Handeln möglich?« in den Band Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, aus dem Französischen von Hella Beister, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 137-157, eingegangen ist. Siehe ebenso Pierre Bourdieu, »Das Interesse des Soziologen«, in: ders., Rede und Antwort, aus dem Französischen von Bernd Schwibs, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 111-118.

2

  

Pierre Bourdieu, »Über die symbolische Macht«, aus dem Französischen von Günther Landsteiner und Alexander Mejstrik, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 8, 4, 1997, S. 556-564 [Original 1977].

3

  

Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (Grundriss der Sozialökonomik, III. Abteilung), 2 Halbbde., 2., vermehrte Auflage, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1925 [zuerst erschienen 1921/1922], Erster Teil, Kapitel I, § 17, »Politischer Verband, Hierokratischer Verband«, S. 29f.; ders., »Politik als Beruf«, in: Wissenschaft als Beruf/Politik als Beruf (Max-Weber-Studienausgabe (MWS), Bd. I/17), Tübingen: Mohr Siebeck 1992, S. 36 [zuerst erschienen 1919].

Der Staat als neutraler Ort

Der Staat kann als ein Orthodoxieprinzip definiert werden, das heißt als ein verborgenes Prinzip, das nur in den Erscheinungen der öffentlichen Ordnung zu erfassen ist, wobei man darunter nicht nur die physische Ordnung – als das Gegenteil von Unordnung, Anarchie, zum Beispiel Bürgerkrieg – verstehen darf. Faßbar wird dieses verborgene Prinzip in den Erscheinungen der öffentlichen Ordnung erst dann, wenn man sie zugleich im physischen und im symbolischen Sinne versteht. In den Elementaren Formen des religiösen Lebens trifft Durkheim eine Unterscheidung zwischen logischer Integration und moralischer Integration.4 Der Staat, so wie man ihn gewöhnlich versteht, ist die Grundlage der logischen Integration und der moralischen Integration der sozialen Welt. Die logische Integration im Sinne Durkheims besteht darin, daß die Akteure der sozialen Welt dieselben logischen Perzeptionen haben – daß sich eine unmittelbare Übereinstimmung herstellt zwischen Leuten, die über dieselben Kategorien des Denkens, der Wahrnehmung und der Rea20litätskonstruktion verfügen. Die moralische Integration ist die Einigkeit über eine bestimmte Anzahl von Werten. Man hat bei der Durkheim-Lektüre immer die moralische Integration betont und dabei vergessen, was mir als deren Grundlage erscheint, nämlich die logische Integration.

Diese vorläufige Definition bestünde also darin zu sagen, der Staat sei dasjenige, was den Grund für die logische und die moralische Integration der sozialen Welt legt – und damit für den fundamentalen Konsens über den Sinn der sozialen Welt. Dieser Grundkonsens ist die eigentliche Bedingung dafür, daß über die soziale Welt Konflikte entstehen können. Anders gesagt, damit der Konflikt über die soziale Welt überhaupt möglich ist, muß es eine Art Einigkeit über die Bereiche der Uneinigkeit und über die Ausdrucksformen dieser Uneinigkeit geben. So läßt sich zum Beispiel auf dem politischen Feld die Entstehung des Feldes der hohen Beamten – als Teiluniversum der sozialen Welt – als die fortschreitende Ausprägung einer Art Orthodoxie betrachten, einer Gesamtheit von weithin obligatorischen Spielregeln, aus denen sich innerhalb der sozialen Welt ein kommunikativer Austausch herstellt, der ein Austausch im und durch den Konflikt sein kann. Führt man diese Definition fort, kann man sagen, daß der Staat das Organisationsprinzip des Einverständnisses als Verbundenheit mit der sozialen Ordnung, mit den Grundprinzipien der sozialen Ordnung ist, daß er die Grundlage nicht unbedingt eines Konsenses, wohl aber der Existenz von Austauschbeziehungen darstellt, die zu einem Dissens führen.

Dieses Vorgehen ist ein wenig gefährlich, weil es so aussehen könnte, als kehrte es zu jener ersten Definition des Staates zurück, welche die Staaten von sich selbst geben und die in bestimmte klassische Theorien, etwa die von Hobbes oder Locke, aufgenommen wurde. Nach dieser anfänglichen Überzeugung handelt es sich beim Staat um eine Institution, die dazu bestimmt ist, dem allgemeinen Wohl zu dienen, und bei der Regierung um eine Einrichtung im Dienste des Volkswohls. In gewissem Maße wäre der Staat der neutrale Ort oder genauer – um die Leibnizsche Analogie zu verwenden, der zufolge Gott der geometrische Ort aller gegensätzlichen Perspektiven ist – jener aus21gezeichnete Standpunkt aller Standpunkte, der kein Standpunkt mehr ist, weil sich an ihm alle Standpunkte ausrichten: Er ist das, was den Standpunkt sämtlicher Standpunkte einnehmen kann. Diese Auffassung des Staates als Quasi-Gott liegt der Tradition der klassischen Theorie zugrunde und begründet die spontane Soziologie des Staates, die sich...

Erscheint lt. Verlag 10.3.2014
Übersetzer Horst Brühmann, Petra Willim
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Sur l'état. Cours au Collège de France (1989–1992)
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Sozialwissenschaften Soziologie Allgemeine Soziologie
Schlagworte Aufsatzsammlung • Mitschriften • Politische Soziologie • Staat • STW 2221 • STW2221 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2221 • Vorlesungen
ISBN-10 3-518-73767-8 / 3518737678
ISBN-13 978-3-518-73767-5 / 9783518737675
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